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MARXISTISCHE BLÄTTER/521: Europa - strategisch betrachtet


Marxistische Blätter Heft 3-12

Europa - strategisch betrachtet
Schuldenkrise und Weichenstellungen

von Georg Polikeit



Wer den vorherrschenden Zeitungen oder dem Fernsehen glaubt, kann leicht zu dem Eindruck kommen, dass die Euro-Krise jetzt vorbei ist. Aber das ist die übliche Täuschung im herrschenden Medienbetrieb.

In der französischen Tageszeitung "Le Monde" befanden kürzlich zwei französische Finanzmarktexperten, der im März von 25 EU-Staaten unterzeichnete "Fiskalpakt" habe die Krise der Eurozone nicht geregelt, weil er die tiefe Ursache dieser Krise nicht angehe. Diese liege nämlich in den "strukturellen Ungleichgewichten der Leistungsbilanz" zwischen den Euro-Staaten.

Die Staatsschuldenkrise sei nicht die Ursache der Finanzkrise, sondern ihre Folge. Und die verallgemeinerte Sparzwangpolitik bringe das Risiko mit sich, "die Euro-Zone in ein verlorenes Jahrzehnt der Rezession zu drängen, bis sie unter dem Druck von sozialen Revolten gegen das Joch des Sparzwangs implodiert".

Damit haben diese Finanzexperten recht - auch wenn sie vermutlich keine Marxisten sind. Die hohen Schulden der Euro-Staaten sind in der Tat nicht die Ursache, sondern die Folge der Krise. Allerdings nicht nur einer reinen Finanzkrise, sondern der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise, die 2008/09 ihren ersten Höhepunkt hatte, aber auch heute noch immer nicht vorbei ist. In der Politischen Resolution des letzten DKP-Parteitags wurde diese Krise im Oktober 2010 als eine systembedingte tiefe Krise des neoliberalen finanzdominierten Wachstumsmodells des heutigen Kapitalismus eingeschätzt. Die Realität seitdem hat diese Einschätzung bestätigt.

Die Euro-Krise ist keine isolierte europäische Krise - und auch nicht nur die Folge von Konstruktionsfehlern bei der Gründung der Währungsunion, wie Frau Merkel immer wieder sagt - wie es gelegentlich aber auch in Texten linker Autoren zu lesen ist.

Schon gar nicht sind diese Krise und die hohen Staatsschulden eine Folge dessen, dass die Völker "über ihre Verhältnisse gelebt" hätten. Über die Verhältnisse leben in der EU nur die großen Konzerne und Banken, die nun schon seit Jahrzehnten absolut unverhältnismäßige Gewinne einfahren.

Zu den Hauptursachen der Euro-Krise gehört die ungleichmäßige ökonomische Entwicklung der verschiedenen EU-Staaten. Vor allem das wirtschaftliche Ungleichgewicht zwischen exportstarken Staaten wie Deutschland und den ökonomisch schwächeren Staaten im südlichen, aber auch im östlichen und südöstlichen Europa. Diese ungleichmäßige Entwicklung ist durch die Schaffung des Europäischen Binnenmarkts und durch die Einführung des Euro nicht abgeschwächt, sondern erheblich verstärkt worden.

Aber ungleichmäßige wirtschaftliche Entwicklung einzelner Staaten und Regionen gehört zu den Grundgesetzen der kapitalistischen Ökonomie, ist also systembedingt.

Recht haben die eingangs erwähnten französischen Autoren auch mit er Feststellung, dass die "verallgemeinerte Sparzwangpolitik", die insbesondere von der deutschen Kanzlerin Merkel durchgesetzt wurde, die betroffenen Staaten immer tiefer in die Rezession und damit in die Krise gedrängt hat.

Mittlerweile wird selbst in den oberen Rängen der EU immer klarer, dass mit diesen Spar- und Privatisierungskonzepten die Wirtschaft der betroffenen Staaten buchstäblich kaputtgespart wird und die Euro-Krise damit tatsächlich nicht zu bewältigen ist.

Nach Angaben des Statistischen Dienstes der EU sind derzeit in den EU-Staaten so viele Menschen arbeitslos wie noch nie seit der Einführung des Euro. Das ist absoluter Rekord. Jeder fünfte Jugendliche unter 25 Jahren in der EU ist ohne Job.

