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MARXISTISCHE BLÄTTER/595: Was kommt nach Hitler? Nachkriegskonzeptionen und ihre Schicksale


Marxistische Blätter Heft 3-15

Was kommt nach Hitler?
Nachkriegskonzeptionen und ihre Schicksale

Von Günter Benser (*)


Mit diesem Thema wird eine Problematik aufgegriffen, die vor zwanzig Jahren Gegenstand einer ertragreichen Tagung in Marburg gewesen ist. Deren Ergebnisse wurden in einem von Reinhard Kühnl und Eckart Spoo herausgegebenen Protokollband öffentlich gemacht.(1) Hier finden sich ausgehend von generellen Überlegungen Betrachtungen zu den Konzepten der herausragenden politischen Strömungen und Organisationen, zu literarischen Zukunftsentwürfen wie auch zu Vorstellungen einzelner Personen wie Werner Blumenberg, Theo Hespers, Harro Schulze-Boysen, Hans und Sophie Scholl, Walter Fabian und Wolfgang Abendroth. Von all dem werden wir in der offiziellen "Erinnerungskultur" des Jahres 2015 kaum etwas zu hören bekommen.

Gegenüber dem bereitgefächerten Angebot des erwähnten Protokollbandes lassen sich in einem knappen Vortrag nur einige Grundtendenzen darbieten, und auch das nur thesenhaft.(2) Die antifaschistischen beziehungsweise Antihitler-Gruppierungen waren alle mit einer doppelten Fragestellung konfrontiert:

  1. Wie, auf welchen Wegen, mit welchen Kräften und welchen Mitteln lassen sich der Sturz beziehungsweise die Überwindung des Hitlerregimes bewerkstelligen?
  2. Was kommt nach Hitler? Wie ist das künftige Deutschland zu gestalten? Das allerdings hing nicht nur von den aus Erfahrungen gespeisten Überlegungen ab, sondern wesentlich von den mit der Zerschlagung des faschistischen Regimes eintretenden realen Bedingungen und von deren realistischer Beurteilung. Deshalb spielt der Zeitpunkt, zu dem bestimmte programmatische Entwürfe entstanden sind, für deren Beurteilung eine ausschlaggebende Rolle.

Wir sollten uns allerdings stets bewusst sein, dass die entscheidenden geschichtswirksamen Konditionen von der Antihitlerkoalition gesetzt wurden. An diesen hatten sich auch alle deutschen Kräfte zu orientieren. Und der Widerstand im Lager deutscher Machteliten kam ja erst richtig in Gang, als sie in Kenntnis alliierter Vereinbarungen die schlimmsten Folgen einer totalen Niederlage und bedingungslosen Kapitulation des Großdeutschen Reiches abwenden wollten.

Die Antihitlerkoalition war bekanntlich ein in sich widersprüchliches Bündnis. Der Argwohn, die eine oder die andere Seite könnte ausscheren und einen Separatfrieden mit Hitlerdeutschland schließen, war immer präsent und die Militärstrategie unterlag zunehmend den Nachkriegsplanungen.(3) Aber dennoch hielt diese Koalition, und sie vermochte es, Weichenstellungen für die Nachkriegszeit vorzunehmen und einen Konsens im Umgang mit dem Hauptgegner Deutsches Reich zu erzielen. Er wurde mit den vier D auf einen knappen, zutreffenden Nenner gebracht: Demilitarisierung, Denazifizierung, Dezentralisierung, Demokratisierung - mit dem Ziel, jegliche Wiederholung deutscher Aggressionspolitik für alle Zeit auszuschließen.

Trotz mancher Reibungen hat die auf Grundsätzen der Antihitlerkoalition beruhende Tätigkeit des Alliierten Kontrollrates für Deutschland zunächst durchaus funktioniert. Und der Dissens zwischen den USA und dem später mit einigen Vorbehalten dem Potsdamer Abkommen beigetretenen Frankreich war anfangs größer als der Dissens mit der UdSSR. Wir wissen, dass sich dies in der Folgezeit geändert hat, aber das ist hier nicht das Thema. Ich jedenfalls teile die Meinung jener Historiker, die den Standpunkt vertreten, es habe Alternativen zum kalten Krieg gegeben.

Natürlich war auch innerhalb der Hauptmächte der Antihitlerkoalition der Umgang mit dem besiegten Deutschland nicht unumstritten. Am offensten trat er in den USA hervor als Gegensatz zwischen der antifaschistischen aber auch extrem auf Niederhaltung Deutschlands bedachten Konzeption des Finanzministers Morgenthau und den auf baldige Neubelebung der Zusammenarbeit mit dem deutschen Kapital bedachten Kreise um den Roosevelt-Nachfolger Truman. Besatzungsoffiziere, wie George Wheeler(4) oder Arthur Kahn(5) haben beschrieben, wie sich das Überhandnehmen der zweiten Richtung im Vorgehen der amerikanischen Kommandanturen und Behörden real zeigte und auswirkte.

Wenn wir einen Blick auf den europäischen Widerstand werfen, stoßen wir nahezu überall auf die Differenzierung in gegensätzliche, teils sich sogar militärisch bekämpfende Lager, so in Jugoslawien auf die von Tito geführte Partisanenbewegung und die kroatische Ustascha, in Griechenland auf die Volksbefreiungsarmee (ELAS) und die Nationale Befreiungsfront (EAM) in Albanien auf den kommunistischen Widerstand und die königstreuen Kräfte, in Polen auf die kommunistisch geführte Armija Ludowa und die von der Londoner Exilregierung inspirierte Armija Krajowa. Die Differenzen hinsichtlich der künftigen Gestaltung dieser Länder überwogen oft die Gemeinsamkeiten des Kampfes gegen die deutschen und italienischen Okkupanten und führten teilweise sogar zur Kollaboration mit diesen. Bewaffnete Auseinandersetzungen dauerten in Ländern wie Polen oder Griechenland bis weit in die Nachkriegszeit an.

Im linken Lager lässt sich länderübergreifend eine Orientierung feststellen, die - gestützt auf Volksfrontbündnisse - auf eine antiimperialistische Umgestaltung abzielte. Von einem Faschismusverständnis geleitet, das die sozialökonomischen Wurzeln dieser Diktaturen betonte, dominierte eine Programmatik, die nach der Beseitigung sowohl dieser sozialökonomischen Wurzeln und der politischen Strukturen als auch nach der Überwindung des entsprechenden geistig-ideologischen Überbaus strebte. Im antifaschistischen Massenkampf sollten die Vollzugsorgane einer konsequenten Abrechnung mit Faschismus und Kollaboration, die Keimzellen neuer staatlicher Machtorgane entstehen.

