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MARXISTISCHE BLÄTTER/472: Logisch? Historisch? Logisch historisch!


Marxistische Blätter Heft 6-10

Logisch? Historisch? Logisch historisch!

Von Holger Wendt


Das Thema meines Vortrages ist das Verhältnis von logischer und historischer Entwicklung im Marxschen "Kapital". Genauer: Der Methodenstreit, der seit einigen Jahrzehnten um diese Frage geführt wird. Diese Kontroverse ordnet sich in den Rahmen eines größeren Glaubenskrieges ein, in den Streit zwischen Vertretern des sogenannten traditionellen Marxismus und denen der sogenannten Neuen Marxlektüre.

Neue Marxlektüre, was ist das? Wenn man das Wort hört, dann assoziiert man zunächst einmal junge unverbrauchten Menschen, die neu anfangen, sich mit den Marxschen Schriften zu beschäftigen. Junge Menschen, die unbelastet von den ideologischen Irrungen und Wirrungen vorangegangener Generationen danach fragen, was der alte Marx damals wirklich sagte und was er uns heute zu sagen hat. Wenn das so wäre, es wäre ja ohne Frage etwas Gutes. Mit derartigen freien Assoziationen kommt man allerdings nicht weiter, die Neue Marxlektüre ist keineswegs einfach ein neuer, ideologisch unbelasteter Anlauf der Marx-Rezeption. Sie ist mittlerweile 45 Jahre alt und hat Vorläufer, die noch deutlich älter sind. Der Begriff bezeichnet keine neue, undogmatische Lesebewegung, er bezeichnet eine spezifische, im Kontext der Frankfurter Schule und des französischen Strukturalismus entstandene Interpretationsrichtung. Für diese Interpretationsrichtung stehen Namen wie Hans-Georg Backhaus, Helmut Reichelt, Heinz-Dieter Kittsteiner oder Ingo Elbe und Michael Heinrich. Die Neue Marxlektüre unterscheidet sich wesentlich von anderen Richtungen der Marxrezeption, sie geht von anderen philosophischen Grundlagen aus und zieht andere politische Konsequenzen. Mit besonderem Nachdruck grenzen sich ihre Vertreter von den verschiedenen Ausprägungen marxistischer Theoriebildung ab, die sich innerhalb der Arbeiterbewegung herausgebildet haben. Das Adjektiv "neu" ist dabei in erster Linie eine Selbstetikettierung, inhaltlich ist dieses "neu" ebenso viel oder so wenig gehaltvoll wie das "neu" in den Ausdrücken "Das neue Persil", "Das Neue Denken", "Neue soziale Marktwirtschaft" oder "New Opel".

Als mich Werner Seppmann fragte, ob ich in Jena zur Neuen Marxlektüre sprechen wolle, war ich zunächst skeptisch. Ich halte es für vermessen, in einer halben bis dreiviertel Stunde über eine Rezeptionsrichtung zu urteilen, die sich zu sehr verschiedenen Aspekten der Marxschen Arbeiten äußert und deren Publikationen unzählige Regalmeter füllen. Wir haben uns dann darauf verständigt, dass ich mich auf die Diskussion eines Detailproblems beschränke, allerdings eines Detailproblems, das für die Neue Marxlektüre von zentraler Wichtigkeit ist. Das Problem besteht in der Frage, ob die Marxsche Methode als logisch-historische oder als logische zu verstehen ist. Statt logisch-historisch bzw. logisch kann man auch sagen begrifflich-historisch bzw. begrifflich. Letzteres entspricht besser der Marxschen Ausdrucksweise, in der Sache macht es wenig Unterschied, es geht um Begriffslogik.