Angesichts der anhaltenden Krisenprobleme und der größer gewordenen Differenzen innerhalb der führenden EU-Kreise wurde in letzter Zeit von verschiedenen Seiten, auch von Linken, immer wieder ein baldiges Platzen der Währungsunion und ein Ende des Euro vorhergesagt. Dafür gibt es eine Reihe von guten Gründen, denn die bisherigen Krisenbewältigungsrezepte haben nicht funktioniert. Dennoch sollte man mit solchen Prognosen äußerst vorsichtig umgehen. Die strategische Haupt-Orientierung der EU-Oberen ist zweifellos darauf ausgerichtet, die Währungsunion und den Euro unter allen Umständen zu erhalten und zu sanieren. Auch Griechenland soll unbedingt in der Eurozone gehalten werden, wie Frau Merkel immer wieder erklärte. Warum halten die führenden EU-Kreise mit so großer Hartnäckigkeit an der Währungsunion und am Euro fest? Warum soll trotz einflussreicher Gegenstimmen auch Griechenland im Euro bleiben?

Das entscheidende Motiv dafür ist die Überlegung, dass andernfalls ein "Dominoeffekt" eintreten würde und ein Prozess des zunehmenden Zerbröckelns der EU als Ganzes die Folge wäre. Das aber würde die eigenständige weltpolitische Rolle, die sich die führenden EU-Kreise zum Ziel gesetzt haben, stark beschädigen und auf Dauer unmöglich machen. Sie haben aufgrund der Krise keineswegs auf die Ambition verzichtet, die EU sowohl ökonomisch wie politisch und militärisch zu einem eigenständigen "global player" zu machen. Gerade weil sie an diesem Ziel festhalten, versuchen sie, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um die Währungsunion zu erhalten und gleichzeitig die Kontroll- und Steuerungsmöglichkeiten der EU gegenüber den Mitgliedsstaaten weiter auszubauen.

Der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) hat im September 2011 in einem Thesenpapier betont, dass die deutsche Industrie "größtes Interesse am Erhalt des Euro sowie am Fortbestand und der Weiterentwicklung der Europäischen Union" hat. Die Schuldenkrise müsse als "Chance" begriffen werden, jetzt "langfristig notwendige Weichenstellungen endlich anzupacken".

Damit hat der BDI die strategischen Interessen der führenden Kapitalkreise Deutschlands genau beschrieben. Dem entsprechend werden unter deutscher Führung in der EU schon seit einiger Zeit enorme Anstrengungen unternommen, um die "notwendigen Weichenstellungen" in die Praxis umzusetzen.

Der im März abgeschlossene sogenannte Fiskalpakt war da nur der jüngste Schritt in diese Richtung. Mit ihm wurden alle teilnehmenden EU-Staaten verpflichtet, eine "Schuldenbremse" nach deutschem Vorbild einzuführen und künftig nur noch ausgeglichene Haushalte zu verabschieden. Bereits bei einem strukturellen Defizit von 0,5 Prozent soll ein automatischer Korrekturmechanismus greifen, der von den nationalen Parlamenten nicht aufgehalten werden kann.

Aber der Fiskalpakt war nur einer von mehreren Bausteinen. Zuvor war im letzten Jahr das sogenannte "Europäischen Semester" eingeführt worden, das in diesem Frühjahr zum zweiten Mal praktiziert wird. Mit ihm werden die EU-Staaten verpflichtet, ihre jährlichen Haushaltspläne, bevor sie dem eigenen nationalen Parlament vorgelegt werden, bei der EU-Kommission zur Kontrolle und Begutachtung vorzulegen.

Eng damit verknüpft ist der "Euro-Plus-Pakt", mit dem die Mitgliedsstaaten verpflichtet wurden, jedes Jahr "Reformpläne" zur "Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit" bei der EU-Kommission vorzulegen.

Schließlich gibt es seit dem letzten Herbst den sogenannten "six-pack" mit sechs neuen EU-Verordnungen, die die "Durchgriffsrechte" der EU- und Euro-Zentralinstanzen gegenüber den Mitgliedsstaaten verstärkt haben.

Zusammengefasst lässt sich sagen, dass die Mitgliedsstaaten damit erheblich schärfer als bisher an die Kandare genommen und einer stärkeren wirtschaftspolitischen Steuerung durch die EU bzw. Euro-Zentralen unterworfen werden. Unter der Bezeichnung "europäische Wirtschaftsregierung" erreichen die Machtbefugnisse der EU und Euro-Zentrale gegenüber den Mitgliedsstaaten eine neue Qualität. Damit bestätigt sich, was die DKP 2006 in ihrem Parteiprogramm festgestellt hat, nämlich dass die wirtschaftliche und politische Dynamik die EU dazu drängen, "sich den Kern eines supranationalen Staatsapparats zu verschaffen".

