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MARXISTISCHE BLÄTTER/514: Anwendung "Demokratischer Politikwissenschaft" auf den Begriff der Demokratie


Marxistische Blätter Heft 1-12

Zur Anwendung "Demokratischer Politikwissenschaft" auf den Begriff der Demokratie

von Jürgen Lloyd


Auszug aus dem Editorial zum Heftschwerpunkt:

Strategien des deutschen Kapitals
Zur Erinnerung an Reinhard Opitz

Am 3. April 1986 verstarb der marxistische Sozialwissenschaftler und Faschismusforscher Reinhard Opitz. Die Marx-Engels-Stiftung und die VVN - Bund der Antifaschisten NRW haben Opitz' 25. Todestag zum Anlass genommen, in einer gemeinsamen Konferenz im November 2011 an sein Werk zu erinnern. [...]

Das Spektrum der von Opitz behandelten Themen umfasst die Themen der Linken: Demokratie, Frieden, Imperialismus, Faschismus. Sein Ansatz, den er selbstbewusst als "Demokratische Politikwissenschaft" bezeichnete, beruht darauf, den Inhalt der jeweiligen spezifischen Klasseninteressen erkennbar zu machen, die sich in politischen Erscheinungen ausdrücken. Anstatt sich mit der Unbestimmtheit einer "relativen Unabhängigkeit der Politik von der ökonomischen Basis" abzufinden, forderte Opitz, dieses Verhältnis exakt in seiner je konkreten Bestimmtheit zu verstehen. [...]

Auch 25 Jahre nach Opitz' Tod bleibt die Beschäftigung mit seinem Werk und die Aneignung seiner "Demokratischen Politikwissenschaft" ein wissenschaftlicher und politischer Schatz, der zu großen Teilen für die heutige marxistische Linke neu oder auch erneut zu heben ist. Für den in Kurt Heilers Referat dargestellten Anspruch von Opitz, seine theoretische Arbeit zum Werkzeug konkreter Politikentwicklung zu machen, gibt es angesichts staatlich geförderter neofaschistischer Terrorgruppen aktuellen Anlass.


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Zur Anwendung "Demokratischer Politikwissenschaft" auf den Begriff der Demokratie

von Jürgen Lloyd


Der Anspruch Demokratischer Politikwissenschaft

Der Titel unserer Konferenz(1) entstammt als Zitat der Vorbemerkung, die Reinhard Opitz zur Veröffentlichung seiner Dissertation über den Sozialliberalismus im Pahl-Rugenstein-Verlag 1973 geschrieben hat. Vollständig lautet es wie folgt:

"Demokratische Politikwissenschaft - oder einfach, was dasselbe ist, exakte - unterscheidet sich von bürgerlich-apologetischer durch eben dieses inhaltliche Begreifen der politischen Erscheinungen, d. h. durch das Wahrnehmen der in ihnen sich zur Geltung bringenden Klasseninteressen, die entsprechend der vom ökonomisch-technischen Fortschritt jeweils bewirkten realen Gesellschaftsdifferenzierung geschichtsbewegende Kraft gewinnen und in Gestalt politischer Interessenrichtungen den Kampf um das Recht der Gesellschaftsgestaltung aufnehmen."(2) 

In diesem einen Satz, der allerdings - wie bei Opitz üblich - nicht durch Kürze auffällt, ist m. E. die ganze wissenschaftliche Programmatik des marxistischen Sozialwissenschaftlers enthalten: Opitz spricht von Klasseninteressen, die sich in politischen Erscheinungen zur Geltung bringen. Er sagt, diese Klasseninteressen gewinnen geschichtsbewegende Kraft; und zwar entsprechend der Gesellschaftsdifferenzierung, die wiederum durch den Ökonomisch-technischen Fortschritt bewirkt wird. Opitz' Forderung lautet, die Entwicklung politischer Erscheinungen auf Basis dieses Zusammenhangs wahrzunehmen. Die politischen Erscheinungen damit - wie Opitz schreibt - inhaltlich zu begreifen, das ist es schließlich, was nach Opitz Politikwissenschaft als demokratische und als exakte auszeichnet.