Ich formuliere die Leitfrage nochmals mit anderen Worten: Ist die begriffliche Entwicklung im "Kapital" mit der Betrachtung der historischen Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise verschränkt oder ist sie es nicht? Marx beginnt sein Hauptwerk mit der Betrachtung der Ware, geht über die verschiedenen Stufen der Wertformanalyse zum Geld, zum Kapital, zur formellen Subsumtion der Arbeit unter das Kapital, zur reellen Subsumtion etc. Folgt er damit in abstrakter Form der wirklichen historischen Entwicklung oder resultiert dieser Aufbau einzig aus der inneren Logik seiner Darstellung der Struktur der kapitalistischen Produktionsweise? Ein Friedrich Engels, ein Lenin, ein Rudolf Hilferding, eine Rosa Luxemburg, ein Ernest Mandel, ein Jürgen Kuczynski und alle diejenigen Marxisten, die sich an ihnen orientieren, vertreten die erste Position, behaupten die Existenz einer historischen Dimension der Marxschen Darstellung im "Kapital". Die Neue Marxlektüre vertritt die Gegenposition; sie behauptet, die Darstellung im "Kapital" sei rein logischer bzw. rein begrifflicher Natur. Sie sei in dem Sinne ahistorisch, dass sie allein die Struktur de s Bestehenden beschreibe ohne damit zugleich das Werden und Vergehen dieses Bestehenden zu beschreiben. Folgt man der NML, dann erscheint die Beschreibung des Kapitalismus bei Marx nicht als Beschreibung eines historischen Prozesses, sondern als Beschreibung eines Idealtypus.

Auf das Engste mit diesem Streit verknüpft ist die weitere Frage, ob Marx die Begriffe Ware, Geld und Kapital allgemein fasst oder nicht. Ob also beispielsweise die grundlegenden Bestimmungen von Ware und Geld im ersten Abschnitt des "Kapital" auch auf die begriffliche Erfassung von Waren- und Geldverhältnissen in vor- und frühkapitalistischen Gesellschaften zielen. Oder ob dort, wo Marx über Ware und Geld spricht, immer schon der voll entwickelte Kapitalismus unterstellt ist. Auch hier vertritt der traditionelle Marxismus die erstere Auffassung, die Neue Marxlektüre die letztere.

Man mag sich fragen, warum seit gut 40 Jahren über so etwas gestritten wird. Nehmen sich da nicht einige Marx-Philologen zu wichtig? Sicherlich geht es auch um Philologie, um die Frage, wo schreibt Marx was und warum. Ginge es aber nur darum, die Heftigkeit wäre nicht zu erklären, mit der dieser Streit geführt wird. Es bliebe zudem ein Rätsel, warum er seit Jahrzehnten der Klärung keinen Schritt näher ist. Ich behaupte, es geht um wesentlich mehr als um Philologie. Es geht um Philosophie, es geht um Politik. Es geht um die Rolle von Klassenkämpfen, es geht um das Ob und das Wie von Reform, Revolution und Sozialismus. Bevor ich aber wenigstens skizzenhaft versuche, auf die politischen Implikationen dieses Methodenstreites einzugehen, möchte ich zunächst die beiden Kontrahenten etwas näher vorstellen.


Friedrich Engels und der "Traditionsmarxismus"

Da haben wir erstens den sogenannten Traditionsmarxismus. Diese Bezeichnung ist von der Neuen Marxlektüre geprägt worden und durchaus abwertend gemeint. Im Erfinden von negativ konnotierten Etikettierungen für ihre Gegner (und von positiven Etikettierungen für sich selbst) sind die Anhänger dieser Richtung Weltmeister. Neben "Traditionsmarxismus" finden sich auch Bezeichnungen wie dogmatischer Marxismus, Arbeiterbewegungsmarxismus, Weltanschauungsmarxismus, orthodoxer Marxismus, Engelsianismus, prämonetäre Werttheorie, substantialistische Werttheorie, Vulgärmarxismus, vulgärer Evolutionismus, Genetizismus oder Historizismus. Der Traditionsmarxismus sei primitiv, unkritisch, flach, restringiert, dogmatisch, ideologisch. Dies versichern die Neuen Marxleser ihren Lesern in der Regel bereits ganz am Anfang ihrer Texte, noch vor der Anführung eines einzigen Arguments. Sie selbst bezeichnen sich unter anderem als kritische Marxisten, monetäre Werttheoretiker, Wertkritiker, westliche Marxisten oder ideologiekritische Marxisten. In den letzten Jahren haben einige der Gegner der Neuen Marxlektüre nachgezogen und ihrerseits negative Etiketten verklebt. Wolfgang Fritz Haug beispielweise nennt die Neuen Marxleser "Logizisten", an einer Stelle sogar "Gantenbeinmarxisten". Man könnte sich über solcherlei Etikettierungsstreit lustig machen, politisch ist er ernst zu nehmen. Wer sich und seinen Gegnern rechtzeitig die passenden Label verpasst, der ist klar im Vorteil. Er sorgt dafür, dass man ihn ernst nimmt und die andere Seite nicht. Wer möchte schon gerne ein dogmatischer Marxist sein? Wer möchte nicht viel lieber ein kritischer Marxist sein? Die naheliegende Frage, ob da, wo "kritisch" drauf steht, auch immer Kritisches drin ist, wird überraschend selten gestellt.

