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MARXISTISCHE BLÄTTER/523: Uwe-Jens Heuer und die Demokratietheorie


Marxistische Blätter Heft 3-12

Uwe-Jens Heuer und die Demokratietheorie

von Herbert Münchow



Wäre es nach dem Direktor des ITSR, Wolfgang Weichelt(1), gegangen, dann hätte es von Uwe-Jens Heuer gar keine Demokratietheorie gegeben, denn das alles wäre Staatstheorie gewesen. Das Buch "Marxismus und Demokratie"(2), gedacht als Teil "einer Konzeption des modernen Sozialismus ..., eine(r) neue(n) Sicht des Verhältnisses von Sozialismus und Demokratie(3), würde nicht existieren. Es fasst Heuers Überlegungen zur radikalen Verstärkung des Einflusses des Volkes auf den Staat zusammen und gibt ihnen ein stabiles historisches, theoretisches, ideologisch ausgebautes und sicheres Fundament.(4)

"Eine ganz andere Frage ist, dass es für Marx tatsächlich keine Demokratietheorie geben konnte. Er war Demokrat, aber er hielt Demokratie im Kapitalismus für nicht möglich, und im Sozialismus, da es sich um das Verhältnis von Staat und Volk handelt, und dann der Staat ziemlich schnell verschwinden würde, für nicht nötig."(5) Treffend bemerkt Hermann Klenner, dass Uwe-Jens Heuer "den Karl Marx besser verstanden hat, als dieser sich selbst verstand. Das ist ein ganz normaler Vorgang in der Wissenschaftsgeschichte. Es gäbe keinen Fortschritt in der Wissenschaft, wenn man nicht die Größen der Vergangenheit dazu benutzen könnte und würde, um das Tor nach vorn mit aufstoßen zu helfen. Die Ewigkeitsgeltung der ganz Großen in der Gedankengeschichte der Menschheit beruht genau auf dieser Möglichkeit."(6)

Heuer, der davon ausging, dass die Begründung der marxistischen Demokratietheorie die demokratischen Bedürfnisse der Arbeiterklasse voraussetzt, hat sein Credo so formuliert: "Von bürgerlicher Seite wird oft versucht, Marx gegen Engels, beide gegen Lenin, den jungen Marx gegen den späteren oder den späten Lenin gegen den früheren auszuspielen. Wir sind manchmal versucht, uns dagegen zur Wehr zu setzen, indem wir bestehende Unterschiede leugnen. Gerade indem wir ihr Werk in seiner Zeit begreifen, können wir Allgemeingültiges ableiten und Methoden und Inhalt für unsere heutige theoretische Arbeit fruchtbar machen. Ein solch materialistisches Herangehen ermöglicht auch die objektive Einsicht, warum in jeder Periode unterschiedliche Seiten dieses Werkes in ihrer Rezeption in den Vordergrund rücken. Nur indem wir so verfahren, werden wir - wie mir scheint - ihrer Größe gerecht und verwandeln ihr ungeheures Werk nicht in einen Steinbruch, in dem wir Wurfgeschosse für Zitatenschlachten auflesen."(7)


"Vom theoretischen Gewinn der Niederlage"

So hieß das Vorwort zur zweiten Auflage von Heuers Demokratiebuch im Nomos-Verlag von 1990.(8) Es sollte Ansatzpunkte zur Verarbeitung des Geschehenen geben. Theorie sei immer dann am nötigsten, wenn sie am schwierigsten zu machen ist. "Die Ereignisse des Jahres 1989 müssten beim letzten Marxisten jenes geschichtliche Denken in Frage gestellt haben, das die Geschichte einem naturnotwendigen Prozess gleichsetzt, der keine Alternativen kennt und gleichsam die Garantie des Sieges gibt."(9) Demokratie setze prinzipiell Wahlmöglichkeiten voraus. Der objektive Charakter gesellschaftlicher Gesetze schließe diese nicht aus. Revolutionäres Denken und Handeln habe stets davon auszugehen.

Frühzeitig hatte sich Heuer mit diesen Fragen, die immer Bestandteil einer starken Strömung des Marxismus waren, auseinandergesetzt.(10) Dessen Wirkungskraft sah er darin, dass "den Alternativen und damit dem geschichtlichen Subjekt der angemessene Platz eingeräumt wird".(11) Für die Demokratietheorie sei die "Anerkennung der Offenheit der Geschichte unverzichtbar."(12) Wer sich als Vollstrecker unabwendbarer historischer Gesetzmäßigkeiten verstehe, habe kein Verständnis für Politik als besonderes Kampffeld, kein Verständnis für die Notwendigkeit von Demokratie. Die sozialistische Demokratie wird er mit der führenden Rolle der Partei identifizieren und die Möglichkeit bürgerlicher Demokratie unter Berufung auf die Macht des Privateigentums leugnen.