In Vorbereitung dieser Konferenz haben wir über den Titel diskutiert. "Demokratische Politikwissenschaft" so wurde argumentiert, wäre nicht geeignet, Neugier auf eine interessante Konferenz zu wecken, weil Demokratie zum Allerweltsbegriff geworden und von jedermann mit hoher Beliebigkeit Verwendet wird. Wir sind schließlich doch bei diesem Titel geblieben. Aber der Einwurf weist darauf hin, dass es mehr als notwendig ist, Opitz' Anspruch, die politischen Erscheinungen inhaltlich zu begreifen, auch auf den Begriff der Demokratie selber anzuwenden. Notwendig ist das zumindest dann, wenn wir weder den Begriff Demokratie für unser eigenes Politik-Verstehen aufgeben wollen noch uns selber auf die Ebene theoretischer (und politischer) Beliebigkeit bewegen wollen. Lasst uns also versuchen, exakt zu werden. Meine These ist es, dass wir dabei gar nicht unbedingt Neues sehen, aber dass wir genauer und deutlicher sehen. Beim hochauflösenden HD-Fernseher sieht man ja auch keine anderen Bilder, aber man kann sie mit einer größeren Detailschärfe erkennen. Dabei kann es dann allerdings aber auch vorkommen, dass die neu sichtbar gewordenen Details zu neuen Ansichten oder Einschätzungen führen. Das wäre dann sicher zu diskutieren.


Der bürgerliche Freiheits- und Gleichheitsbegriff

Ich möchte den Versuch, Opitz' Programm einer demokratischen - sprich exakten - Politikwissenschaft auf den Begriff Demokratie selber anzuwenden, beginnen mit der Beschreibung des Freiheits- und Gleichheitsbegriffs in der bürgerlichen Gesellschaft. Dort existieren zu diesem Begriffspaar zwei unterschiedliche inhaltliche Bestimmungen. Und Opitz zeigt, dass diese beiden Inhaltsbestimmungen, der bürgerliche und der proletarische Freiheits- und Gleichheitsbegriff, notwendig als unterschiedliche in der bürgerlichen Gesellschaft existieren müssen.

Fangen wir mit der bürgerlichen Inhaltsbestimmung an: Die kapitalistische Klasse konnte sich als solche nur konstituieren, indem sie ihr Existenzprinzip zum herrschenden Prinzip machte. Das Existenzprinzip des Kapitalismus besteht im privaten Besitz und dem Recht, diesen Besitz profitabel zu verwerten. Die reale Existenzform dieses Prinzips ist der Markt. Auf dem Markt realisiert sich das im privaten Besitz enthaltene gesellschaftliche Vermögen in der Form des Warentauschs, der dort frei von allen nicht im Tauschwert der Waren enthaltenen Einflüssen vollzogen wird. Für die Bourgeoisie bedeutet Freiheit deshalb einzig und allein die individuelle Wirtschaftsfreiheit. Diese Freiheit des Besitzes musste gegen die feudalen Privilegien durchgesetzt werden. Nicht mehr die an die Person gebundene Macht des Feudalismus, sondern alleine die im Konkurrenzkampf des Marktes sich durchsetzende wirtschaftliche Macht durfte Gültigkeit und Wirksamkeit beanspruchen. Marx und Engels haben diesen Prozess im Kommunistischen Manifest beschrieben und dabei die "höchst revolutionäre Rolle" der Bourgeoisie betont:

"Die Bourgeoisie, wo sie zur Herrschaft gekommen, hat alle feudalen, patriarchalischen, idyllischen Verhältnisse zerstört. Sie hat die buntscheckigen Feudalbande, die den Menschen an seinen natürlichen Vorgesetzten knüpften, unbarmherzig zerrissen und kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übriggelassen als das nackte Interesse, als die gefühllose 'bare Zahlung'. Sie hat die heiligen Schauer der frommen Schwärmerei, der ritterlichen Begeisterung, der spießbürgerlichen Wehmut in dem eiskalten Wasser egoistischer Berechnung ertränkt. Sie hat die persönliche Würde in den Tauschwert aufgelöst und an die Stelle der zahllosen verbrieften und wohlerworbenen Freiheiten die eine gewissenlose Handelsfreiheit gesetzt. Sie hat, mit einem Wort, an die Stelle der mit religiösen und politischen Illusionen verhüllten Ausbeutung die offene, unverschämte, direkte, dürre Ausbeutung gesetzt." (3) 