Exemplarisch sei hier auf das Kosicer Regierungsprogramm der Nationalen Front der Tschechen und Slowaken verwiesen.(6) Hier finden wir Forderungen wie diese:

  1. Verhaftung und Internierung aller faschistischen Verbrecher, Hochverräter und Kollaborateure, Bildung von Volksgerichten zu deren Aburteilung.
  2. Ausschalten von Faschisten und Kollaborateuren aus Politik und öffentlichem Leben, Verbot faschistischer und quasifaschistischer Organisationen.
  3. Außerkraftsetzen aller im Interesse des Faschismus und des Okkupationsregimes erlassener Gesetze.
  4. Säuberung der Armee und der Verwaltung von Faschisten, Verrätern und Kollaborateuren. Individuelle Überprüfung aller Beschäftigten des staatlichen und öffentlichen Dienstes.
  5. Säuberung der Presse und Ausmerzen faschistischer Ideologien aus Volksbildung und Kultur.
  6. Beschlagnahme des Eigentums von Verrätern und Kollaborateuren, Konfiskation ihrer Betriebe, ihres Grund und Bodens, Einsetzen von Treuhändern.

Analoge Forderungen finden wir nicht nur in den Dokumenten der kommunistisch geführten osteuropäischen Befreiungsfronten,(7) sondern auch in den Zielsetzungen des unter Leitung General de Gaulles stehenden Französischen Komitees für Nationale Befreiung, Eingriffe in die Eigentumsverhältnisse eingeschlossen.(8)

Bevor wir auf Konzepte einzelner deutscher politischer Organisationen und Strömungen eingehen, ist es angebracht, einige übergreifende Bedingungen und Zusammenhänge herauszustellen.

Dabei sollte nicht übersehen werden, dass es neben der fanatischen Hitlerclique und deren blinden Gefolgsleuten, die das ganze deutsche Volk in die eigene Götterdämmerung mit hineinreißen wollten, auch im faschistischen Lager Leute gab, die Überlebensstrategien für die Zeit danach ersonnen haben. Immerhin dauerte es bis zum 23. Mai 1945, also mehr als zwei Wochen nach der bedingungslosen Kapitulation, bis endlich die sogenannte Geschäftsführende Reichsregierung unter Großadmiral Dönitz in Flensburg verhaftet wurde. Dieser Flügel der faschistischen Machtelite hatte vor allem auf einen Zerfall der Antihitlerkoalition gesetzt, den er mit Teilkapitulationen zu befördern suchte, und auf ein baldiges Aufbrechen des immanent wirkenden angloamerikanisch-sowjetischen Gegensatzes.

Kreise der Wirtschaft vertrauten auf die Wiederbelebung alter Geschäftsbeziehungen. In den Nachkriegsplanungen der Reichsgruppe Industrie fungierte der spätere Wirtschaftsminister und Bundeskanzler Ludwig Erhard als maßgeblicher Ideengeber in enger Partnerschaft mit Wehrwirtschaftsführern und den 1951 als Kriegsverbrecher hingerichteten SS-Gruppenführer Otto Ohlendorf.(9)

Militärs und ihre Waffenexperten setzten auf das Interesse an ihren Erfahrungen im Kriege gegen die Rote Armee und auf das Gewicht ihres rüstungstechnischen Kowhows. Geheimdienstleute rechneten mit der Unersetzlichkeit ihres antikommunistischen Agentennetzes. Wie sich zeigen sollte, nicht ohne Grund und ohne Erfolg.

Unter den Antihitlerkräften, die diesen Namen wirklich verdienen - als antifaschistisch würde ich sie nicht insgesamt charakterisieren, und sie haben sich auch selbst nicht alle so genannt - finden wir die im Gefolge der Novemberrevolution und unter den Gegebenheiten der Weimarer Republik wirkenden sozialen, politischen und geistigen Strömungen der deutschen Gesellschaft wieder, allerdings mit fließenden Grenzen und sich teils überlagernd. Es handelt sich also um folgende Gruppierungen:

  • Kommunistische Organisationen mit Zwischengruppen;
  • Sozialdemokratisch-gewerkschaftliche Gliederungen mit Zwischengruppen;
  • Bürgerliche Kräfte, mehr oder weniger liberal, mehr oder weniger konservativ;
  • Christliche Kreise katholischer oder evangelischer Konfession, aber auch aus den Großkirchen nicht zugehörenden Gemeinschaften;
  • Militärs, einerseits die Verschwörer des 20. Juli, andererseits die im Nationalkomitee "Freies Deutschland" oder im Bund deutscher Offiziere tätigen desillusionierten Kriegsgefangenen.

Eigentlich wäre auch auf die Rolle der Kirchen einzugehen, waren sie doch die einzigen Gemeinschaften, die stets alle Systemwechsel als intakte Organisationen überstanden hatten und die in den Kalkülen vor allem der amerikanischen Besatzungsmacht keine unerhebliche Rolle spielten. Aber das wäre ein Thema für sich.

Was war all den genannten Strömungen gemeinsam?

  1. Sie alle wollten die Hitlerdiktatur möglichst rasch beenden, um das Schlimmste für das deutsche Volk abzuwenden, und damit stand natürlich unausweichlich für alle die Frage nach einer Alternative zum Naziregime und nach der Zukunft Deutschlands.
  2. Sie alle sahen sich mit den oben knapp skizzierten Vereinbarungen und Konzeptionen der Mächte der Antihitlerkoalition konfrontiert, die ihnen mehr oder weniger bekannt waren. Sie hatten sich allerdings in unterschiedlichem Maße auf die sich aus der unabwendbaren bedingungslosen Kapitulation ergebenden realen Konsequenzen eingestellt. Generell waren Informiertheit und Diskursmöglichkeiten im Exil weit größer als im Lande selbst. Über den besten Einblick verfügte die Führung der KPD in Moskau, dank ihrer über Georgi Dimitroff laufenden direkten Verbindung zur sowjetischen Partei- und Staatsführung.
  3. Sie alle gingen davon aus, dass es ein bloßes Zurück zu den Strukturen und Verhältnissen der Weimarer Republik nicht geben konnte, denn sie waren sich mehr oder weniger des Zusammenhangs zwischen den Defiziten dieser Republik und dem Vordringen der Nazipartei sowie der Machtübertragung an Hitler bewusst. Das führte bis in bürgerliche und militärische Kreise hinein zu der Überlegung, dass lediglich im politischen Raum vorzunehmende Umwälzungen nicht genügen und dass auch über die sozialökonomischen Verhältnisse des künftigen Deutschlands nachzudenken ist.
  4. Mit den konzeptionellen Überlegungen war auch die Schuldfrage aufgeworfen, die Frage nach der Verantwortung für die Machtübertragung an Hitler und für dessen verbrecherische Politik, der sich allerdings nicht alle Gruppierungen gleichermaßen stellten.
  5. Sie alle hatten direkt oder indirekt ihr Verhältnis zu anderen Abteilungen und Kräften des Widerstandes zu definieren und bündnispolitische Entscheidungen zu treffen. Für die Vertreter der Arbeiterorganisationen verband sich das zudem mit Haltung zu einer sozialistischen Einheitspartei und zu Einheitsgewerkschaften.
  6. Für die Antifaschisten der Arbeiterorganisationen kam hinzu, dass sie ausgesprochen oder unausgesprochen das Verhältnis ihrer mittelfristigen antifaschistischen Forderungen zum nicht aufgegebenen Ziel der Errichtung einer sozialistischen Gesellschaftsordnung bestimmen mussten.
  7. Sie alle hatten sich damit auseinanderzusetzen, dass sich die Gegebenheiten ihres Handelns und Planens in Abhängigkeit vom Kriegsgeschehen und von den Kräfteverhältnissen im internationalen und nationalen Rahmen ununterbrochen und gravierend veränderten. So erwiesen sich der Fehlschlag des Attentats auf Hitler und der anschließende Rachefeldzug des Nazis als ein nachhaltiger Einschnitt. Je weiter die Ereignisse voranschritten, umso weniger war mit einem von den Alliierten zu respektierenden eigenen Beitrag zum Sturze der Hitlerherrschaft, mit einem Akt der Selbstbefreiung zu rechnen. Damit rückte die Frage nach den politischen Handlungsspielräumen in einem besiegten und besetzten Lande zunehmend in den Vordergrund. Aber da waren wesentlich Teile des Widerstands bereits dem faschistischen Terror zu Opfer gefallen, so dass sie die damit verbundenen Neuorientierungen gar nicht mehr mit vollziehen konnten.