Bereits 1965 kritisierte Uwe-Jens Heuer die "Konzeption vom einheitlichen Subjekt", die dazu führe, dass die einzelnen Individuen und Gruppen nicht als Träger von Bewusstheit figurieren, sondern ausschließlich die Verwirklichung bereits erkannter Notwendigkeiten zur Aufgabe haben. Dies sei "im Grunde eine bürokratische Vorstellung."(13) Heuers Blick auf das Demokratieproblem, das er überhaupt erst als eigenständiges theoretisches Problem, als Problem der politischen Theorie der sozialistischen Gesellschaft sichtbar gemacht hat, der er das Tor öffnen wollte, war stets verbunden mit einem unbändigen Streben nach Erkenntnis der Dialektik des Geschichtsprozesses, der Dialektik des Sozialismus, der Dialektik des Überbaus. Die erste Aufgabe marxistischer Demokratietheorie nach der Niederlage sah er in der Analyse des "bisherigen Sozialismus und seiner politischen Ordnung"(14), wahrscheinlich wäre "es besser von Frühsozialismus zu sprechen."(15)

Grundanliegen der Demokratietheorie von Uwe-Jens Heuer war der Nachweis einer eigenständigen Demokratieentwicklung im Sozialismus, die als Bestandteil des gesellschaftlichen Gesamtprozesses eigenen Entwicklungsgesetzmäßigkeiten unterliege, eigene Fortschrittsmaßstäbe besitze, auch Rückfälle kenne. Sie war ein Produkt der demokratischen Bedürfnisse der DDR-Bürger. Es handelte sich um die theoretische Zusammenfassung historischer Erfahrungen der langfristigen Lebens- und Funktionsfähigkeit einer nichtkapitalistischen Ordnung auf der Grundlage des staatlichen Eigentums, die unter Einbeziehung der Erfahrung der Niederlage zu der Schlussfolgerung führt, "dass Sozialismus ohne entwickelte Demokratie, ohne 'Bürgerliche Gesellschaft', ohne Rechtsstaat, ohne Gewaltenteilung, ohne Öffentlichkeit keine wirkliche Alternative ist. Kann aber Gemeineigentum mit 'Bürgerlicher Gesellschaft' vereint werden oder ist Kapitalismus der unverzichtbare Preis für 'Bürgerliche Gesellschaft'?" Das sei die entscheidende demokratietheoretische Frage, vor die uns das Scheitern des Frühsozialismus stelle und deren Beantwortung über die reale Möglichkeit des Sozialismus entscheide.(16)

"Soll der Sozialismus zu einer wirklichen Alternative werden, so kann er das nur als demokratischer Sozialismus. 'Bürgerliche Gesellschaft' ' Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung, Öffentlichkeit, Basisdemokratie aber bedürfen, und diese Erkenntnis von Marx bleibt, einer ökonomischen Grundlage. Auf staatlichem Eigentum beruhende Allmacht zentraler Leitung schließt sie aus. Diese ökonomische Fundierung aber muss nicht die Dominanz kapitalistischen Eigentums sein. Wirkliches Gemeineigentum, das Regulierung, Intervention eines demokratischen Staates mit betrieblicher Demokratie und Markt verbindet und mit Privateigentum im Wettbewerb steht, bleibt als Alternative, als konkrete Utopie, als Ideal und Bewegung derer, die für dieses Ziel von ihren Interessen her eintreten und dafür Demokratie brauchen. Ein demokratischer Sozialismus kann nur mit demokratischen Mitteln erreicht werden. (...) Der Weg der Demokratie bleibt der Weg des Kampfes gegen Allmacht des Privateigentums und des Staates gleichermaßen, bleibt der Weg des Sozialismus."(17) Dabei wird es wohl "ohne Revolutionen nicht abgehen".(18)