Ebenso, wie die bürgerliche Inhaltsbestimmung des Freiheitsbegriffs in der Geltendmachung des kapitalistischen Besitz- und Profitprinzips besteht, entspringt auch der bürgerliche Gleichheitsbegriff der Durchsetzung der eigenen Existenzbedingungen der kapitalistischen Klasse. Das Prinzip des Marktes beruht auf der ausschließlichen Gültigkeit der dort frei ausgehandelten, im Prozess des Warentauschs vollzogenen, Gleichsetzungen von Waren. Der Markt ist der Ort, wo der Begriff der Gleichheit in seiner bürgerlichen Bedeutung herrscht. Die Gleichsetzung der auf dem Markt ausgetauschten Waren konstituiert deren - aus Sicht des Kapitals - wesensmäßige Gleichheit. Die Forderung nach der Gleichheit der Menschen bedeutet deshalb im Verständnis der Bourgeoisie nichts anderes als die Ausdehnung des Warencharakters auf die Menschen. Und in dieser Bedeutung ist die Gleichheit aller Menschen keineswegs ein leeres Versprechen der Bourgeoisie, sondern ganz im Gegenteil eine elementare Existenzbedingung des Kapitalismus.

Der bürgerliche Begriff von Freiheit und Gleichheit unterscheidet sich demnach von dem, was wir gemeinhin mit einem gewissen Pathos als demokratisch bezeichnen würden. (Was diesen Begriff ausmacht - dazu später.) Er unterscheidet sich aber nicht dadurch, dass er sich lediglich auf einen beschränkten Kreis von Menschen bezieht. Jegliche solche Beschränkungen aufzuheben zugunsten der alleinigen Gültigkeit der "gefühllosen baren Zahlung", das war das sich mit der Bourgeoisie durchsetzende Prinzip des Kapitalismus. Der Haken des bürgerlichen Begriffs von Freiheit und Gleichheit liegt nicht in seiner formalen Beschränktheit, sondern in seinem Inhalt, den er auf Grundlage des kapitalistischen Besitz- und Profitprinzips nur haben konnte. Dieser Inhalt war jedoch selbst mit der Sklaverei vereinbar, sofern diese sich nicht gegen die Allgemeingültigkeit der Marktgesetze wendet. Das zeigt sich in der realen Koexistenz von Sklaverei und Liberalismus, auf die Domenico Losurdo in seiner "Gegengeschichte des Liberalismus"(4) hingewiesen hat. Hier wird die Diskrepanz zu unserem Demokratieverständnis spürbar, welches also offensichtlich (denn sonst würden wir die Diskrepanz ja gar nicht wahrnehmen) eben nicht vollständig durch die Bourgeoisie als herrschende Klasse besetzt ist. Die Diskrepanz zeigt sich theoretisch beispielsweise auch bei den Schriften des Vordenkers des badischen Liberalismus, des Historikers und Politikers Carl von Rotteck, der 1840 formulierte:

"Zwar unbedingt soll die rechtliche Möglichkeit der Sklaverei nicht geleugnet werden. Durch Rechtsverwirkung vorerst oder zur Wiedervergeltung mag Einer in den Stand des Sklaven herabsinken. Wer etwa Andere ins Joch gespannt hat, den mag man ohne Unbild hinwieder in dasselbe spannen. Auch andere Missethäter mögen, je nach Beschaffenheit ihrer Verbrechen, mehr oder minder vollständig zu Knechten der Strafe oder zu Knechten der beleidigten Gesellschaft werden. Auch bloß bürgerliche Schuld, zumal muthwillig contrahierte, macht gerechtermaßen den Zahlungsunfähigen (ob auch die Humanität hier eine Milderung gebiete) zum Knecht der Gläubiger Und endlich ist selbst eine vertragsmäßige Knechtschaft bis zu einem gewissen Punkt als rechtgiltig denkbar. Aber alle diese Titel haben Bezug blos auf einzelne und bestimmte Personen, und nimmer ist aus ihnen eine Rechtfertigung für unmittelbar gesetzliche oder angeborene Sklaverei zu entnehmen."(5) 