Naturgemäß hingen die Konzepte für die nachfaschistische Periode wesentlich davon ab, wie die verschiedenen Gruppierungen das Wesen des Hitlerregimes und die Ursachen seiner zwölfjährigen Machtentfaltung einschätzten. Deshalb macht es einen großen Unterschied, ob wir es mit einer prinzipiellen Gegnerschaft zur NS-Bewegung und mehr noch zur NS-Herrschaft zu tun haben, wie das bei Kommunisten und Sozialdemokraten so wie manchen christlichen Würdenträgern - denken wir an den katholischen Bischof von Galen und Probst Lichtenberg oder an die evangelischen Theologen Bonhoeffer und Niemöller - der Fall war, oder mit Generalen und Obristen, Staatsbeamten und Wirtschaftsvertretern, die erst Widerstand organisierten, als sie sich der schlimmen Kriegsverbrechen und der unabwendbaren Kriegsniederlage mit ihren absehbaren Folgen bewusst wurden.

Gleichwohl entstanden auch im vorwiegend konservativen Lager bemerkenswerte Nachkriegskonzeptionen, die ebenfalls fortschreitenden Veränderungen unterlagen. Exemplarisch sei hier auf den Kreisauer Kreis verwiesen, der sich um James Graf von Moltke gesammelt hatte. Hier findet sich wohl die größte Bandbreite hinsichtlich der politisch-weltanschaulichen Herkunft der beteiligten Personen und folglich auch ein breites Spektrum von Ansichten.

Wilhelm E. Wintershager hat verallgemeinernd vom Konzept eines "Dritten Weges" jenseits von Liberalismus und Kollektivismus mit Rückbesinnung auf den christlichen Glauben gesprochen.(10) Die Distanz zur Weimarer Republik führte bei tonangebenden Vertretern des Kreisauer Kreises nicht nur zur Kritik am kapitalistischen Wirtschaftssystem, sondern auch an der parlamentarischen, plebiszitären Massendemokratie. Insofern sie ein Höchstmaß an örtlicher und regionaler Selbstverwaltung und größtmögliche Partizipation der Bürger forderten, war ein solcher Entwurf vom heutigen Standpunkt moderner als manche zentralistisch-etatistische Konzepte. Auf ökonomischem Gebiet reichte der Forderungskatalog immerhin bis zur Verstaatlichung von Schlüsselindustrien, zu einer begrenzten Bodenreform und zur Sicherung sozialer Grundrechte wie des Rechtes auf Arbeit. Allerdings zeugten die Erwartungen einer Harmonisierung von Kapital und Arbeit auch von mancherlei Illusionen. Generell vollzog der Kreisauer Kreis eine deutliche Abgrenzung von den konservativ-antikommunistischen Positionen der Gruppe um Karl Goerdeler und General Beck, gelangte er zur einer realistischeren Beurteilung der Rolle der UdSSR im Nachkriegseuropa und näherte sich in mancher Hinsicht dem Kurs der Bewegung Freies Deutschland an.

Die Bewegung Freies Deutschland, die ja von Mexiko aus bereits aktiv war, bevor im Juli 1943 in Moskau das Nationalkomitee Freies Deutschland gegründet wurde, stand wesentlich unter dem Einfluss kommunistischer Exilanten. Ihr führender Kopf Paul Merker charakterisierte sie als antinazistisch, antiimperialistisch, antinationalistisch und demokratisch.(11) Zu ihren zentralen Forderungen gehörten die Vernichtung des Nazismus, Militarismus und Imperialismus, die Bestrafung der Schuldigen, die Entmachtung der Monopolherren und Junker.(12) Es handelte sich um ein Konzept, mit dem es gelingen sollte, "die demokratische Revolution in Deutschland zu beenden und dem Sozialismus näherzukommen - in einer nicht unermesslichen Zeitspanne".(13) Was Paul Merker von seinen Genossen in anderen Exilländern unterschied, war die Tatsache, dass er die Potenzen der deutschen Arbeiterklasse und die Chancen der Revitalisierung ihrer Organisationen höher einschätzte als andere. Hierüber kam es zu einer in der Zeitschrift "Freies Deutschland" öffentlich ausgetragenen Kontroverse mit dem im englischen Asyl weilenden skeptischen Wilhelm Koenen.(14)

Demgegenüber sahen sich die kommunistischen Initiatoren des Nationalkomitees Freies Deutschland in Moskau damit konfrontiert, dass ihre Konzepte einerseits mit der Kriegsführung und den Nachkriegsplanungen der UdSSR passfähig, andererseits für deutsche Militärangehörige akzeptabel sein mussten. Zumindest in Offizierskreisen, die sich oft nur unter größten Gewissensqualen von dem Hitler geschworenen Treueid lossagten, artikulierten sich spezifische Standesinteressen, denen nach außen hin mit den Farben schwarz-weiß-rot Rechnung getragen wurde.