Demokratiebegriff

Uwe-Jens Heuer sah es als eine Kernfrage einer marxistischen Demokratietheorie an, einen allgemeinen Demokratiebegriff zu akzeptieren und zu formulieren. "Demokratiegestaltung im Sozialismus braucht einen allgemeinen Maßstab und insofern auch einen allgemeinen Demokratiebegriff."(19) Damit werde man keineswegs zu einem Verfechter der "reinen Demokratie", getrennt von der Produktion und den Klassenverhältnissen. Diejenigen, die hier immer wieder Lenin aus dem "Anti-Kautsky" zitieren(20), haben sich nie die Mühe gemacht, in die Probleme einzudringen, die Heuer aufgearbeitet hat. Er sprach sarkastisch über Leute, die nur den einen Satz beherrschen: "Es gibt zwei Klassen." Das sei richtig und parteilich, reiche aber nicht aus.(21) Mit der Abkehr von allen Illusionen eines raschen Weges zum Kommunismus war die Einsicht in die lange Fortexistenz des sozialistischen Staates verbunden - und so der Weg frei zu einer eigenständigen Demokratiekonzeption, bei der es um die Frage nach dem neuen sozialistischen Demokratietyp geht, der in der ökonomischen Basis des Sozialismus begründeten Selbsterziehung des Menschen zum wirklichen Menschen.

Uwe-Jens Heuer hielt nichts von dem Schema "Demokratie jeweils als gut, Diktatur gleich böse", sondern forderte jeweils den sozialökonomischen Bezug ein. Seine grundsätzliche Position hinsichtlich des Demokratiebegriffs war: "1. Die Frage der Demokratie als Volksherrschaft ist materialistisch zu beantworten. Entscheidend ist der Inhalt, nicht die Form oder Methode. Die Frage nach der Verwirklichung der Demokratie ist letztlich die Frage danach, ob die Interessen des Volkes verwirklicht werden. 2. Die Formen und Methoden der Demokratie werden durch ihren Inhalt bestimmt, sie sind abgeleitet und notwendig. Der Inhalt der sozialistischen Demokratie bedarf der Formen, bedarf der Methoden und Verfahren, allerdings eigener, auf diesen Inhalt ausgerichteter Methoden und Verfahren, was Erbe nicht ausschließt. Hierher gehören Fragen des demokratischen Stils, demokratischer Kultur, aber natürlich auch Fragen des Rechts. 3. Solange Klassen bestehen, wird der Inhalt der Demokratie von Klasseninteressen bestimmt. In diesem Sinne ist Demokratie unmöglich, solange die Ausbeuter herrschen, kann es Demokratie nur geben, wenn die Interessen der Mehrheit des Volkes, wenn heute die Interessen der Arbeiterklasse verwirklicht werden, ist proletarische Demokratie die erste Demokratie. 4. Inhalt der Demokratie ist letztlich die Entfaltung der Persönlichkeit von immer mehr Menschen, sind Freiheit und Gleichheit. Insofern ist vollkommene Demokratie erst im Kommunismus möglich, haben sich Elemente der Demokratie auf der anderen Seite bereits in den Ausbeuterordnungen entwickelt, gibt es Fortschritt und Kontinuität. Schon bei Aristoteles fanden wir den (...) Zusammenhang von Freiheit und Gleichheit mit Demokratie. (...) In dem Erfassen dieser widersprüchlichen Einheit liegt das Grundverständnis sozialistischer Demokratie, ihre Widersprüchlichkeit und Entwicklungsrichtung, liegt die Einheit von Realismus und Bewegung zum kommunistischen Ziel."(22)

Heuer schlug vor, den Inhalt der Demokratie zu bestimmen "durch die Realisierung der widersprüchlichen Interessen des Volkes, der Entfaltung der Persönlichkeit mittels des Staates, durch Einfluss auf den Staat in der Wechselwirkung von Individuum, Gesellschaft und Staat. Das Maß der Demokratie wäre in diesem Sinne das Maß der jeweils erreichten individuellen und kollektiven Selbstbestimmung. Demokratie geht damit vom Bestehen von Herrschafts- und Machtverhältnissen aus."(23)

Uwe-Jens Heuer hielt es für notwendig, an diesen "modernen Demokratiebegriff", der auf das Volk bezogen ist, der sich mit der französischen Revolution herausbildete, anzuknüpfen. Immer sei bei dem von dieser Revolution eingeleiteten Demokratiedenken, das von Marx revolutioniert wurde, von der Persönlichkeit aller Mitglieder des Volkes, ihrer individuellen und kollektiven Selbstbestimmung in kritischer Sicht auf Herrschafts- und Machtverhältnisse die Rede. "Demokratie heißt, dass alle Subjekt der Macht werden. Die Entwicklung des Sozialismus fordert die Entwicklung der sozialistischen Demokratie, die Entwicklung der sozialistischen Demokratie fordert die Entwicklung des Rechts."(24)