Der proletarische Freiheits- und Gleichheitsbegriff

Wenn sich die bürgerliche Inhaltsbestimmung von Freiheit und Gleichheit als Geltendmachung des kapitalistischen Profitprinzips erweist und wenn die bürgerliche Inhaltsbestimmung in einer erkennbaren Diskrepanz zu bei uns mit Demokratie verbundenen Vorstellungen steht, dann ist es naheliegend, nach dem proletarischen Freiheits- und Gleichheitsbegriff zu fragen, den Opitz dem bürgerlichen entgegenstellt. Es wird darüber hinaus auch interessant, zu Verstehen, woher wir denn in der Lage sind, die gerade genannte Diskrepanz zwischen der bürgerlichen Inhaltsbestimmung und unseren Vorstellungen festzustellen. Gilt hier etwa nicht mehr, dass die Ideen der Herrschenden (und das ist die Bourgeoisie ja ohne Zweifel immer noch) auch die herrschenden Ideen sind?

Beides ist mit Opitz auf Basis der gesellschaftlichen Praxis in der kapitalistischen Klassengesellschaft zu erklären. Das Proletariat ist Träger eines anderen Begriffs von Freiheit und Gleichheit und zwar gar nicht unbedingt aus einer anderen - nämlich eher solidarischen statt auf Konkurrenz ausgerichteten - Lebensweise, sondern aufgrund seines besonderen gesellschaftlichen Charakters: Wer arbeitsteilig mit anderen gemeinsam den gesellschaftlichen Reichtum produziert, ist objektiv (allerdings keineswegs automatisch auch subjektiv) in der Lage, sich die Prinzipien dieser seiner gesellschaftlichen Tätigkeit als allgemeingültige Prinzipien der ganzen Gesellschaft zu denken. Er bedarf, um dieses Prinzip Verallgemeinert zu denken, weder Konkurrenz noch Profit, sondern einer Gesellschaft der Freien und Gleichen. Das ist es, was Opitz (allerdings natürlich nicht nur er alleine) als proletarisches Prinzip bezeichnet, welches sich im proletarischen Freiheits- und Gleichheitsbegriff und als demokratisches Prinzip zur Geltung bringt. Hierzu nochmal ein längeres Zitat:

"Der bürgerliche Parlamentsstaat ist ein Produkt des Konkurrenzprinzips, nicht des demokratischen Prinzips. Dies sind, so sehr die bürgerliche Ideologie beides zu ein und demselben verschmelzen möchte, zwei grundverschiedene, ja wesensmäßig konträre Dinge; denn Demokratie ist der Weg zur Gleichheit der Menschen, die Konkurrenz dagegen ist der Weg zur Ungleichheit der Menschen. Die Konkurrenz geht aus von einer fiktiven Start- und Chancengleichheit der Menschen in der Absicht, am Ende mit Wollust denjenigen Wenigen, die es geschafft haben, am meisten für sich zusammenzuraffen, die Siegeskrone und die Macht über alle weniger 'erfolgreichen' Menschen mit dem geschmacklosen Zusatz auszuhändigen, dass ihnen diese Macht aufgrund ihrer persönlichen Tüchtigkeit oder Leistung zukomme.