Die Losung "Freies Deutschland" war mit folgenden Forderungen untersetzt: Demokratische Staatsmacht, die nichts gemein hat mit der Ohnmacht des Weimarer Regimes gegenüber den die Freiheit bedrohenden Kräften; Beseitigung der Gesetze und Einrichtungen des Hitlerregimes; politische und soziale Rechte der Schaffenden, Freiheit für die Presse, die Organisationen und Religionen; Freiheit der Wirtschaft, des Handels, des Gewerbes, Recht auf Arbeit, Rückgabe des von den nationalsozialistischen Machthabern geraubten Hab und Guts, Beschlagnahme des Vermögens der Kriegsschuldigen und Kriegsgewinnler, Entschädigung aller Opfer des Hitlerregimes, Bestrafung der Kriegsverbrecher, ihrer Hintermänner und Helfer, Amnestie für alle, die sich durch ihre Taten rechtzeitig von Hitler lossagen und der Bewegung Freies Deutschland anschließen.(15)

Die Kommunisten im Lande, die 1944 erneut ein Netzwerk zu schaffen und strategische Erörterungen anzustellen vermochten, haben die Bildung des NKFD begrüßt, aber doch eine gewisse Distanz erkennen lassen. Sie gingen von einer Wiederkehr der grundlegenden Konstellationen aus, wie sie am Ende des ersten Weltkrieges eingetreten waren und sich in der Novemberrevolution gezeigt hatten. Deshalb spielten bei ihnen rätedemokratische Ansätze und ein relativ kurzfristiger Übergang von einer antifaschistischen Erhebung zu einer proletarischen Revolution eine wesentliche Rolle.(16) Im Gefolge der nach Niederschlagung der Verschwörung vom 20. Juli 1944 einsetzenden verschärften Terrorwelle, der die meisten führenden KPD-Funktionäre zum Opfer fielen, brachen grundlegende strategische Diskurse in Deutschland selbst ab. Der rätedemokratische Ansatz wurde allerdings von manchen der im Frühjahr 1945 unter allen Besatzungsbedingungen zahlreich entstehenden antifaschistischen Ausschüsse zunächst aufgegriffen. Einige Historiker haben hieraus sehr weitreichende Schlussfolgerungen gezogen und einen von der KPD-Führung verhinderten grundsätzlichen Neuansatz der Arbeiterbewegung konstatiert. Das halte ich für eine Überinterpretation gegen die viele Tatsachen sprechen.(17)

Die in Moskau agierende Parteiführung der KPD beschränkte sich nicht auf ihr Wirken im NKFD, sondern entwickelte darüber hinaus ihre weitaus detaillierteren, auch das künftige Parteimodell einschließenden Vorstellungen. In diesem mit dem Aktionsprogramm zur Schaffung eines Blocks der kämpferischen Demokratie(18) auf eine neue Stufe gehobenen Prozess erfolgte eine immer realistischere Einstellung auf die mit der Zerschlagung Hitlerdeutschlands eintretende reale Situation. Ein besetztes Deutschland, in dem die oberste Regierungsgewalt an Besatzungsmächte überging, die Rechte der deutschen Bevölkerung einschneidend eingeschränkt und ihr schwer zu tragende Wiedergutmachungsleistungen auferlegt wurden, ließ sich nicht mit der Losung "Freies Deutschland" in Einklang bringen.

Die Genesis des Konzeptes der KPD-Führung und die Erträge der zu seiner Ausformung gebildeten Arbeitsgruppen lassen sich hier nicht nachvollziehen.(19) Auf zwei bemerkenswerte Präzisierungen sei dennoch verwiesen. Eine Zeitlang gingen die Überlegungen davon aus, dass ein längeres Nebeneinander von befreiten und von noch immer der Hitlerherrschaft ausgesetzten, von der Wehrmacht verteidigten Gebieten geben könne. So tauchen Erwägungen auf, die an ein Pendant zu der in Lublin konstituierte provisorischen polnischen Arbeiter- und Bauern-Regierung, an die in Debrecen gebildete Provisorische Nationalregierung für Ungarn oder an die in Kosice agierende Regierung der Nationalen Front Tschechen und Slowaken erinnert. Es spricht einiges dafür, dass in Breslau, das dann allerdings eine am längsten umkämpfte Festung war, eine vergleichbare Keimzelle neuer Machtstrukturen geschaffen werden sollte.

Damit verbunden waren vorübergehend existierende Erwägungen, das Nationalkomitee Freies Deutschland zu ergänzen durch eine "breite antifaschistische demokratische Organisation mit individueller und kollektiver Mitgliedschaft".(20) Der Kriegsverlauf und die realen Umstände der Niederringung Hitlerdeutschlands entzogen derartigen Überlegungen den Boden.

Hier sei am Rande vermerkt, dass Freiheit und Befreiung nicht in einen Topf geworfen werden dürfen. Der 8. Mai konnte - anders als für die Völker der Antihitlerkoalition - für die Deutschen nicht der große Tag der Freiheit, wohl aber der Tag der Befreiung sein. Denn befreit wird man immer von irgendwem oder irgendetwas. In unserem Falle von der Kriegsfurie und der terroristischen faschistischen Gewaltherrschaft, von deren Verbrechen gegen den Frieden und gegen die Menschheit, von den Wahngebilden und der Vernichtungswut der Rassenfanatiker und Welteroberer.

Wenden wir uns also der reifen Gestalt des KPD-Konzeptes zu, wie sie im Aufruf des Zentralkomitees der KPD vom 11. Juni 1945 der Öffentlichkeit vorgestellt wurde. Das Anliegen dieses Aufrufs lässt sich in drei Punkten zusammenfassen.

Erstens wollte die KPD-Führung ihre Einschätzung der Ursachen des Hitlerfaschismus und seiner Verbrechen darlegen, die eigentlich Schuldigen benennen und die deutsche Bevölkerung zur Anerkennung seiner Mitverantwortung und von Wiedergutmachungsleistungen bewegen. Von der den Kommunisten unterstellten undifferenzierten Kollektivschuld war nirgendwo die Rede.

Zweitens stellte der Aufruf ein realistisches Etappenziel heraus. Das kulminierte in der Forderung nach "Aufrichtung eines antifaschistischen, demokratischen Regimes, einer parlamentarisch-demokratischen Republik mit allen demokratischen Rechten und Freiheiten für das Volk". Das war mit der nicht sonderlich glücklich formulierten, unterschiedlich ausdeutbaren Aussage verbunden, dass es falsch sei, "Deutschland des Sowjetsystem aufzuzwingen", weil dieser Weg nicht "den gegenwärtigen Entwicklungsbedingungen" entspräche.(21)

Drittens sollte mit dem in diesem Aufruf enthaltenen Zehnpunkte-Aktionsprogramm allen antifaschistischen Kräften ein Diskussionsangebot unterbreitet werden.