Weg vom Marketing, hin zur Sache. Die marxistische Tradition behauptet, begriffliche (logische) und historische Entwicklung bildeten im 'Kapital' eine widersprüchliche Einheit, beide Aspekte seien miteinander verschränkt. Ich zitiere einige Kernsätze der klassischen Formulierung von Friedrich Engels, der die ganze Debatte ihren Namen verdankt:

"Die Kritik der Ökonomie, selbst nach gewonnener Methode, konnte noch auf zweierlei Weise angelegt werden: historisch oder logisch. (...) Die Geschichte geht oft sprungweise und im Zickzack und müsste hierbei überall verfolgt werden, wodurch nicht nur viel Material von geringer Wichtigkeit aufgenommen, sondern auch der Gedankengang oft unterbrochen werden müsste (...) Die logische Behandlungsweise war also allein am Platz. Diese aber ist in der Tat nichts andres als die historische, nur entkleidet der historischen Form und der störenden Zufälligkeiten. Womit diese Geschichte anfängt, damit muss der Gedankengang ebenfalls anfangen, und sein weiterer Fortgang wird nichts sein als das Spiegelbild, in abstrakter und theoretisch konsequenter Form, des historischen Verlaufs; ein korrigiertes Spiegelbild, aber korrigiert nach Gesetzen, die der wirkliche geschichtliche Verlauf selbst an die Hand gibt." (MEW 13/475; MEGA II/2, S. 253)

Zwei Seiten später schreibt Engels, dass bei dieser Methode die logische Entwicklung durchaus nicht genötigt sei, sich im rein abstrakten Gebiet zu halten. Im Gegenteil bedürfe sie der historischen Illustration, der fortwährenden Berührung mit der Wirklichkeit.

Diejenigen nun, die dieser Auffassung folgen, betonen die Prozesshaftigkeit des Kapitalismus. Der Kapitalismus ist historisch entstanden. Er hat die Existenz vorkapitalistischer Waren- und Geldverhältnisse sowohl zur logischen als auch zur historischen Voraussetzung. Er hat sie zur logischen Voraussetzung, weil er sie zur historischen Voraussetzung hat und er hat sie zur historischen Voraussetzung, weil er sie zur logischen hat. Der Kapitalismus entwickelt sich historisch aus vorkapitalistischen Formen der Waren- und Geldwirtschaft, er schafft sich im Zuge dieser Entwicklung selbst die Grundlage seiner Weiterentwicklung und diese seine Weiterentwicklung auf eigener Grundlage weist in der Tendenz über ihn selbst hinaus. Der Kapitalismus reproduziert sich, aber er reproduziert sich nicht einfach identisch. Er reproduziert sich identisch-nichtidentisch. Er stellt seine eigenen Voraussetzungen immer wieder her, aber er stellt sie nicht immer gleich her. Der Kapitalismus hat eine Geschichte. Eine Geschichte nicht nur im Sinne einer Abfolge verschiedener Ereignisse, sondern eine Geschichte im Sinne einer Entwicklung, die bestimmten erkennbaren Mustern folgt - erkennbaren historischen Gesetzen.

Die kapitalistische Produktionsweise ist demnach das historische Produkt von Waren- und Geldverhältnissen, die sich gemäß der ihnen immanenten Logik entwickelt haben. Das Kapitalverhältnis ist selbst in dauernder Entwicklung begriffen; diese Entwicklung lässt sich "logisch" aus seinem Begriff ableiten und historisch nachvollziehen. Seine Prozesshaftigkeit, seine historische Dynamik ist dem Kapitalismus nicht äußerlich, sie ist ihm wesentlich. Daher muss diese historische Dynamik in die Begriffe der Kritik der Politischen Ökonomie eingeschrieben sein. Begriff und Historie müssen zwingend miteinander verschränkt sein, weil die Begriffe, um die es hier geht, einen historischen Prozess erfassen sollen: Das Werden, das Bestehen und das Vergehen der kapitalistischen Gesellschaftsformation. Marx selbst sagt im "Kapital" über seine Methode, dass sie jede gewordne Form im Flusse der Bewegung auffasse (MEW 23/28).