Die Demokratie geht umgekehrt von der realen Start- und Chancengleichheit der Menschen aus: sie fragt bei jedem Einzelnen, was im Rahmen der gesamtgesellschaftlichen Möglichkeiten, die aufzuteilen sie bereit ist, getan werden könne, um seinen Abstand zu den aufgrund glücklicherer individueller Vorbedingungen schon vorn an der Spitze Liegenden im Interesse der ganzen Gesellschaft und so auch seines eigenen zu verringern. Sie verfolgt dabei das Ziel, alle Menschen oder doch möglichst viele von ihnen, wo immer sie nur entsprechende Anlagen dafür mitbringen oder in sich freilegen lassen, auf jenen Stand zu heben, durch den oder in dem sie nicht nur juristisch, sondern auch ihrem geistigen Vermögen, ihrem individuellen Selbstzutrauen und ihrer gesellschaftlichen Wertschätzung nach tatsächlich Gleiche - und zwar nicht unbedingt gleiche Verdiener; worauf jetzt gar kein Prestige mehr hängt, sondern gleichgewichtige und zum verantwortungsvollen, d. h. gesamtgesellschaftlich nützlichen Umgang mit ihrer Freiheit gleich befähigte Bürger - werden. Auch die Demokratie ist gleichwohl so gut wie das Gegenteil von Gleichmacherei. Auch sie verteilt Prämien für die Tüchtigeren und kennt sogar Wettbewerb, also, wenn man so will, Konkurrenz. Unterschiedlich ist nun dass der Maßstab, an dem sie die Tüchtigkeit misst, nicht die Fähigkeit zum persönlichen Profiterwerb, sondern zu optimal nutzbringender Betätigung bei der Realisation der objektiven Interessen der ganzen Gesellschaft ist und der Wettbewerb gleichfalls darauf angelegt ist, aus dem Menschen Fähigkeiten solcher Art herauszulocken; das Interesse der Gesellschaft ist also nicht darauf gerichtet, Einzelnen ein Machtprivileg über die anderen zu verschaffen, über dessen Verteilung der Wettbewerb entscheidet, sondern umgekehrt darauf durch diesen Wettbewerb möglichst viele zu optimalen persönlichen Anstrengungen bei der Realisation der Voraussetzungen der Gleichheit aller als des Inbegriffs ihrer gesamten objektiven Interessen zu stimulieren.

Es bedarf keiner näheren Erläuterung, dass dieses auf Gleichheit gerichtete demokratische Prinzip nur das Prinzip des Proletariats sein kann, weil nur der proletarischen Mehrheit die hier beschriebene Gleichheit vorenthalten wird. Nur das Proletariat als eigentumslose Klasse ist fähig, die Gleichheit aller Menschen ohne das geringste Frösteln zu denken und sie sich als die reale Freiheit aller Menschen vorzustellen."(6) 

Der proletarische Begriff von Freiheit versteht diese als Freiheit Aller von jeglicher fremden Interessenherrschaft, die ihnen gegen ihre objektiven Interessen aufgenötigt wird. Und nur das Proletariat ist in der Lage, dies so zu verstehen und dabei sich im Einklang mit seiner Position in der Gesellschaft zu befinden. Nur das Proletariat ist deshalb in der Lage, das zutreffende Bewusstsein aller von ihren eigenen Interessen, als Prinzip der Gesellschaft anzustreben. Und genau dies ist die proletarische Inhaltsbestimmung des demokratischen Prinzips.


Das Verhältnis der bürgerlichen und proletarischen Begriffe

Wie erklärt es sich aber, dass der bürgerliche Begriff von Freiheit und Gleichheit offensichtlich nicht der unangefochten herrschende Begriff in der kapitalistischen Gesellschaft ist? Wie erklärt es sich, dass wir - wie oben beschrieben - in der Lage sind, eine Diskrepanz zwischen der bürgerlichen Inhaltsbestimmung von Freiheit und Gleichheit und unseren Vorstellungen von Demokratie festzustellen? Worauf beruht also die gebrochene Hegemonie der Bourgeoisie in diesem Punkt?