  • eine erste Gruppe von Forderungen bezog sich auf die Abrechnung mit dem Hitlerregime;
  • eine zweite Gruppe enthielt Sofortmaßnahmen zur Rettung der Bevölkerung, zur Behebung der unmittelbarsten Kriegsauswirkungen und zur Normalisierung des Lebens;
  • eine dritte Gruppe griff spezifische Anliegen bestimmter sozialer Gruppen auf - darunter auch von Gewerbetreibenden, kleinen und mittleren Unternehmern sowie von besonders betroffenen Bevölkerungsteilen wie Waisen, Invaliden, Opfern des Faschismus;
  • eine vierte Gruppe schließlich lief auf strukturelle Veränderungen der Gesellschaft hinaus - im politischen Raum auf die Schaffung neuer demokratischer Verwaltungen als Keimzellen künftiger Machtorgane, auf die Erneuerung der Justiz und des Bildungswesens, im sozialökonomischen Bereich auf die Herausbildung eines vergesellschafteten Sektors der industriellen Produktion durch Enteignung von Nazi- und Kriegsverbrechern, auf die Liquidierung des Großgrundbesitzes durch eine demokratische Bodenreform und Übergabe von Boden und Inventar an landarme Bauern, Landarbeiter und Umgesiedelte beziehungsweise Vertriebene.

Das heißt, die in unterschiedlichen Strömungen der Antihitlerbewegung zu beobachtende antikapitalistische Tendenz wurde hier bewusst in eine antifaschistisch-antimonopolistische Stoßrichtung gelenkt, in der Überzeugung, dass sich auf diesem Wege das Finanzkapital gewissermaßen enthaupten ließ, ohne die gewinnbaren Mittelschichten zu verschrecken.

Die KPD war übrigens jene Partei die am stärksten und bewusstesten gesamtdeutsch agierte. Sie vermochte es, den Aufruf vom 11. Juni in allen Besatzungszonen zu verbreiten und ihre Politik überall daran auszurichten. Walter Ulbricht formulierte es so: "Wir wollen nicht die Zonen demonstrieren. Wir haben auch keinen Zonenparteitag für die Sowjetzone gemacht und machen es nicht. Wir sind eine einheitliche Partei auf der Grundlage von Bezirken, und wir werden keine Parteikonferenz für die Sowjetzone machen."(22) So wurde zunächst selbst dann an den traditionellen Parteibezirken festgehalten, wenn dies mit der Zoneneinteilung kollidierte und die Parteileitungen mit den Militärregierungen von zwei oder gar drei Besatzungszonen konfrontiert wurden.

Es ist berechtigt, den Aufruf der KPD als das reifste Programm seiner Zeit mit nachweisbarer Anziehungskraft einzuschätzen. Die Probleme erwuchsen nicht aus dieser Programmatik, sondern aus dem Abrücken von ihr im Gefolge des kalten Krieges, mit der forcierten Ausrichtung am sowjetischen Modell durch die zur "Partei neue Typs" umgeformte sozialistische Einheitspartei, in der eine Auseinandersetzung mit der eigenen Verstrickung in den Stalinschen Terror tabuisiert war.

Am Aufruf der KPD schieden sich die Geister, nicht zuletzt in der Sozialdemokratie. Hatten sich die kommunistischen Exilorganisationen früher oder später alle mehr oder weniger eindeutig auf die von der in Moskau agierenden Parteiführung vorgegebene Linie eingependelt, so war das sozialdemokratische Spektrum differenzierter.(23) Überlegungen für die Zeit nach Hitler wurden von der "Londoner Union" - tonangebend Hans Vogel, Erich Ollenhauer und Willi Eichler - angestellt. Im schwedischen Exil war der Einfluss von Funktionären der SAPD - unter ihnen Willy Brandt - und der KPD(0) deutlich zu spüren, und die unterschiedlichen Strömungen arbeiteten zunächst überwiegend konstruktiv zusammen. Hier agierte auch der Gewerkschaftsführer Fritz Tarnow, der über die Umwandlung der nazistischen Arbeitsfront in eine Gewerkschaftsbewegung nachdachte. In den USA gruppierten sich Sozialdemokraten um Franz Neumann oder Friedrich Stampfer.

Bemerkenswert ist, wie hier vorausschauend vor dem Taktieren konservativer Kräfte in der Nachkriegszeit gewarnt und - im Gegensatz zur späteren Entnazifizierungspraxis in den Westzonen - eine gezielte Entfernung von Nazis aus den Schlüsselpositionen in Staat, Wirtschaft und Kultur angesteuert wurde. Nach wie vor beriefen sich sozialdemokratische Emigranten wiederholt auf das Prager Manifest aus dem Jahre 1934(24) und auf die dort betonte sozialistische Alternative, aber von dessen Radikalität und dem unbedingten Bekenntnis zur Einheit der Arbeiterbewegung waren die meisten sozialdemokratischen Exilanten spürbar abgerückt.

In Deutschland selbst manifestierten sich die Differenzen innerhalb der Sozialdemokratie im Berliner Zentralausschuß der SPD mit Otto Grotewohl als Schlüsselfigur einerseits und im Büro Schumacher, später Büro der Westzonen, mit Sitz in Hannover andererseits.

Programmatisch unterschieden sich beide Richtungen zunächst nicht allzu sehr. Sie formulierten den vorherrschenden Konsens der Antihitlerkräfte bezüglich der Abrechnung mit dem Faschismus.

Der Berliner Zentralausschuß räumte ein, dass sich dabei schwerlich eine Alternative zum KPD-Aufruf erdenken ließ, erklärte sein volle Zustimmungen zu diesem Aktionsprogramm und begrüßte "aufs wärmste" den Aufruf der KPD, besonders dessen Bekenntnis zur antifaschistischen parlamentarisch-demokratischen Republik. Denn darin wurden ein Abrücken vom früheren radikalen Kurs und eine Annäherung an sozialdemokratische Positionen gesehen.

Eigene Akzente setzte er vor allem in zwei Punkten.
Erstens, indem er die von der KPD ausgesparte Losung des Sozialismus betont aufgriff: "Demokratie in Staat und Gemeinde, Sozialismus in Wirtschaft und Gesellschaft!"(25)

Zweitens, indem er im Unterschied zu KPD auf eine baldige Herstellung der "organisatorischen Einheit der deutschen Arbeiterklasse"(26) orientierte, als die KPD noch auf eine längere Phase der Annäherung in Aktionseinheit setzte. In den meisten Forderungen der antifaschistisch-demokratischen Umgestaltung und nicht zuletzt im Bekenntnis zum Sozialismus stimmte der Zentralausschuß mit Schumacher überein, der noch weiter ging und vom Sozialismus als "Gegenwartsaufgabe"(27) sprach.