Marx, und "darin bestand die kopernikanische Wende in seiner Theorie, sah nicht den Staat, sondern das Privateigentum als das eigentliche Übel der Gesellschaft an". Daraus ergab sich auch, dass er "den überwiegenden Teil seiner Kraft dem Studium der Gesetze der kapitalistischen Gesellschaftsordnung, der Kritik der politischen Ökonomie widmete und ihr keine ausgearbeitete, systematische Theorie des Staates und der Politik an die Seite stellte. Marx und Engels gingen vom baldigen Absterben des Staates aus. Sie sahen in der Pariser Kommune den Beweis für die Möglichkeit der Abschaffung des Staates. In einer Auseinandersetzung mit Bakunin erklärte Engels: 'Da also der Staat das Hauptübel sei, so müsse man vor allem den Staat abschaffen, dann gehe das Kapital von selbst zum Teufel; während wir umgekehrt sagen, schafft das Kapital (...) ab, so fällt der Staat von selbst.' Demokratie als Verhältnis von Staat und Gesellschaft war damit kein Problem. Die spezifische Demokratiefragestellung war vor der Revolution nicht möglich und nach ihr nicht mehr nötig."(25) Marx sah sie für abgelöst durch die Frage nach der sozialen Revolution, nach dem Kommunismus. Macht als Ausgangspunkt der Demokratie ist für den Marxismus im Kern die ökonomische Macht. Als Konsequenz ergebe sich: Marx habe die Demokratiefrage im Sinne des Erbes der französischen Revolution gestellt, sie allerdings durch die Notwendigkeit der Abschaffung des Privateigentums beantwortet. Dies sei sein eigentlich zentraler Beitrag zur Problematik. Der soziale Inhalt der Umwälzung nicke in den Vordergrund, vor allem auch die Rechtsformen verlören ihre Bedeutung.

Heuer hat dies immer wieder herausgearbeitet. Insbesondere auch deshalb, weil die Einsicht, dass die Abschaffung des Privateigentums sozialistische Demokratie nicht zwangsläufig zur Folge hat, keineswegs bedeutet, dass die Eigentumsfrage für das Problem der Demokratie bedeutungslos geworden sei. Sie ist die Grundfrage der Bewegung.

Uwe-Jens Heuer, der die "In-Eins-Setzung" von Sozialismus und Demokratie theoretisch aufgebrochen hat, sah es als eine "welthistorische Aufgabe" an, "sozialistisches Eigentum mit Demokratie zu verbinden". Er wandte sich gegen den "Taschenspielertrick" seiner Partei, durch die Identitätsdoktrin das Sozialismusproblem für erledigt zu erklären, während in der marxistisch-leninistischen Orthodoxie dadurch das Demokratieproblem aufgehoben wurde.(26) Der "demokratische Sozialismus" ist kein "weißer Schimmel"(27), keine Tautologie. Dieser Vergleich ignoriert alle geschichtliche Erfahrung. Die überragende Bedeutung der Demokratiefrage wird hervorgehoben: "Sozialismus, der dieses Wort verdient, ist zugleich demokratisch. Verhält es sich nicht so, dann steht auch kein Sozialismus zur Debatte."(28) Das darin enthaltene theoretische Problem vor allem hinsichtlich der Analyse demokratischer Bedürfnisse(29), auch des individuellen Bedürfnisses nach Demokratie einschließlich der prinzipiellen Bedeutung subjektiver Rechte, wird übersehen. Mit Stalin lässt sich dieses Problem nicht lösen, er hat die Leninsche Frage nach einer Verbindung von Massen und Staat gar nicht mehr zugelassen.(30)

Die Negierung einer spezifischen Demokratiefragestellung verschließt den Weg zu den Kraftquellen des Sozialismus. Ein Marxist wird nicht einfach behaupten, dass die Eigentums- und Klassenfrage die Demokratiefrage aufhebt, dass sozialistische Demokratie aus der spontanen Dialektik der ökonomischen Entwicklung entsteht. Er wird sich fragen: Ist nur der Widerspruch zu den gestürzten, aber noch nicht endgültig besiegten Ausbeutern, zu den äußeren Feinden bestimmend oder gilt es mit zunehmender Entwicklung der sozialistischen Gesellschaft Interessenwidersprüche im Volk, zwischen der Arbeiterklasse und ihrem eigenen Staat, Fragen der Entfaltung des Individuums zu reflektieren?


