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MARXISTISCHE BLÄTTER/478: Deutsch-Chinesische Gewerkschaftskonferenz in Oldenburg


Marxistische Blätter Heft 1-11

Das Grundrecht auf Streik
Deutsch-Chinesische Gewerkschaftskonferenz in Oldenburg

Von Lothar Geisler


Nicht nur in Deutschland wird - vor dem Hintergrund durchaus unterschiedlicher Interessenlagen - das "Erwachen einer neuen chinesischen Arbeitergeneration" beobachtet, "die bereit ist, ihre Interessen kollektiv wahrzunehmen." (R. Geffken) Die Streiks bei Foxconn, Hon Hai, Honda, Walmart oder auch Siemens hatten 2010 weltweit Schlagzeilen gemacht. Doch profunde Kenntnisse über die Arbeitsbedingungen, die Entwicklung dortiger Arbeitskonflikte, die Perspektiven der Gewerkschaften und die Entwicklung des chinesischen Rechtssystems sind insbesondere bei Gewerkschaftern - auch bei linken - hierzulande dünn gesät. Anliegen des Hamburger Arbeitsrechtlers Rolf Geffken ist seit Jahren, hier Abhilfe zu schaffen. "Ich habe schon an vielen Konferenzen über die Rechte von Arbeitnehmern teilgenommen. Dieses aber ist die erste Konferenz, die sich mit dem Thema 'China & die Gewerkschaften' befasst", so der chinesische Arbeitsexperte und Mitglied der chinesischen Staatsratskommission für das neue Arbeitsgesetz in China Prof. Chang Kai in seinem Beitrag für die erste deutsch-chinesische Konferenz zu Fragen von Arbeitskonflikten und Gewerkschaftsrechten in China. Eröffnet worden war die Konferenz von dem Leiter des Instituts für Arbeit - ICOLAIR, Dr. Rolf Geffken. In seiner Eröffnungsrede erklärte er: "Seit nun fast 30 Jahren sind deutsche Unternehmen in China als Investoren aktiv. Dementsprechend setzen sie sich schon seit vielen Jahren mit den Investitionsbedingungen in China, aber auch mit zahlreichen interkulturellen Fragen in der deutsch-chinesischen Kooperation auseinander. Auf der anderen Seite aber gibt es immer noch keinen Dialog mit den chinesischen Gewerkschaften oder auch über die chinesischen Gewerkschaften und mit chinesischen Arbeitnehmern. Die deutschen Gewerkschaften haben da ein erhebliches Defizit. Sie beschäftigen sich mit China nur sehr am Rande, vereinzelt und nicht systematisch. Das mag bei einzelnen Betriebsräten großer Unternehmen, wie z. B. bei VW, BMW oder Mercedes anders sein. Doch ist China keineswegs ein gewerkschaftliches Thema. Dieses Manko wollen und müssen wir beheben. Ein erster Schritt dazu ist diese Konferenz."

Insgesamt nahmen über 50 Wissenschaftler und Experten aus Deutschland, China und Österreich teil, bedauerlicherweise aber kaum profilierte linke Gewerkschafts- oder Belegschaftsvertreter. Auch die angekündigten Vorstandsmitglieder von ver.di und IG Metall hatten kurzfristig abgesagt. Beides war umso bedauerlicher, als bei einer ganzen Reihe der chinesischen Experten das deutsche "Sozialmodell" als Vorbild für künftige Entwicklungen in China gesehen wird.

Die Experten tagten fast 10 Stunden an der Universität Oldenburg über Fragen der Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft im heutigen China, die Durchsetzung und Sicherung von Tarifverträgen, betriebliche Konflikte und Streiks sowie das Arbeitsrecht in Deutschland und China. Es wurde viel referiert, nachgefragt und nur in vorsichtiger Annäherung ein wenig streitbar miteinander diskutiert. Ins Auge sprang dabei die Breite der oft sehr gegensätzlichen politischen Positionen bei den chinesischen Gästen der Konferenz.

Der Oldenburger Volkswirtschaftler Hans-Michael Trautwein befasste sich in seinem Vortrag mit der aktuellen wirtschaftlichen Entwicklung in China und ihren Wechselwirkungen mit dem europäischen Arbeitsmarkt als "Niedriglohnkonkurrenz", "Absatzmarkt", Inflationsbremse" und globale Wirtschaftsmacht. Der marxistische Sinologe Helmut Peters trug sehr streitbare Thesen zu "Arbeit und Kapital im Prozess der nationalen Renaissance der VR China" vor (dokumentiert in UZ, Zeitung der DKP, vom 26.11.2010). Die chinesischen Experten befassten sich bei den darauf folgenden Themen äußerst kritisch mit der Situation der Gewerkschaftsrechte in China. So warf der Pekinger Publizist Zhong den chinesischen (Betriebs-)Gewerkschaften vor, im wesentlichen Teil des Verwaltungssystems zu sein und durch die eigene "Bürokratisierung" den Blick für die Interessen und den Anschluss an die Aktivitäten zahlreicher streikender Arbeitnehmergruppen verloren zu haben.