Die Neue Marxlektüre

Die Neue Marxlektüre vertritt eine radikal andere Auffassung. Engels, so heißt es hier, habe Marx grob verfälscht. Die Engelssche Sichtweise sei nicht nur in der einen oder anderen Detailfrage von der Marxschen Sichtweise verschieden, sie sei ihr direkt entgegengesetzt. Die Behauptung der Existenz einer logisch-historischen Methode bei Marx sei grober Unfug. Philologisch beruft sich die Neue Marxlektüre dabei vor allem auf Formulierungen aus Marxschen Schriften, die Jahre vor dem "Kapital" verfasst wurden. Am wichtigsten sind hier zweifellos die "Grundrisse einer Kritik der politischen Ökonomie", einer Sammlung von Manuskripten aus den Jahren 1857 und 1858. Diese Manuskripte waren nicht zur Veröffentlichung bestimmt, dienten der Selbstverständigung. Sie erlauben uns einen Blick in Marx Werkstatt, zeigen sein Ringen mit verschiedenen, auch methodologischen Fragen. Zu einem Buch zusammengebunden wurden sie erstmals 1939 in Moskau; die sowjetischen Herausgeber haben ihnen auch den gemeinsamen Titel gegeben.

In einigen von diesen Manuskripten finden sich Stellen, die sehr anders klingen als das, was Friedrich Engels behauptet hat. Ich führe nur die meistzitierte Passage an:

"Es wäre also unthubar und falsch, die ökonomischen Categorien in der Folge aufeinanderfolgen zu lassen, in der sie historisch die bestimmenden waren. Vielmehr ist ihre Reihenfolge bestimmt durch die Beziehung, die sie in der modernen bürgerlichen Gesellschaft aufeinander haben, und die genau das umgekehrte von dem ist, was als ihre naturgemäße erscheint oder der Reihe der historischen Entwicklung entspricht." (MEGA II/1.1, S. 42)

Hier wird die begriffliche Darstellung des gewordenen Kapitalismus von der Darstellung seiner Entstehung getrennt. Historische Herausbildung und begriffliche Darstellung des Kapitalverhältnisses werden nebeneinander und sogar gegeneinander gestellt. Diese Trennung, ja Gegenüberstellung wird von der Neuen Marxlektüre stark gemacht. Das Jahre später geschriebene "Kapital" wird nun ausgehend von dieser und von einigen anderen Stellen aus den "Grundrissen" interpretiert. Die begriffliche Darstellung im "Kapital" hätte demnach keine historische Entwicklung zum Gegenstand, sondern immer schon den voll entwickelten Kapitalismus. Sie beschreibe keinen historischen Prozess, sondern eine sich selbst identisch reproduzierende Struktur. Der Kapitalismus stelle seine eigenen Grundlagen und damit sich selbst immer wieder her. Punkt.

Folgt man der Interpretation der Neuen Marxlektüre, dann gibt es zwar sicherlich eine Ereignisgeschichte des Kapitalismus, er ist irgendwann irgendwie entstanden und zwischenzeitlich ist auch mal was passiert. Vielleicht verschwindet er irgendwann auch wieder, wer weiß? All das habe mit der Marxschen Kritik der Politischen Ökonomie aber nichts zu tun. Die wirkliche Geschichte der letzten Jahrhunderte sei nicht Gegenstand der von Marx' im Kapital dargestellten logischen Struktur, bleibe ihr äußerlich.