Das Ziel aller dieser Maßnahmen ist aber nicht allein die "Rettung des Euro" und die Sanierung der "Schuldenstaaten". Es geht vielmehr darum, den Schuldenabbau in eine ganz bestimmte Richtung zu lenken. Abbau der Staatsschulden - das wäre ja auch über eine höhere Besteuerung der Reichen und vor allem der riesigen Profite der Finanzkonzerne und anderer Großunternehmen möglich. Doch der EU-erzwungene Schuldenabbau geht genau in die entgegengesetzte Richtung.

Es geht darum, in der gesamten EU, nicht nur in den Schuldenstaaten, sondern in allen EU-Staaten eine Wirtschafts-, Haushalts- und Sozialpolitik durchzusetzen, die noch schärfer als bisher an den neoliberalen Wirtschaftsdoktrinen orientiert ist. Es geht um die Abwälzung der Krisenlasten auf die große Mehrheit der Bevölkerung in allen EU-Staaten. Und damit um eine weitere grundsätzliche Veränderung der Verteilungsrelationen des produzierten Reichtums zugunsten des Kapitals und zu ungunsten der abhängig Beschäftigten. Also um das Herabdrücken des Preises der Ware Arbeitskraft in allen EU-Staaten auf ein weitaus niedrigeres Niveau als bisher.

In letzter Zeit ist auch von Merke! und anderen führenden EU-Politikern immer häufiger zu hören, dass Schuldenabbau allein nicht ausreiche. Es müsse auch für mehr Wirtschaftswachstum und eine "Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit" durch "strukturelle Reformen" in den EU-Staaten gesorgt werden. Was damit gemeint ist, muss man sich genau ansehen.

Unter anderem wird ein von der EU-Zentrale organisierter ständiger Vergleich der Lohnstückkosten zwischen den einzelnen EU-Staaten befürwortet. Das heißt, EU-weit soll ständiger Druck auf die Löhne gemacht werden durch Hinweise auf das niedrigere Lohnniveau in den Nachbarstaaten oder anderen Teilen der Welt.

Zu den empfohlenen "strukturellen Reformen" gehört neben dem Abbau des Kündigungsschutzes auch die Überprüfung der geltenden "Lohnfindungsmechanismen", was nur ein anderes Wort für das heutige System von Tarifverträgen ist. In allen EU-Staaten soll damit eine grundsätzliche Korrektur des bisherigen Tarifvertragsrechts in Richtung "Flexibilisierung" der Tarifverträge durch die allgemeine Einführung von betrieblichen Öffnungsklauseln durchgesetzt werden. Immer wieder als Richtlinien genannt werden in den EU-Texten ferner die generelle Erhöhung der Altersgrenzen für den Rentenbezug, die Überprüfung der "finanziellen Tragfähigkeit" des Gesundheitswesens, natürlich mit dem Ziel der weiteren Kostensenkung, die Reduzierung von Leistungen an Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger u.a.m.

Mit dem Ausbau der EU-Kompetenzen auf wirtschafts-, finanz- und zunehmend auch auf sozialpolitischem Gebiet verbunden ist die weitere Aushöhlung und Einschränkung der nationalen Souveränitätsrechte und damit ein Abbau der Demokratie. Das Haushaltsrecht der nationalen Parlamente, das Kernstück des bürgerlichen Parlamentarismus wird ausgehebelt, weil die nationalen Parlamente nur noch Haushalte beschließen können, die zuvor von der EU kontrolliert und genehmigt worden sind.

Auch die Entsendung von EU-Sparkommissaren in einzelne Staaten mit Kontroll- und Entscheidungsvollmacht gegenüber den jeweiligen nationalen Regierungen gehört zu den Überlegungen und Vorhaben der EU-Zentrale. Am Beispiel Griechenland und Italien war zu besichtigen, wie die führenden EU-Kreise sogar die Ablösung ganzer Regierungen und deren Ersetzung durch ihnen gefälligere Regierungschefs und Regierungskoalitionen betrieben haben.

Zu den Umbaumaßnahmen im Namen der Krisenbewältigung gehört auch die stärkere Unterteilung der EU in zwei unterschiedlich eng integrierte Gruppen: das mächtige "Kerneuropa" mit Deutschland und Frankreich als "hartem Kern", und die seinen Interessen untergeordnete Peripherie. Die Euro-Zone bekommt mit einem eigenen Präsidenten und regelmäßigen eigenen Spitzentreffen neben den bisherigen EU-Strukturen eine eigenständige Beschlussstruktur und damit ein stärkeres Eigenleben als EU-Führungszentrum. Zugleich verfestigt sich damit natürlich auch die dominante Stellung Deutschlands innerhalb der EU.