Sozialistische Demokratie

In der sozialistischen Gesellschaft ist der Nachweis zu erbringen, dass die demokratischen Bedürfnisse der Werktätigen auf der Grundlage des Gemeineigentums besser befriedigt werden als auf der Grundlage des kapitalistischen Privateigentums. Der Sozialismus muss Kräfte freisetzen, "die das gesellschaftliche Eigentum überhaupt erst hervorbringt. Das aber sind Kräfte des Allgemein-Gesellschaftlichen, des Politischen, des Staates, aber eben nicht allein des Staates, sind alle Kräfte der inneren Dialektik des politischen Systems des Sozialismus, seiner Vielfalt. Die Aufdeckung und Freisetzung dieser Kräfte, das ist die Frage der sozialistischen Demokratie heute. Hier liegen die entscheidenden Anforderungen an eine moderne, unserer Zeit gerecht werdende Theorie der sozialistischen Demokratie."(31) Bürgerliche Demokratie bezieht sich auf den bürgerlichen Staat, sozialistische Demokratie auf den sozialistischen Staat. Nur eine überzeugende Staatstheorie kann den Ausgangspunkt für zwingende Überlegungen zur sozialistischen Demokratie bilden. Den entscheidenden Ansatz zur Begründung der inneren Notwendigkeit des Staates im Sozialismus sah Heuer in den Überlegungen von Engels und Lenin zum Eigentümerstaat.(32) Der Staat als ökonomischer Eigentümer, nicht das Proletariat als Klasse tritt unmittelbar in die Produktionsverhältnisse ein. Er ist nicht nur politisches, sondern auch ökonomisches Zentrum. Damit bildet sich eine prinzipiell andere ökonomische Struktur der Gesellschaft heraus, die das Gesicht der ganzen Gesellschaft prägt.(33) Im staatlichen sozialistischen Eigentum liegt sowohl die Notwendigkeit des Staates als auch die Notwendigkeit der Entfaltung demokratischer Bedürfnisse begründet.

Für den Marxismus ist die Kernfrage der Demokratie die Emanzipation der Arbeiterklasse. Heuer hatte "eine Gegenposition zur herrschenden Orthodoxie formuliert, die sich auf das Werk von Karl Polak(34) stützte und den Sozialismus per se für ständig demokratisch und diktatorisch zugleich erklärte." Polak hatte "sich positiv auf die Pariser Kommune bezogen, wo gesellschaftliche und politische Kräfte nicht mehr getrennt waren und damit auch das Recht weggefallen war. In der sozialistischen Gesellschaft seien 'Staat und Volk, Gesellschaft und Individuum eins geworden'. Diese Identitätsposition ging davon aus, dass in der aufsteigenden sozialistischen Gesellschaft 'alle innerstaatlichen Widersprüche aufgehoben sind.' Der mit der Gesellschaft identische Staat ist der eigentliche Beweger der Gesellschaft. Diese Konzeption verschloss den Zugang zur inneren Dialektik des Sozialismus, zur Spezifik der sozialistischen Demokratie." Die Identitätskonzeption, ein Kind der Übergangsperiode, war unter den Anforderungen des NÖS angeschlagen, wirkte jedoch in der Rechtswissenschaft der DDR bis zuletzt, so im Lehrbuch "Staatsrecht der DDR", fort.(35)

In der gesellschaftlichen Wirklichkeit bestand weiterhin eine abgesonderte öffentliche Gewalt, die nicht mehr bloß aus dem inneren Wechselverhältnis der Klassen abzuleiten war, sondern zunehmend aus dem Wechselverhältnis "Staatsapparat - Gesellschaft" resultierte. "Die Beseitigung des kapitalistischen Privateigentums hat nicht, wie Marx angenommen hatte, zum Absterben des Staates geführt. Im Gegenteil, der Staat nahm in der Gesellschaft einen immer größeren Platz ein, die Verstaatlichung der Gesellschaft erreichte einen Höhepunkt in den dreißiger Jahren. Grundlage dieser Macht des Staates war das staatliche Eigentum an den Produktionsmitteln. An die Stelle des Widerspruchs von Ausbeutern und Ausgebeuteten trat der Widerspruch von Volk und Staat, einem Staat, der nicht Staat einer Ausbeuterklasse ist, aber immer noch Staat, in gewisser Weise sogar mehr Staat als je ein Staat zuvor. An die Stelle der vom Privateigentum hervorgebrachten Übel waren andere getreten, die mit der Übermacht des Staates verbunden waren. Der Bürokratismus wurde zur Hauptgefahr des politischen Systems. Sein Anwachsen ergab sich aus der inneren Tendenz des Zentralismus, sich weiter zu entfalten, aus der Falle einer Administration, die sich selbst reproduziert."(36)