Die Sichtweise der Neuen Marxlektüre ist in der Konsequenz statisch. Sie kann gar nichts anderes sein, weil sie ja eben keinen Entwicklungsprozess betrachtet, sondern immer schon ein bereits voll Entwickeltes. Deutlich wird dieser zutiefst statische Charakter unter anderem dort, wo die Vertreter Neuen Marxlektüre ihre Auffassung des Gegenstandes der Marxschen Ökonomiekritik beschreiben. Heinz-Dieter Kittsteiner behauptet, Marx System lege einen "Querschnitt durch die Gegenwart". Michael Heinrich und ihm folgend Ingo Elbe sprechen von der Darstellung des Kapitalismus in seinem "idealen Durchschnitt". Ob nun "Querschnitt durch die Gegenwart" oder "idealer Durchschnitt", in beiden Fällen schließt schon die Definition des Betrachtungsgegenstandes das Denken von Entwicklungsprozessen aus. Sowohl Querschnitte durch die Gegenwart als auch ideale Durchschnitte beschreiben Zustände, keine Entwicklungen. Der Kapitalismus wird schlicht als ein sich selbst Gleiches gefasst - was immer sich in der Welt verändern mag, mit dem Begriff des Kapitals, mit der Struktur der kapitalistischen Produktionsweise habe es nichts zu tun.


Philologie

Ich habe jetzt, selbstverständlich zugespitzt, beide einander widersprechenden Positionen skizziert. Wer hat also recht? Die starke These der Neue Marxlektüre ist, Engels und ihm folgend der Marxismus hätten Marx gänzlich falsch verstanden. Im "Kapital" finde sich keine Verschränkung von begrifflicher und historischer Analyse. Die Idee, Marx ginge es um die Untersuchung historischer Entwicklungen, sei abwegig. Ingo Elbe folgert daraus, der bisherige Marxismus sei nichts als ein bloßes Gerücht über Marx gewesen.

Ist diese Sichtweise philologisch aufrecht zu halten? Ich denke nicht. Man könnte selbst ohne tiefergehende Textkenntnis fragen, wie es denn möglich gewesen sein soll, dass 100 Jahre lang nicht nur der ein oder andere Marxist Marx grundlegend missverstanden habe, sondern dass bis zum glücklichen Auftreten der Neuen Marxlektüre alle Marxisten so fundamental daneben lagen. Vor allem könnte man fragen, warum Karl Marx himself zeitlebens nicht bemerkte, dass er von aller Welt völlig falsch interpretiert wurde. Wie war es möglich, dass ihm nicht auffiel, dass sein Freund Friedrich Engels gänzlich andere Auffassungen vertrat als er selbst? Das oben angeführte klassische Zitat, in dem Engels von der logisch-historischen Methode Marxens spricht, findet sich in einer Rezension der Marxschen Schrift "Zur Kritik der Politischen Ökonomie" aus dem Jahre 1859. Diese Rezension hatte Engels seinem Freund vor der Veröffentlichung zur kritischen Durchsicht zugeschickt; im Begleitbrief hatte er Marx explizit darum gebeten, eventuelle Fehler zu korrigieren. Dies ist nicht passiert, weder bei dieser Gelegenheit noch bei irgendeiner späteren. Und natürlich hat Engels seine Sichtweise auch an anderer Stelle immer wieder öffentlich zum Ausdruck gebracht. Warum also hat Marx, dessen Ansichten ja laut Neuer Marxlektüre von Engels über Jahrzehnte ins Gegenteil verkehrt wurden, sich niemals die Mühe gemacht, wenigstens die allergröbsten Engelsschen Schnitzer richtigzustellen?

Aber nicht nur Friedrich Engels' Zeugnis steht gegen den Neomarxismus, auch bei Marx selbst finden sich massenweise Zitate, die der Sichtweise der Neuen Marxlektüre klipp und klar widersprechen. Selbst die in den "Grundrissen" versammelten Lieblingstexte der Neomarxisten argumentieren keineswegs derart durchgängig logizistisch, wie es die äußerst selektive Zitierpraxis dieser Richtung glauben machen will. Auch hier finden sich bereits lange Passagen, in denen Marx begriffliche und historische Entwicklung miteinander vermittelt. Wichtiger noch ist in meinen Augen die Tatsache, dass sich Marx Anfang 1858 zu einem Umdenken in methodologischen Fragen veranlasst sah, nachzulesen in seinem Brief an Engels vom 14.1.1858. Dieser Brief wurde einige Monate nach der Niederschrift des für das Methodenverständnis der Neuen Marxlektüre so wichtigen Abschnittes aus der Einleitung der

"Grundrisse" verfasst; Letzterer stammt aus der letzten Augustwoche des Jahres 1857. In seinen Werken nach 1858 verschränkt Marx begriffliche und historische Entwicklung systematisch; mit jeder Überarbeitung seiner ökonomischen Schriften baut er diese Verschränkung weiter aus.