Nun kann man natürlich sagen, dass alle diese Maßnahmen letztlich nicht in der Lage sein werden, die systembedingten kapitalistischen Widersprüche, die der Euro-Krise zugrunde liegen, zu bewältigen. Das stimmt. Trotzdem wäre es leichtfertig, sich darauf einzustellen, dass der Euro und die Währungsunion oder die EU als Ganzes über kurz oder lang gewissermaßen von selbst zusammenbrechen werden. Bei aller grundsätzlichen Unlösbarkeit der Widersprüche im Rahmen des Kapitalismus sollte die Möglichkeit und vor allem die politische Entschlossenheit der Herrschenden, die Krisenprobleme wenigstens zeitweise wieder einigermaßen in den Griff zu bekommen, nicht unterschätzt werden.

Es ist auch zu bedenken, dass es nicht nur Krisenverlierer, sondern auch -gewinner gibt. Etwa die Banken, Finanzkonzerne und Hedgefonds haben gerade in und mit der Krise gute Geschäfte gemacht. Für diese Kreise ist die "Überwindung der Krise" also gar nicht so dringend.

Die entscheidende Frage bleibt deshalb weiterhin, wie lange es den Herrschenden noch gelingen kann, die Lasten der Krise trotz aller gewachsenen Gegenwehr letztlich doch auf die Bevölkerung abzuwälzen. Wie lange lässt sich der Ausbruch von sozialen und politischen Konflikten in Europa, die die Macht des Kapitals und seiner Regierungen tatsächlich bedrohen könnten, noch verhindern?

Der Widerstand ist europaweit in der letzten Zeit zweifellos erheblich gewachsen. Davon zeugen die großen Kampfaktionen in Griechenland, die wiederholten Generalstreiks in Portugal, Spanien, Belgien und viele tausend kleinere Widerstandsaktionen in anderen Staaten. Auch die Wahlergebnisse in Griechenland und Frankreich sind Ausdruck davon. Aber dennoch sind mit diesen Widerstandsaktionen durchschlagende Erfolge bisher noch nirgendwo erreicht worden Von dem Punkt, dass die Eurozone unter dem Druck von sozialen Revolten gegen das Joch des Sparzwangs implodiert, wie die eingangs erwähnten Finanzexperten befürchteten, sind wir offensichtlich noch ein ganzes Stück entfernt. Trotz aller den Völkern aufgebürdeten "Opfer" herrscht neben dem Zorn darüber gleichzeitig noch die Tendenz, sich mit den abgepressten Krisenopfern letztlich abzufinden. Nicht zuletzt auch deshalb, weil viele unzufriedene Menschen immer noch glauben, dass die Vorstellungen der Linken von einer Alternative zum gegenwärtigen Kurs nicht realistisch und nicht durchsetzbar seien. Das verweist uns darauf, dass nicht nur die objektive Verschärfung der sozialen Gegensätze, sondern vor allem die Entwicklung des subjektiven Faktors, des Kampfwillens und des Bewusstseins der Betroffenen entscheidend ist.

Wie also können die Kräfte formiert werden, die dieser Situation ein Ende machen und tatsächlich eine andere Entwicklungsrichtung in EU-Europa durchsetzen können? Dazu gehört auch die Frage, welche Alternative zur gegenwärtigen EU-Politik vorzuschlagen ist.

Häufig anzutreffen ist die Vorstellung, dass ein Austritt aus der EU und die Wiedereinführung nationaler Währungen ein Ausweg wäre. Dies ist jedoch kein geeigneter und auch kein realistischer Ausweg. In manchen Peripheriestaaten der EU mag das auch von progressiven Kräften anders gesehen werden. Aber unter den gegebenen Kräfteverhältnissen in Deutschland und in den anderen Kernstaaten der EU ist die Vorstellung von einer Überwindung der Euro-Krise durch die Rückkehr zu den früheren Nationalstaaten und zur nationalen Währungshoheit nicht nur unrealistisch, sondern auch falsch und der politischen Richtung nach reaktionär. Denn weshalb sollte die Rückkehr zur nationalen Währungshoheit ein Fortschritt sein, wenn es sich nur um eine Rückkehr zu den alten imperialistischen Nationalstaaten handelt, die es vor der Einführung des Euro gab? Damit kämen wir doch nur vom Regen in die Traufe.