Prof. Chang Kai hatte zuvor die stetig zunehmende Zahl von Arbeitskonflikten - nicht nur in ausländischen Konzernen - hervorgehoben. Diese zeichneten sich fast alle durch spontan und diszipliniert organisierte Streiks aus: "Manche meinen, Streiks seien illegal in China. Das ist nicht korrekt. Es gibt kein Verbot von Streiks im chinesischen Gesetz, noch gibt es ein 'Verbrechen wegen Streiks'. Auch wenn das Gesetz in China keine klare Bestimmung über das Streikrecht enthält, erkennen die gültigen Gesetze doch, praktisch und bis zu einem gewissen Grad, die Legitimität kollektiver Streitigkeiten an ... Auch wenn das Wort Streik (im Gewerkschaftsgesetz) nicht auftaucht, sind 'Arbeitsniederlegung' und Streiks in ihrer Bedeutung äquivalent." Der Pekinger Anwalt Rujiu Wei, der aus seiner Sympathie für den Friedensnobelpreisträger Liu Xiaobo keinen Hehl machte, widersprach hier ganz grundsätzlich. Streiks seien in China "weder verboten noch erlaubt. Es existiert für sie keine gesetzliche Grundlage." Das Streikrecht sei 1982 aus der chinesischen Verfassung gestrichen worden. Nur die Bewohner von Hongkong und Macau hatten Streikrecht. Und obwohl China den UNO-Pakt 1, mit seinem Recht auf Streik als individuelles Freiheitsrecht, unterzeichnet habe, verweigere es seinen Bürgern das Streikrecht. Er forderte die Zulassung unabhängiger, freier Gewerkschaften (nach dem Vorbild von Solidarnocs), während der Dozent und Anwalt Xiaolin Wei aus Kanton sich mit der neuen Streikgesetzgebung in der Provinz Guangdong auseinandersetzte.

Die Pekinger Professorin Jin Wang befasste sich in ihrem Beitrag mit den Perspektiven eines möglichen Dialogs zwischen deutschen und chinesischen Gewerkschaften vor dem Hintergrund höchst unterschiedlicher Ausgangslagen. Sie schilderte die (staatlichen) Gewerkschaften in China "in der Zwickmühle" zwischen "führender Rolle der KP", Staatspolitik und Herausforderungen einer "neuen Arbeitergeneration". Ihre - geradezu naive - Sicht auf "Das deutsche Modell" und seine stabilisierenden Wirkungen blieb wohl nur aus lauter Höflichkeit unwidersprochen. Der Münsteraner Doktorand Lars Mörking empfahl in seinem kurzen Beitrag die Durchführung von Betriebsräteseminaren für deutsche Gewerkschafter zum Thema China. Der Bremer Anwalt und ehemalige Gewerkschaftssekretär Bonkowski sah in dem deutschen dualen Modell von Betriebsräten und Gewerkschaften, das zur Zeit in China stark diskutiert werde, keinen Gegensatz, sondern eine mögliche Ergänzung bei der effektiven Interessenvertretung von Arbeitnehmern.

Die - insbesondere für Nichtexperten - sehr informative Tagung brachte - wie vom Ausrichter versprochen - "mehr Fragen, als gesicherte Antworten" und sie machte deutlich, dass noch viele Schritte notwendig sind, um das Thema China auf die Gewerkschaftsagenda zu setzen und um zu wirklichem Dialog, Erfahrungsaustausch und gegenseitigen Verständnis zu kommen. Auch Rolf Geffkens "20 Thesen für einen deutsch-chinesischen Gewerkschaftsdialog" sollen die Diskussion beleben, zu der auch die LeserInnen der Marxistischen Blätter eingeladen sind. Abschließend heißt es in diesen Thesen: "Deutsche und chinesische Gewerkschaften sollten sich zunächst der historischen Wurzeln der Gewerkschaften bewusst werden: Sie waren nie etwas anderes als das organisatorische Ergebnis der spontanen Kämpfe der Arbeiter. Sobald sie sich von diesen entfernen, erleiden sie deshalb auch in der Gegenwart einen Funktionsverlust."


Lothar Geisler, Dülmen, MB-Redaktion


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Quelle:
Marxistische Blätter, Heft 1-11, 49. Jahrgang, S. 96-98
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veröffentlicht im Schattenblick zum 9. April 2011