Den Widerspruch von Massen und eigenem Staat, den die Pariser Kommune als Selbstregierung des Volkes nicht kannte, den Lenin als praktischen Widerspruch im Prinzip des demokratischen Zentralismus formuliert hat, bezeichnete Heuer als "politischen Grundwiderspruch des Sozialismus"(37). Die Lösung sah er in der radikalen Verstärkung des Einflusses des Volkes auf den Staat, da sich dieser Widerspruch in Richtung auf eine Unterordnung des Staates unter die Gesellschaft bewegt. "Brauchte das sozialistische Eigentum den Staat, war das rasche Absterben des Staates unmöglich, so musste eine wirkliche Kontrolle des Staates durch das Volk gesichert werden. Gerade weil der Staat hier eine erheblich größere Rolle spielt, ist die Demokratiefrage im Sozialismus nicht von geringerer, sondern von weit größerer Bedeutung als im Kapitalismus. Mit dem Wegfall des Privateigentums wurde die Demokratiefrage zur zentralen Frage der Gesellschaft."(38) Die Identitätsdoktrin, die vom Kommunestaat als politischer Form des Sozialismus ausging (der aber nicht zu dieser Form geworden war, da der "Eigentümerstaat den Kommunestaat zu sprengen drohte"(39)), versperrte den Weg vorwärts zur Erfassung der Widersprüche der sozialistischen Gesellschaft. Da das Absterben des Staates im Dunkel ferner Zukunft liege, könne die Dialektik des Fortschritts nicht aus diesem Ziel entwickelt werden. Vielmehr gehe es darum, die Dialektik des Sozialismus aus den Tatsachen abzuleiten und die wesentlichen Vermittlungen des politischen Grundwiderspruchs zu bestimmen. "Die sich ausschließenden und einander voraussetzenden Gegensätze sind stets vermittelt. Die Vermittlung verbindet und trennt die Gegensätze, gewinnt zugleich Eigenständigkeit." Heuer analysierte den Zusammenhang von staatlichem sozialistischem Eigentum, staatlicher Leitung von Wirtschaft und Gesellschaft und demokratischen Bedürfnissen. Vier Vermittlungen dieser widersprüchlichen Einheit hob er als grundlegend hervor: Interessendialektik, Assoziierung des Verstandes (Wissenschaft), Politische Kultur (gesellschaftliches Bewusstsein) und das Recht.(40)

Immer ging es ihm um die Überwindung der "Zwangsalternative von Harmonie oder Klassenkampf". Es sei "gerade die Grundposition der marxistischen Demokratietheorie, dass sich alle Sphären der Gesellschaft gemeinsam, aufeinander einwirkend entwickeln, dass die Aufeinandereinwirkung aller Subjekte der Gesellschaft erst ihren Prozess ausmacht."(41)

Inhalt der sozialistischen Demokratie, die das Verhältnis des Volkes nicht zum fremden bürgerlichen, sondern zum eigenen Staat, zum eigenen Staatsapparat ist, sei "die Durchsetzung der - widersprüchlichen - Interessen des Volkes, der Individuen, die Entfaltung der Persönlichkeit mittels des Staates, durch Einfluss auf den Staat, in Wechselwirkung mit dem Staat. Dieses Aufeinanderwirken vollzieht sich in Formen, in Institutionen, gemäß Regeln, unabdingbar in der Rechtsform. Beschränkungen des Inhalts der Demokratie sind immer auch Beschränkungen der Form und umgekehrt. Nur Reichtum der Formen ermöglicht auch Reichtum des Inhalts. Form und Inhalt sind widersprüchlich (...) aber jenseits der Formen kann sich ein Inhalt überhaupt nicht realisieren. Wer an den Inhalt appelliert und die Form missachtet, greift auch den Inhalt an."(42)

Verlagert sich mit der sozialökonomischen Entwicklung der sozialistischen Gesellschaft die Dominante sozialer Unterschiede von der Achse "Eigentum" zur Achse "Arbeitsteilung", dann muss sich das auch in der politischen Sphäre widerspiegeln. In der Produktion soll die Demokratie in zwei Richtungen wirken: der Stärkung des Eigentümerbewusstseins und der Festigung der politischen Stabilität.(43) Politische Stabilität sei nicht mit Unveränderlichkeit politischer Formen und Inhalte gleichzusetzen, sondern müsse als Fähigkeit politischer Macht begriffen werden, die Dynamik gesellschaftlicher Entwicklung zu sichern.(44)