Schumacher hatte im Mai 1945 in Hannover mit einer dann vervielfältigen Rede seine strategische Position darlegt,(28) die im August ihre Erweiterung in "Politischen Richtlinien für die S.P.D. in ihrem Verhältnis zu den anderen politischen Faktoren"(29) erfuhren. Hier verbanden sich Maßnahmen zur Überwindung der Überreste des Faschismus mit traditionellen Zielen der Arbeiterbewegung, und zwar in einer teils sehr radikalen Sprache und in scharfer Abgrenzung zu den Kommunisten.

Was den Zentralausschuß vom Büro Schumacher klar unterschied und in einen letztlich unüberbrückbaren Gegensatz brachte, waren vor allem die Stellung zum Marxismus, den Schumacher nur als eine geistige Grundlage der Partei neben anderen betrachtete, und dessen Staatsverständnis er ablehnte, sowie die Haltung zur KPD und zur UdSSR, die durch einen unerbittlichen Antikommunismus gekennzeichnet war. Hieran vor allem scheiterten die Bemühungen um eine gesamtdeutsche sozialistische Einheitspartei, die ohne Zweifel etwas anderes gewesen wäre als die ostdeutsche SED.

Im bürgerlichen Lager formierten sich zwei Strömungen zunächst in lokalen Gründerkreisen, die erhebliche Differenzierungen aufwiesen und sich erst nach und nach zonal und dann im Westen zonenübergreifend zusammenfanden: eine in die CDU einmündende christdemokratische, mit der die konfessionelle Aufspaltung überwunden wurde, aber der bayrische Sonderweg der CSU nicht verhindert werden konnte, und eine liberal-demokratische beziehungsweise freidemokratische, die sich dann als LDPD oder FDP konstituierte.

In der Frühzeit westdeutscher Entwicklung spielten zunächst auch Parteien wie das Zentrum, der Block der Heimatvertriebenen und Entrechteten wie auch separatistischen Bewegungen, die vor allem in Bayern, Schleswig-Holstein, Niedersachsen, in einigen Kreisen Hessens hervortraten, eine Rolle, sich aber auf Dauer nicht behaupten konnten. Generell stieß im Westen - die Kommunisten und manche liberale Politiker ausgenommen - ein von der deutschen Hauptstadt Berlin ausgehender Parteiaufbau von Anfang an auf vehementen Widerstand.

Von den Gründerpersönlichkeiten liberaler oder konservativer Parteien sahen sich nur manche in der Tradition der Antihitlerbewegung, insonderheit der Verschwörung vom 20. Juli 1944.

Bemerkenswert ist, wie stark in der Gründerzeit das Konzept eines christlichen Sozialismus hervortrat. Und das nicht nur in Berlin, wo es vor allem von dem christlichen Gewerkschafter Jakob Kaiser vertreten und mit der Idee eines Brückenschlages zwischen Ost und West verbunden wurde. Auch der Kölner Gründerkreis der CDU um Leo Schwering und Karl Arnold gelangte zu Einsichten in den Zusammenhang des Nationalsozialismus mit der "Herrschsucht des Militarismus und der Rüstungsmagnaten" und forderte, auf parlamentarischen Wege die "Vorherrschaft des Großkapitals, der privaten Monopole und Konzerne" zu brechen.(30) Noch weiter gingen Frankfurter Christdemokraten unter dem Einfluss antifaschistischer Intellektueller wie Walter Dirks und Eugen Kogon.

Konrad Adenauer hingegen grenzte sich frühzeitig und taktisch geschickt von einem "christlichen Sozialismus" ab und verfocht im Gegensatz zu Kaisers Hoffnung auf einen Brückenschlag eine offensive Abkopplung von sowjetisch besetzten Teil Deutschlands. Das geschah übrigens nicht erst mit dem in Adenauers Memoiren erwähnten Interview für die Zeitung News Chronicle vom Oktober 1945,(31) sondern bereits in einem im Sommer mit Hilfe des Schweizer Generalkonsuls Franz Rudolph von Weiss nach Paris lancierten Memorandum.(32)

Die Liberalen waren zunächst die einzigen der sich fest etablierenden Formationen, die - mit manchen Ausnahmen - in ihrer Programmatik einen antisozialistischen Akzent setzten und in besonderem Maße die Rolle des Privateigentums wie auch die des Föderalismus betonten. So hob der Berliner Gründungsaufruf der LDPD die Erhaltung des "Privateigentums und der freien Wirtschaft" besonders hervor, und nur in Ausnahmefällen sollten Unternehmen einer öffentlichen Kontrolle unterstellt werden.(33)

In der sowjetischen Besatzungszone hatten sich alle Parteien zur Zusammenarbeit bekannt und diese in einer Einheitsfront (später Demokratischer Block) realisiert. Vergleichbare Übereinkünfte kamen im Westen nur vereinzelt und vorübergehend auf lokaler Ebene zustande. Hingegen erwiesen sich Formen der Zusammenarbeit von KPD und SPD auch außerhalb der SBZ in bestimmten Bereichen als konstruktiv und stabil, bis sie Ende 1945/Anfang 1946 im Westen zum Erliegen kamen oder zum Erliegen gebracht wurden.

Grundsätzlich waren sich alle neu oder wieder konstituierenden politischen Kräfte und Organisationen bewusst, dass die Zusammenarbeit mit den jeweiligen Besatzungsmächten unabdingbare Voraussetzung politischen Handelns war. Und nicht zufällig erwiesen sich jene Männer, die dies am konsequentesten realisierten, als die erfolgreichsten Politiker in ihrem Operationsfeld: Konrad Adenauer einerseits und Walter Ulbricht andererseits.

Nur im fernen Kuba nahmen Vertreter der kommunistischen Parteiopposition zu den Sieger- und Besatzungsmächten eine fundamental andere Haltung ein. So sah August Thalheimer in Parteien und Gewerkschaften, die der Duldung durch Besatzungsmächte bedurften "keine selbständigen Organisationen für die Vertretung der eigenen Interessen und Zwecke der deutschen Bevölkerung", denn unter Besatzungsbedingungen sei bestenfalls ein "Scheindemokratie" möglich.(34) Das mag unter abstrakt-prinzipiellen Gesichtspunkten Manches für sich haben, aber realistisch - gemessen an den in Deutschland real herrschenden Bedingungen - war solch eine Haltung nicht. Da hätte man den Anspruch auf politisches Wirken zumindest vorübergehend ganz aufgeben müssen.

Wenn wir uns den Tenor der Forderungskataloge verschiedener Strömungen und Gruppierungen veranschaulichen, müssen wir zu dem Schluss kommen, dass es abgesehen von der unmittelbaren Überwindung der Hinterlassenschaften der Hitlerdiktatur, der Bestrafung der Schuldigen und der Wiedergutmachung an den Opfern eigentlich keine spezifisch-originäre antifaschistische Programmatik gegeben hat und wohl auch nicht geben konnte. Die weiterführenden Konzepte waren den vorgeformten Vorstellungen der jeweiligen politischen Lager entnommen, oft mit einer antifaschistischen Stoßrichtung versehen.