Um diese Behauptung zu belegen, möchte ich pars pro toto drei Textstellen anführen. Nicht als philologischen Beweis meiner Auffassung, seriös beweisen kann man mit vereinzelten Zitaten nichts. Ich kann Ihnen mein Argument hier nicht beweisen, will aber wenigstens versuchen, es zu illustrieren. Das erste Zitat stammt aus Marx Schrift "Zur Kritik der Politischen Ökonomie" von 1859. Ich zitiere diesen Text, weil das obige angeblich irreführende Engels-Zitat aus einer Rezension dieses Werkes stammt - der gleiche Gedankengang findet sich aber auch im "Kapital", nachzulesen auf den Seiten 101 ff. der MEW-Ausgabe. Marx schreibt in "Zur Kritik":

"(...) In der Tat erscheint der Austauschprozess von Waren ursprünglich nicht im Schoß der naturwüchsigen Gemeinwesen, sondern da, wo sie aufhören, an ihren Grenzen, den wenigen Punkten, wo sie in Kontakt mit andern Gemeinwesen treten. Hier beginnt der Tauschhandel und schlägt von da ins Innere des Gemeinwesens zurück, auf das er zersetzend wirkt. (...) Die allmähliche Erweiterung des Tauschhandels, Vermehrung der Austausche und Vervielfältigung der in den Tauschhandel kommenden Waren, entwickelt daher die Ware als Tauschwert, drängt zur Geldbildung und wirkt damit auflösend auf den unmittelbaren Tauschhandel." (MEW 13/36)

Hier wird - sehr abstrakt - ein wirklicher historischer Prozess beschrieben. Hier wird die Genese des Geldes aus der historischen Entwicklung vorkapitalistischen Tauschhandels erklärt. Hier ist eindeutig von Ware und Geld in Gesellschaften die Rede, die lange vor dem Kapitalismus existierten. Und wenn wir diesen Abschnitt in seinem textlichen Kontext betrachten würden, dann würde sich ergeben, dass er in einem direkten Zusammenhang zur begrifflichen Entwicklung des Geldes aus der Ware steht. Hätte die Neue Marxlektüre recht, dann hätte Marx so etwas niemals schreiben dürfen. Die zentrale Behauptung der Neuen Marxlektüre ist ja, historische Betrachtungen und logische Entwicklung blieben bei Marx strikt getrennt und sein Begriff der Ware beziehe sich immer nur auf die Ware im bereits voll entwickelten Kapitalismus.

Dieser These, Wolfgang Fritz Haug spricht gar von einem Glaubensartikel der Neuen Marxlektüre, wird von Marx auch im "Kapital" in aller Deutlichkeit widersprochen. Hier nur eine von diversen Stellen:

"Im Dasein des Produkts als Ware sind bestimmte historische Bedingungen eingehüllt. (...) Hätten wir weiter geforscht: Unter welchen Umständen nehmen alle oder nimmt auch nur die Mehrzahl der Produkte die Form der Ware an, so hätte sich gefunden, dass dies nur auf Grundlage einer ganz spezifischen, der kapitalistischen Produktionsweise, geschieht. Eine solche Untersuchung lag jedoch der Analyse der Ware fern. Warenproduktion und Warenzirkulation können stattfinden, obgleich die weit überwiegende Produktenmasse, unmittelbar auf den Selbstbedarf gerichtet, sich nicht in Ware verwandelt, der gesellschaftliche Produktionsprozess also noch lange nicht in seiner ganzen Breite und Tiefe vom Tauschwert beherrscht ist. Die Darstellung des Produkts als Ware bedingt eine so weit entwickelte Teilung der Arbeit innerhalb der Gesellschaft, dass die Scheidung zwischen Gebrauchswert und Tauschwert, die im unmittelbaren Tauschhandel erst beginnt, bereits vollzogen ist. Eine solche Entwicklungsstufe ist aber den geschichtlich verschiedensten ökonomischen Gesellschaftsformationen gemein." (MEW 23/183 f.)