Das Maß der Demokratie ist mit der Beseitigung des Privateigentums "vor allem das Maß des Einflusses der Massen, d. h. der einzelnen und der Kollektive auf die Entscheidungen des eigenen Staates. Dieser Staat ist demokratisch, indem er nicht mehr Staat der Ausbeuter ist. Auf dieser Grundlage vollziehen sich Entfaltung der sozialistischen Demokratie, Qualitätsveränderungen auf der einen, aber auch Stagnation und selbst Rückschritt auf der anderen Seite. Ein solches - wenn man will, engeres - Demokratieverständnis steht zur Diktatur nicht in einem ausschließenden, wohl aber in einem dialektisch verstandenen Wechselverhältnis. Diktatur als Herrschaft einer Klasse kann auch die Demokratie für die herrschende Klasse beschränken. Je härter die Diktatur im engeren Sinne wird, desto mehr ist sie mit tiefgreifenden Beschränkungen der Demokratie nicht nur für die Gegner der Klasse, sondern auch innerhalb dieser Klasse selbst verbunden, kann sie zu politischen Deformationen führen. Demokratie im engeren Sinne und Staat als Staatsapparat sind einander dialektisch verbunden, bedingen und widersprechen einander."(45) Wer politisch desinteressiert sei, könne nicht Subjekt des staatlichen sozialistischen Eigentums sein. Ob und in welchem Grade es dem Klassengegner möglich sei, politische Krisen auszunutzen, entscheide vor allem die reale Möglichkeit für die Massen, politisch aktiv zu werden. Es ging Heuer hier um die subjektive Seite des politischen Systems, um den politischen Alltag, die politische Kultur als Frage der Entwicklung der sozialistischen Demokratie. Eine echte Politisierung im Sinne einer Demokratisierung sei auch die Alternative zum "Rückzug" ins Private.

Uwe-Jens Heuer hat seine Demokratietheorie immer wieder überprüft und im Ergebnis der Niederlage weiter konkretisiert. Der Reichtum dieses Denkens kann nur nach der von ihm selbst gewählten Methodik erschlossen werden. Ich gehe davon aus, dass die "Marxistischen Blätter" dies auch künftig ermöglichen werden. Die Aneignung des theoretischen Erbes von Heuer sollte als eine internationalistische Pflicht jedes Marxisten angesehen werden. Insbesondere wird es künftig auch darum gehen, den Widerspruch zwischen Kommunestaat und Eigentümerstaat in der Einheit von staatlicher Leitung und Selbstverwaltung produktiv zu machen, sonst bricht der politische Grundwiderspruch des Sozialismus erneut mit gewaltiger Kraft auf.

Herbert Münchow, Leipzig, Dipl. Philosoph


Anmerkungen:

(1) Institut für Theorie des Staates und des Rechts der Akademie der Wissenschaften der DDR. Uwe-Jens Heuer war hier als Bereichsleiter für "Theorie des Wirtschaftsrechts" seit Anfang der achtziger Jahre tätig.

(2) U.-J. Heuer, Marxismus und Demokratie, Berlin 1989 - künftig: MD. Eine ausgezeichnete Einführung in das Werk von Uwe-Jens Heuer bietet der Geraer Sozialistische Dialog mit dem Bulletin "Prof. Dr. Uwe-Jens Heuer, 1927-2011, Rechtswissenschaftler und Sozialist", Sonderausgabe Dezember 2011.

(3) MD,S.8.

(4) U.-J. Heuer, Im Streit, Ein Jurist in zwei deutschen Staaten, Baden-Baden 2002, S. 149.

(5) Ders., Über mich selbst, Wissenschaft - Politik - Recht, Ehrenkolloquium anlässlich des 70. Geburtstages von Prof. Dr. Uwe-Jens Heuer 11. Juli 1997, Berlin 1997, S. 108. Zur Geschichte der marxistischen Demokratietheorie, Utopie Kreativ, Heft 59 / 1995, S. 29 ff. Demokratisierung im heutigen bürgerlichen Staat, ebenda, Heft 62 / 1995, S. 34 ff. Marxistische Lesehefte 1, Berlin 1998.

(6) H. Klenner, Demokratie - Rechtsstaat - Sozialstaat, Wissenschaft - Politik - Recht, a. a. O., S. 32f.

(7) U.-J. Heuer, Überlegungen zur sozialistischen Demokratie, Sitzungsberichte der Akademie der Wissenschaften der DDR, Gesellschaftswissenschaften, Jg. 1986 Nr. 7 / G, Berlin 1987, S. 6 - künftig: SB.

(8) Ders., Marxismus und Demokratie, 2. Auflage, Baden-Baden 1990, S. I-XXIV - künftig: MD 2.