Visionär im Sinne einer Vorwegnahme der in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts in den Vordergrund tretenden Probleme - ich denke da an Stichworte wie Ökologie, Nord-Süd-Konflikt, Feminismus - war keines der damals verkündeten Nachkriegskonzepte. Es bestätigte sich, wie sehr in der Regel politische Programme im unmittelbaren Erfahrungsbereich der Akteure verwurzelt sind und wie schwierig es ist, künftige Trends frühzeitig zu erkennen. Das sollte uns veranlassen, nicht nur nach den richtigen Antworten zu suchen, sondern immer auch zu prüfen, ob wir die richtigen Fragen stellen.

Was ist eigentlich aus den Politikansätzen des Jahres 1945 geworden? Eckart Spoo, Reinhard Kühnl und Frank Deppe haben das vor zwanzig Jahren bilanziert.(35) Und wir müssen feststellen, die Bilanz fällt heute noch schlechter aus als damals.

Hatten sich die tonangebenden Kräfte im Osten bald von den freiheitlich-demokratischen Bekenntnissen losgesagt,(36) so die des Westens von den Forderungen nach sozialökonomischen Umgestaltungen und einem grundlegenden Elitenaustausch. Die Ursachen für die Abkehr von wesentlichen Elementen der programmatischen Erwägungen des antifaschistischen Widerstandes sind vielfältiger Natur. Da die Besatzungsmächte die oberste Regierungsgewalt in Deutschland übernommen hatten, tragen sie auch die Hauptverantwortung für die in ihren Zonen praktizierte Politik. Aber sie waren auch nie mit deutschen Kräften konfrontiert, die über alle politischen Grabenkämpfe hinweg so etwas wie einen deutschen Gesamtwillen repräsentiert und die völkerrechtlich verbrieften Zusagen - Schaffung gesamtdeutscher Verwaltungen, Vorbereitung eines Friedensvertrages - gemeinsam eingefordert hätten. Im Osten wie im Westen ging die Anpassung an die von den Besatzungsbehörden vorgegebene Politik oft über das gebotene Maß hinaus, um so mehr, wenn sich so eigene Intensionen gegenüber anderen politischen Richtungen durchsetzen ließen.

In der BRD - und das erweist sich für das heutige geistige Klima in Deutschland als das Bestimmende - wurde verdrängt, dass der antifaschistische Widerstand überwiegend von sozialistischen Ideen geprägt war. Auch ein Mann wie Jakob Kaiser, später Minister für Gesamtdeutsche Fragen, sprach seinerzeit vom "allgemeinen sozialistischen Zug der Zeit".(37) Nicht anders erging und ergeht es der damals beträchtliche Anziehungskraft ausübenden Idee der Einheit der Arbeiterbewegung, verkörpert in einer Einheitspartei, einheitlichen Gewerkschaften und Verbänden. Sie wird in kaum zu überbietender Oberflächlichkeit mit dem Stigma "Zwangsvereinigung" abgetan, für das kein Beweis erbracht werden muss.(38)

Es ist konservativen Kräften gelungen, den Antifaschismus generell zu denunzieren und die eigenen Defizite in der Abrechnung mit dem Hitlerfaschismus und seinen Amtsträgern hinter der Anprangerung eines "verordneten Antifaschismus" des "Unrechtsstaates" DDR zu verbergen. Wenn es, der offiziellen Sprachregelung zufolge, keinen deutschen Faschismus, sondern nur deutschen Nationalsozialismus gegeben hat, so erledigt sich der Antifaschismus gleich mit. Wenn europäische Berufspolitiker die Wertegemeinschaft Europas beschwören, klammern sie in der Regel jene nachhaltige Spur aus, die vom europäischen Antifaschismus und von der sozialistischen Arbeiterbewegung Europas gezogen wurde.

Aus den Versicherungen, nie mehr deutsche militaristische Kriegspolitik zuzulassen, ist die Forderung nach weltweiter Verantwortung und weltweitem Eingreifen deutscher Streitkräfte geworden. Was der heutige Bundespräsident und Vertreter der Bundesregierung vor Jahresfrist als neue "deutsche Verantwortung" verkündeten, war bereits ein Vierteljahrhundert zuvor, zeitgleich mit der Konstituierung der vergrößerten Bundesrepublik, von Leuten wie Arnulf Baring vorgedacht. Er hatte bereits 1991 verkündet, Deutschland werde zugrundegehen, wenn es sich auf den aus Widerstand und Neubeginn herrührenden "wenn auch respektablen Kanon beschränkt", mit dem wir "nicht über die nächsten Jahrzehnte hinwegkommen" würden.(39)

Aber dem stehen auch Tatsachen gegenüber, die uns die Dinge nicht ganz so düster sehen lassen müssen. So ausgelöscht sind die Erinnerungen an antifaschistischen Widerstand und demokratischen Aufbruch denn doch nicht, dass sie nicht nach wie vor Anknüpfungspunkte für Umdenken und Umkehr böten, wie das herausragend in der 68er Bewegung zum Vorschein kam und wie sich das heute im von unten kommenden Widerstand gegen rassistische ausländerfeindliche Entgleisungen und Ausschreitungen zeigt.

Im Grundgesetz der Bundesrepublik, mehr noch in den früher verabschiedeten Länderverfassungen finden sich noch Spuren des Neubeginns. Der Kapitalismus ist hier nicht als Grundlage deutscher Staatlichkeit verankert. Das Friedensgebot und das Recht auf Kriegsdienstverweigerung sind verfassungsrechtlich verbrieft. Dass von den Verfassungsgebern teils in eigener Betroffenheit verankerte Asylrecht konnte noch nicht völlig getilgt werden.

Lassen wir es dabei bewenden, und besinnen wir uns, dass es nicht zuletzt von uns selbst abhängt, wie viel vom Erbe des antifaschistischen Widerstands und des antifaschistisch-demokratischen Aufbruchs der ersten Nachkriegsjahre übrigbleibt.


Günter Benser, Prof. Dr., Berlin, Historiker


Anmerkungen

(1) Reinhard Kühnl/Eckart Spoo (Hg): Was aus Deutschland werden sollte. Konzepte des Widerstands des Exils und der Alliierten, Heilbronn 1995.

(2) Es scheint mir deshalb gerechtfertigt, auf weiterführende Literatur aus eigener Feder zu verweisen.

(3) Siehe den Beitrag von Ludwig Elm in diesem Heft.

(4) George S. Wheeler: Die amerikanische Politik in Deutschland (1945-1949), Berlin 1958.