Natürlich lässt sich theoretisch auch eine Situation denken, in der massive Volksbewegungen zu einer tiefgehenden Veränderung der politischen Kräfteverhältnisse geführt haben, sodass es sich dann nicht mehr um eine Rückkehr zu den alten Verhältnissen handelt, sondern eine echte politische Wende durchgesetzt werden kann, mit der die Macht des Finanzkapitals eingeschränkt und der Weg zu einer progressiven Entwicklung geöffnet werden kann. Aber eine solche Situation zeichnet sich derzeit leider nirgendwo ab - zumindest nicht in den EU-Kernstaaten.

Und würde eine solche Situation entstehen, wäre es in dem heute gegebenen wirtschaftlichen und politischen Kontext relativ unwahrscheinlich, dass sich dies isoliert nur in einem einzigen EU-Staat vollzieht. Wahrscheinlicher und auf jeden Fall erfolgversprechender wäre es, wenn sich im Verlauf großer kämpferischer Auseinandersetzungen in mehreren EU-Staaten parallel ein solcher politischer Umschwung ergäbe. Aber wenn dies der Fall wäre, würde für die Länder, in denen eine solche Entwicklung durchgesetzt werden kann, sofort wieder die Notwendigkeit entstehen, sich ebenfalls auf europäischer Ebene zusammenzuschließen und gewisse Strukturen zu schaffen, wie dies auch in Lateinamerika zu sehen war.

Aber derzeit stehen wir nicht an diesem Punkt, jedenfalls nicht in Deutschland und wohl auch nicht in Frankreich oder Spanien, auch nicht in Portugal oder Griechenland.

Deshalb geht es nach wie vor darum, den Kampf gegen die imperialistische EU-Politik auf allen Ebenen weiter zu entwickeln und für demokratische und soziale Reformen progressiven Inhalts zu kämpfen, und zwar sowohl auf der lokalen und regionalen wie auf der nationalstaatlichen und europäischen Ebene.

Die gegenwärtige Krise könnte dazu verführen, sich ganz auf die Propagierung der Erkenntnis zu konzentrieren, dass der Kapitalismus prinzipiell unfähig ist, die in ihm ausbrechenden Krisenprozesse zu bewältigen, und dass deshalb nur der Sozialismus der einzig richtige Ausweg ist. Dies wäre jedoch eine fehlerhafte Verengung unserer politischen Orientierung.

Gerade heute entstehen angesichts der Krisenerfahrungen, die die Menschen selbst machen, neue Möglichkeiten des Zusammenwirkens mit Menschen, die von marxistischen Vorstellungen, was die Zukunft angeht, vielleicht noch weit entfernt sind, die aber schon erkennen, dass Eingriffe in die Macht des Kapitals, vor allem der Banken und Finanzkonzerne erforderlich sind. Vom Sozialismus haben sie möglicherweise nur die falsche Vorstellung im Kopf, dass es sich um einen gescheiterten geschichtlichen Versuch handelt, der nicht wiederholt werden sollte. Damit dürfen sich Marxisten natürlich nicht abfinden. Aber in den Vordergrund muss doch das gemeinsame Interesse an jenen Forderungen gestellt werden, die Betroffene selbst für richtig halten und für deren Verwirklichung sie bereit sind, sich selbst zu engagieren. Also die Forderung nach einer anderen Politik, nach einer anderen Entwicklungsrichtung in Deutschland und in der EU, nach einem anderen, sozialen, ökologisch und friedensorientierten Europa.

Deshalb ist es gerade jetzt wichtig, an der strategischen Orientierung des DKP-Programms festzuhalten, die nicht allein den Gegensatz Kapitalismus - Sozialismus in den Vordergrund stellt, sondern Vorstellungen von einem Übergangsprozess entwickelt, mit denen letztlich der Weg zu einem neuen Anlauf zum Sozialismus geöffnet werden kann.

Die strategische Orientierung für die gegenwärtige Etappe heißt Kampf um die Durchsetzung einer Wende zu sozialem und demokratischem Fortschritt. In der Resolution des 19. Parteitags wurde gesagt: "Ein Politikwechsel ist nur möglich, wenn sich dafür Bündnisse, Allianzen verschiedener sozialer und gesellschaftlicher Kräfte, in denen die Arbeiterklasse die entscheidende Kraft sein muss, formieren". Dies ist gerade im Zeichen der Krise die richtige strategische Orientierung.



Georg Polikeit, Wuppertal, Journalist

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Quelle:
Marxistische Blätter, Heft 3-12, 50. Jahrgang, S. 18 - 22
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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. Juli 2012