Also: die Neue Marxlektüre behauptet, Ware bei Marx sei immer nur Ware im entwickelten Kapitalismus. Karl Marx sagt uns im "Kapital" das glatte Gegenteil.

Um auch einmal eine etwas weniger bekannte Quelle anzuführen, ein drittes Zitat aus dem "Kapital 1.1." Die Herausgeber dieses im letzten Jahr wiederveröffentlichten Marxschen Textes haben ihrem Büchlein den treffenden Untertitel "Die Zusammenfassung des ersten Bandes des Kapitals, verfasst vom Autor" gegeben. Bereits zu Beginn des ersten Abschnittes dieser Schrift heißt es: "Die Ware, als die elementarische Form des bürgerlichen Reichtums, war unser Ausgangspunkt, die Voraussetzung für die Entstehung des Kapitals. Andrerseits erscheinen Waren jetzt als das Produkt des Kapitals. Dieser Zirkellauf unsrer Darstellung entspricht sowohl der historischen Entwicklung des Kapitals, für welche ein Warenaustausch, Warenhandel eine der Entstehungsbedingungen bildet, die sich selbst aber auf der Grundlage verschiedner Produktionsstufen bildet, denen allen gemein ist, dass in ihnen die kapitalistische Produktion noch gar nicht oder nur noch sporadisch existiert. Andrerseits ist der entwickelte Warenaustausch und die Form der Ware als allgemein notwendige gesellschaftliche Form des Produkts selbst erst das Resultat der kapitalistischen Produktionsweise."

Hier erklärt uns Marx, was er im ersten Band des Kapital getan hat. Er sagt uns explizit, dass begriffliche und historische Entwicklung einander entsprechen. Er redet völlig unzweideutig von Warenverhältnissen auf der Grundlage verschiedener vorkapitalistischer Produktionsstufen, deren Entwicklung die Voraussetzung der historischen Entwicklung des Kapitals ist. Auch an dieser Stelle tut er demnach etwas, was er gemäß seinen neomarxistischen Interpreten auf gar keinen Fall hätte tun dürften. Etwas, das angeblich nur ein Engelssches Missverständnis ist.

Wie gesagt, für sich genommen beweisen einzelne Zitate nicht viel. Für die Entwicklung einer elaborierteren philologischen Argumentation fehlt mir hier die Zeit und Ihnen wahrscheinlich die Geduld. Einzig der Logik des Argumentes zuliebe unterstelle ich jetzt einmal, Sie alle hätten die Marxschen Hauptwerke gründlich studiert und wären dabei wie ich über diverse Passagen gestolpert, in denen Marx explizit begriffliche und historische Darstellung miteinander vermittelt. Und ebenso über diverse Passagen, in denen er über Waren- und Geldverhältnisse in vorkapitalistischen Gesellschaften schreibt, in denen er diese vorkapitalistischen Waren- und Geldverhältnisse in einen genetischen Zusammenhang zu den kapitalistischen Verhältnissen stellt. Und darüber hinaus wären Ihnen Passagen aufgefallen, in denen Marx auf Entwicklungstendenzen aufmerksam macht, die über den Kapitalismus hinausweisen. Wenn diese meine freche Unterstellung zuträfe, dann würde Ihnen die Frage aufdämmern, ob denn die Vertreter der Neuen Marxlektüre derartige Textstellen nicht kennen. Die Antwort: Ça depend. An deutschen Universitäten gibt es mittlerweile einen erklecklichen Haufen von NML-Aposteln zumeist jüngeren Semesters, deren Marx-Kenntnisse reichlich defizitär sind und die ihren Mangel an Quellenkenntnis mit einem Übermaß an Glaubenseifer kompensieren. Wenn sich meine persönlichen Erfahrungen verallgemeinern lassen, dann zweifeln diese Menschen tatsächlich keine Sekunde daran, dass die neomarxistische Interpretation des "Kapital" die einzig authentische Rekonstruktion des Marxschen Denkens darstellt.