(9) Ebenda, S. IV. U.-J. Heuer, DDR - Maßstab, Lehre oder abschreckendes Beispiel?, St. Bollinger, U.-J. Heuer, H.-H. Holz, 0. Benser, DDR-Geschichte, Nostalgie oder Totalkritik?, controvers, Diskussionsangebot der PDS, S. 21-33.

(10) U.-J. Heuer, Demokratie und Recht im neuen ökonomischen System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft, Berlin 1965. Gesellschaftliche Gesetze und politische Organisation, Berlin 1974. Recht und Wirtschaftsleitung im Sozialismus. Von den Möglichkeiten und von der Wirklichkeit des Rechts. SB, Prof. Uwe-Jens Heuer, Demokratie, Ökonomie, Recht in der entwickelten sozialistischen Gesellschaft, Thesen, 22. November 1987.

(11) MD2,S.IV.

(12) Ebenda, S. V.

(13) U.-J. Heuer, Demokratie und Recht im neuen ökonomischen System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft, a. a. O., S. 166.

(14) MD2, S. V.

(15) U.-J. Heuer, Marxistische Theorie und Demokratie, Kritische Justiz, Heft 2 / 1990, S. 198.

(16) MD 2, S. XXIII.

(17) Ebenda, S. XXIII f.

(18) U. J. Heuer, Noch einmal zum Demokratiebegriff, W. Gerns, H. H. Holz, H. Kopp, T. Metscher, W. Seppmann, MES (Hrsg.), Philosophie und Politik, Festschrift für Robert Steigerwald, Essen 2005, S, 305 - künftig: FS.

(19) E. Lieberam, Sozialismuserfahrungen und zeitgemäße Sozialismuskonzeption, Marxistisches Forum, Heft 56, Leipzig 2008, S. 32.

(20) LW, Bd. 28, Berlin 1959, S. 233, S. 240.

(21) U.- J. Heuer; H. Klenner; P. v. Oertzen, Podiumsgespräch: Wissenschaftler in der Politik, Wissenschaft - Politik - Recht, a. a. O., S. 97.

(22) SB, S. 30 f.

(23) U.-J. Heuer, Zur Geschichte der marxistischen Demokratietheorie, a. a. O., S. 29. Marxismus und Demokratie in der Geschichte des Sozialismus, Z-Zeitschrift für marxistische Erneuerung, Nr. 30 / Juni 1997, S. 106.

(24) MD, S. 472.

(25) U-J. Heuer, Macht, Recht und Unrecht in Geschichte und Gegenwart, a. a. O., S. 43 f.

(26) Ders., Marxismus und Demokratie in der Geschichte des Sozialismus, a. a. O., S. 110 f.

(27) K. Steiniger, Ein weißer Schimmel, Rotfuchs, September 2010, S. 1.

(28) Ebenda.

(29) "Die demokratischen Bedürfnisse sind Bedürfnisse der sozialen Existenz, 'produktive Bedürfnisse'. Es geht um das Bedürfnis, über die eigenen Angelegenheiten individuell und kollektiv selbst zu entscheiden, ein Bedürfnis, das in staatlich organisierten Gesellschaften notwendig politische Gestalt annimmt. (...) Das demokratische Bedürfnis ist ökonomisch fundiert, reicht aber gleichzeitig über die Ökonomie hinaus." MD, S. 394.

(30) Marxistische Lesehefte 1, a. a. O., S. 38 - 39.

(31) MD, S. 340.

(32) Ebenda, S. 357 ff. MEW, Berlin 1959, Bd. 25, S. 799 f.

(33) MD, S. 373.

(34) K. Polak, Dialektik in der Staatslehre, Berlin 1959. 3. Auflage 1963.

(35) FS, S. 296.

(36) MD, 2, S. XII.

(37) MD, S. 400, S. 401.

(38) MD 2, S. XII f.

(39) MD, S. 357.

(40) Ebenda, S. 382 - 473.

(41) Ebenda, S. 472

(42) Ebenda, S. 462f

(43) Vgl. den von Heuer initiierten Artikel 41, DDR-Verfassung 1968: Betriebe und Gemeinden werden als "eigenverantwortliche Gemeinschaften" gefasst.

(44) Stabilität politischer Systeme, DZfPh, 1987/4, S. 352.

(45) MD, S. 398 f.

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Quelle:
Marxistische Blätter, Heft 3-12, 50. Jahrgang, S. 76-83
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veröffentlicht im Schattenblick zum 19. Juli 2012