(5) Arthur D. Kahn: Offiziere, Kardinäle und Konzerne. Ein Amerikaner über Deutschland, Berlin 1964.

(6) Siehe CSSR - Staat, Demokratie, Leitung. Dokumente, ausgew., bearb. u. eingel. v. Wolfgang Lungwitz, Berlin 1979, S. 80-98.

(7) Siehe Quellen und Materialien zur Geschichte der UdSSR und des Sozialistischen Weltsystems (= Lehrmaterial zur Ausbildung von Diplomlehrern), zusgest. v. Eckart Mehls, Potsdam 1989.

(8) Ausführlicher hierzu: Günter Benser: Antifaschistischer Widerstand und Überwindung des Faschismus als europäisches Problem. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 5/1985.

(9) Siehe hierzu den Beitrag von Otto Köhler.

(10) Wilhelm E. Winterhager: Die Zukunftsplanung im Kreisauer Kreis. In: Was aus Deutschland werden sollte.

(11) Günter Benser: Die KPD im Jahre der Befreiung. Vorbereitung und Aufbau der legalen kommunistischen Massenpartei (Jahreswende 1944/1945 bis Herbst 1945), Berlin 1985, S. 55.

(12) Ebenda.

(13) Ebenda, S. 56.

(14) Siehe ebenda, S. 56/57.

(15) Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Bd. 5: Von Januar 1933 bis Mai 1945, Berlin 1966, S. 576/577.

(16) Siehe Günter Benser: Was kommt nach Hitler? In: Klaus Kinner: Der deutsche Kommunismus. Selbstverständnis und Realität. Bd. 3: Im Krieg (1939-1945), Berlin 2009, S. 284-294.

(17) Siehe Günter Benser: Antifaausschüsse - Staatsorgane - Parteiorganisation. Überlegungen zu Ausmaß, Rolle und Grenzen der antifaschistischen Bewegung am Ende des zweiten Weltkrieges. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 9/1978. Dazu die spätere Eigenbewertung dieser Position in: Günter Benser: Basisdemokratie gestern, heute und morgen. In: Basisdemokratie und Arbeiterbewegung. Günter Benser zum 80. Geburtstag, hrsg. v. Rainer Holze/Siegfried Prokop, Berlin 2012, S. 39-42.

(18) Siehe Peter Erler/Horst Laude/Manfred Wilke (Hrsg.): "Nach Hitler kommen wir", Dokumente zur Programmatik der Moskauer KPD-Führung 1944/45 für Nachkriegsdeutschland, Berlin 1994, S. 290-303.

(19) Siehe Günter Benser: Das in Moskau erarbeitete Nachkriegskonzept der KPD-Führung. In: Was aus Deutschland werden sollte; Günter Benser: Was kommt nach Hitler?

(20) Peter Erler u.a.: "Nach Hitler kommen wir", S. 333.

(21) Dokumente zur Geschichte der SED, Bd. 2: 1945 bis 1971, Berlin 1989, S. 12.

(22) Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv (SAPMO-BArch). RY 1/I 2/5/39. Bl. 155.

(23) Siehe die Beiträge von Johannes Klotz, Jörg Wollenberg, Ursula Adam und Joachim Perels in: Was aus Deutschland werden sollte.

(24) Siehe Programmatische Dokumente der deutschen Sozialdemokratie, hg. v. D. Dowe u. K. Klotzbach, Bonn 1990.

(25) Dokumente zur Geschichte der SED, Bd. 2, S. 18.

(26) Ebenda, S. 21.

(27) Siehe Sozialismus eine Gegenwartsaufgabe. Dr. Schumacher auf dem Parteitag der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands in Hannover, Berlin 1946.

(28) Siehe Kurt Schumacher. Reden - Schriften - Korrespondenzen 1945-1952, hrsg. v. Willy Albrecht (= Internationale Bibliothek 107), Berlin/Bonn 1985, S. 203-236.

(29) Siehe ebenda, S. 256-286.

(30) Dokumente zur parteipolitischen Entwicklung in Deutschland seit 1945, Bd. 2, Erster Teil: Programmatik deutscher Parteien, Berlin 1963, S. 30f.

(31) Siehe Konrad Adenauer: Erinnerungen 1945-1953, Stuttgart 1965, S. 34/35.

(32) Siehe Kriegsende und Neuanfang am Rhein. Konrad Adenauer in den Berichten des Schweizer Generalkonsuls Franz Rudolph von Weiss, hrsg. v. Hanns-Jürgen Küsters u. Hans Peter Mensing, München 1986, S. 206

(33) Um ein antifaschistisch-demokratisches Deutschland. Dokumente aus den Jahren 1945-1949, hrsg. v. Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der DDR/Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der UdSSR, Berlin 1968, S. 54f.

(34) WESTBLOCK-OSTBLOCK. Welt- und Deutschlandpolitik nach dem Zweiten Weltkrieg. Internationale monatliche Übersichten 1945-1948 von August Thalheimer. Erweitert durch Briefe und Dokumente. Hrsg. v. der Gruppe Arbeiterpolitik, Hamburg 1992, S. 58.

(35) Siehe Was aus Deutschland werden sollte, S. 9-36.

(36) Aufschlussreich ist, wie Wolfgang Abendroth im Dezember 1948 seine Absage an den in der Sowjetischen Besatzungszone eingeschlagenen Kurs begründet hat. Siehe Was aus Deutschland werden sollte, S. 84-86.

(37) Peter Bucher: Nachkriegsdeutschland 1945-1949. Quellen zum politischen Denken der Deutschen im 19. u. 20. Jahrhundert (= Freiherr von Stein-Gedächtnisausgabe, Bd. X), Darmstadt 1990, S. 2 u. 4.

(38) Siehe Günter Benser: Zusammenschluss von KPD und SPD 1946. Erklärungsversuche jenseits von Jubel und Verdammnis (= hefte zur ddr-geschichte 27), 2. Aufl., Berlin 2006.

(39) Arnulf Baring (im Gespräch mit J. Siedler): Deutschland, was nun?, Berlin 1991, S.206.


Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
(*) Der Schattenblick veröffentlicht den Beitrag mit freundlicher Genehmigung des Autors in ungekürzter Form:
Erweiterte Fassung eines Vortrages, der am 24. Januar 2015 in Wuppertal auf einer Konferenz der Marx-Engels-Stiftung gehalten wurde.

Erstveröffentlichung:
Förderkreis Archive und Bibliotheken zur Geschichte der Arbeiterbewegung:
http://www.fabgab.de/downloads/benser1.pdf

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Quelle:
Marxistische Blätter, Heft 3-15, 53. Jahrgang, S. 53-63
Redaktion: Marxistische Blätter
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veröffentlicht im Schattenblick zum 29. August 2015

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