Der Inhalt, den die Bourgeoisie dem Freiheits- und Gleichheitsbegriff gibt, ist - das betont Opitz - nicht nur unterschieden von dem demokratischen Inhalt, den diese Begriffe für das Proletariat haben; mehr als das: diese beiden Inhaltsbestimmungen stehen im direkten Gegensatz zueinander. Trotzdem existieren beide Begriffsbestimmungen nicht unabhängig voneinander, sondern stehen miteinander in einer Beziehung. Doch - und hier kommt der hochauflösende Blick von Opitz' "Demokratischer Politikwissenschaft" zur Wirkung - die Beziehung vom bürgerlichen zum proletarischen Begriff besteht nicht in der Begriffswelt; nicht in der Ideengeschichte. Die Beziehung besteht auf der, den beiden Begriffswelten zugrunde liegenden Ebene der Klasseninteressen selber, besteht letztlich darin, dass die bürgerliche Kapitalistenklasse nicht existieren kann, ohne zugleich auch das Proletariat als Klasse hervorzubringen. Die Sphäre, in der die Bezogenheit des proletarischen Begriffs zu seinem bürgerlichen Gegenpart sich realisiert, ist nicht die Sphäre der Begriffswelt und der ideengeschichte. Deswegen wäre es aber auch verfehlt, den proletarischen Begriff lediglich als Übernahme und Erweiterung des bürgerlichen Begriffs anzusehen. Die Demokratische Politikwissenschaft gibt eine materialistische Erklärung des Verhältnisses von bürgerlichem und proletarischen Freiheits- und Gleichheitsbegriff. Das Verhältnis besteht darin, dass das Kapital, indem es sein eigenes Prinzip durchsetzt, auch die Existenzbedingungen für das proletarische Prinzip schafft. Der Kapitalismus entwickelt die Produktivkräfte und erweitert den Bereich, innerhalb dessen die gemeinsame, arbeitsteilige Produktion des gesellschaftlichen Reichtums stattfindet, über die ganze Welt. Damit schafft die bürgerliche Klasse in der Realität des Kapitalismus die Basis für die Existenz des proletarischen Prinzips. Und auf diese Weise wird - so nennt Opitz das - der Kapitalismus zum "unfreiwilligen Paten der Demokratie"(7). Weil die Bourgeoisie diese Patenschaft aber nicht abschütteln kann, ohne ihr eigenes Prinzip zu widerrufen, ist sie letztlich immer in einer defensiven Position, sobald das Proletariat seine Inhaltsbestimmung von Freiheit und Gleichheit vorbringt. Die Bourgeoisie kann dagegen mit Verleumdungen angehen (die Geschichte des Antikommunismus legt davon Zeugnis ab), sie kann mit Einsatz ihres ganzen Arsenals ideologieproduzierender Apparate ablenken, umbiegen und verhetzen, aber die Bourgeoisie kann letztendlich nie inhaltlich gegen das proletarische, demokratische Prinzip antreten, das auf der Erkenntnis beruht, dass das Kapital nicht ohne die Arbeiterklasse existieren kann, aber das Proletariat sehr wohl ohne Kapitalistenklasse. Stattdessen ist die Bourgeoisie - und zwar im Rahmen eines Rückzugsgefechts - gezwungen, wo immer möglich, sich selber als Urheber und Verfechter der Demokratie auszugeben.

Auf diesem Weg hat sich die Bezeichnung Demokratie in den bürgerlichen, kapitalistischen Gesellschaften von einer anfangs durchaus unterschiedlichen Bewertung (in Deutschland z.B. wurde bis in die Weimarer Republik hinein von manchen Liberalen die Demokratie als Gefahr für den Liberalismus beschrieben) zu dem uneingeschränkt von allen Seiten auf die eigene Fahne geschriebenen Allerweltsbegriff gewandelt, der - ich habe auf die Diskussion um den Titel der Konferenz hingewiesen - sich vor allem durch Beliebigkeit auszeichnet. Die gebrochene Hegemonie der herrschenden bürgerlichen Klasse bei der Inhaltsbestimmung des Demokratiebegriffs beruht also auf der Dialektik des Klassenkampfes; beruht letztlich darauf, dass nur das Proletariat in der Lage ist, reale Demokratie zu verwirklichen und dass diese, den realen Klassenverhältnissen der bürgerlichen Gesellschaft geschuldete Bedingung auf die Begriffe auch der bürgerlichen Klasse einwirkt. Friedrich Engels hat in einem Brief an Kautsky für die Periode der Französischen Revolution beschrieben, wie sich die Bedingungen, unter denen die Durchsetzung von Zielen erfolgen, inhaltlich modifizierend auf die begriffliche Bestimmung dieser Ziele zurückwirken. Er schrieb:

"... dass von der Bastille an der Plebs alle Arbeit für sie (die Bourgeoisie, JL) tun musste, dass ohne sein Einschreiten ... die Bourgeoisie dem ancien régime jedesmal erlegen wäre, ... dass also nur diese Plebejer die Revolution durchführten; dass dies aber nicht ging, ohne dass diese Plebejer den revolutionären Forderungen der Bourgeoisie einen Sinn unterlegten, den sie nicht hatten, die Gleichheit und Brüderlichkeit zu extremen Konsequenzen poussierten, die den bürgerlichen Sinn dieser Stichworte total auf den Kopf stellten, weil dieser Sinn, aufs Extrem getrieben, eben in sein Gegenteil umschlug; dass diese plebejische Gleichheit und Brüderlichkeit ein reiner Traum sein musste zu einer Zeit, wo es sich darum handelte, das grade Gegenteil herzustellen, und dass wie immer - Ironie der Geschichte - diese plebejische Fassung der revolutionären Stichworte der mächtigste Hebel wurde, dieses Gegenteil - die bürgerliche Gleichheit - vor dem Gesetz - und Brüderlichkeit - in der Exploitation - durchzusetzen."(8) 


Fazit

Es ist eine verkürzte Sicht, dass Freiheit und Gleichheit für die Bourgeoisie lediglich formal gelten sollen, während die Arbeiterklasse diese Begriffe inhaltlich bestimmt sehen will. Die Trennlinie zwischen bürgerlicher und proletarischer Demokratie besteht nicht in der aufs Formale beschränkten Bestimmung auf der einen Seite und der, diese bürgerliche Form lediglich ergänzenden, inhaltlichen Bestimmung des Proletariats auf der anderen Seite. Sowohl die Bourgeoisie als auch das Proletariat haben ein je eigenes inhaltliches Verständnis dieser Begriffe. Und diese Begriffe sind nicht nur unterschiedlich, sondern gegensätzlich. Als politische Positionsbestimmungen schließen sie sich aus. Trotzdem existiert eine Verbindung zwischen beiden. Doch diese Verbindung existiert nicht im Verhältnis von Form und Inhalt, sondern in der realen Dialektik der bürgerlichen, kapitalistischen Gesellschaft. Weil der Kapitalismus nicht Kapitalismus sein kann, ohne das Proletariat hervorzubringen; weil er nicht existieren kann, ohne "sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse fortwährend zu revolutionieren" (Marx/Engels: Manifest), deshalb kann die Bourgeoisie ihr eigenes inhaltliches Prinzip nur durchsetzen, indem es dabei auch dessen widersprüchliche Existenzbedingungen anerkennt. Und zur Existenzbedingung des kapitalistischen Prinzips gehört mit der Existenz des Proletariats auch das von diesem vertretene demokratische Prinzip.

So betrachtet - und hier mag die hochauflösende Detailschärfe, die Opitz' Arbeiten auszeichnen, einen Unterschied machen - so betrachtet bleibt es dabei, dass der Sozialismus allen Grund hat, die demokratischen Errungenschaften der bürgerlichen Gesellschaft als Erbe anzunehmen - aber das anzutretende Erbe ist eben dem Proletariat nicht vom Klassengegner vermacht worden, sondern der bewahrenswerte demokratische Gehalt war auch im Kapitalismus schon von Beginn an im eigenen, proletarischen "Familienbesitz".


Jürgen Lloyd, Krefeld, IT-Berater, Mitglied des Vorstandes der Marx-Engels-Stiftung


Anmerkungen:

(1) "Demokratische Politikwissenschaft - Konferenz zum marxistischen Sozialwissenschaftler und Faschismusforscher Reinhard Opitz (1934-1986)", Köln, 19./20. November 2011
(2) Reinhard Opitz: Der deutsche Sozialliberalismus 1917-1933, Köln 1973, S. 8
(3) Karl Marx/Friedrich Engels: Manifest der Kommunistischen Partei, MEW Bd.4, S. 464 f.
(4) Domenico Losurdo: Freiheit als Privileg - Eine Gegengeschichte des Liberalismus, Köln 2010
(5) Carl von Rotteck: Lehrbuch des natürlichen Privatrechts, Stuttgart 1840, S. 148
(6) Reinhard Opitz: Liberalismus - Faschismus - Integration, Edition in drei Bänden, Bd. 1, S. 165 ff
(7) Ebenda, S. 159
(8) Friedrich Engels an Karl Kautsky, 20.02.1889, MEW 37, S. 155


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Quelle:
Marxistische Blätter, Heft 1-12, 49. Jahrgang, S. 60-65
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veröffentlicht im Schattenblick zum 15. März 2012