Selbstverständlich gibt es aber auch klügere Vertreter der Neuen Marxlektüre, denen die ihren Ansichten widersprechenden Marx-Passagen durchaus geläufig sind. Aus eben diesem Grund hat sich der Fokus der neomarxistischen Argumentation im Laufe der Jahre signifikant verschoben. Anfangs hieß es noch, Engels habe Marx grob verfälscht; daher habe der traditionelle Marxismus, der dem Engels nachgelaufen sei, den Marx schlicht nicht verstanden. Heute heißt es, Karl Marx hätte sich selbst nicht richtig verstanden. Dem Traditionsmarxismus wird mittlerweile zähneknirschend zugestanden, durchaus an Marx anzuknüpfen, allerdings an den falschen Texten. Marx sei, so wird heute unterstellt, ein in sich zutiefst widersprüchlicher Denker. Von Ambivalenzen bei Marx ist da die Rede, von einem exoterischen und einem esoterischen Marx. Der Erstere ist ein engelsianischer Ideologe, der Letztere ein kritischer Neuer Marxleser. Nur drei von unzähligen einschlägigen Zitaten von Michael Heinrich: "Es ist also nicht nur die Marxsche Selbstreflektion, die mangelhaft ist; seine eigene kategoriale Entwicklung bleibt an entscheidenden Stellen ambivalent."

"Wie im sechsten Kapitel gezeigt blieb Marx in seiner Darstellung der Werttheorie ambivalent ..."

"Auch bei Marx kann man die beiden genannten Fehlschlüsse und eine darauf aufbauende deterministische Auffassung der Geschichte finden ..."

Die Neomarxisten haben Marx logizistisch gelesen. Sie mussten feststellen, dass Marx ihrer Sichtweise wieder und wieder explizit widerspricht. Daraus ziehen sie nun nicht etwa den Schluss, ihre Marx-Interpretation könnte fehlerhaft sein, vielmehr attestieren sie Marx mangelhafte Selbstreflexion. Zentrale Passagen auch und gerade des Marxschen Spätwerkes werden von der Neuen Marxlektüre mittlerweile verworfen, werden zu bloßen Illustrationen oder missverständlichen Popularisierungen erklärt. Stattdessen beruft man sich wortreich auf immer windigere Zitatfetzen; die Kunst der Isolierung und Dekontextualisierung von einzelnen Absätzen, ja von wenigen Sätzen und sogar Worten, steht in hoher Blüte. Und selbst dies reicht schon lange nicht mehr hin. Die Marxsche Theorie gilt weiten Teilen der Strömung inzwischen als ein Konglomerat inkonsistenter Ideen und Diskurse, das allenfalls als Steinbruch Verwendung finden könnte. In der Formulierung Ingo Elbes klingt das so: "Bereits an dieser Stelle kann aber konstatiert werden, dass Backhaus' (...) Rekonstruktionsbegriff das Feld einer Popularisierungskritik, ja eigentlich auch das einer Rekonstruktion verlässt. Dieser legt nämlich nahe, nicht mehr von im Marxschen Werk existenten und rekonstruierbaren konsistenten Argumentationsmustern oder sich überlappenden bzw. durchmischenden Diskursen auszugehen, sondern mit anderen theoretischen Mitteln Bruchstücke aus der Kritik der politischen Ökonomie neu zu gruppieren, um die dort formulierten Probleme zu lösen."

Ich folge dem nicht. Ich behaupte, nicht das Marxsche Kapital ist inkonsistent, die Neue Marxlektüre hat es schlicht falsch interpretiert. Der fundamentale Widerspruch liegt nicht zwischen Marx und Engels, schon gar nicht zwischen Marx und Marx. Er liegt zwischen Marx und seinen neomarxistischen Interpreten.

Das Räsonnement, mit dem die Neue Marxlektüre über die Tatsache hinweggehen will, dass ihre Marx-Interpretation von Marx selbst in aller Deutlichkeit dementiert wird, verursacht Pein. Einst hatte man uns erklärt, die Marxisten verstünden Marx nicht, weil sie sich weigerten, Marx gründlich zu lesen. Heute erklärt man uns, wir dürften das, was Marx schreibe, nicht allzu ernst nehmen, weil seine Texte in sich völlig widersprüchlich seien. In den siebziger Jahren warf man den Marxisten vor, sie rezipierten Marx ideologisch, nur gemäß ihrer jeweiligen Parteilinie; die Neue Marxlektüre forderte damals, man müsse Marx unvoreingenommen zur Kenntnis nehmen. Heute legt man uns nahe, bevor wir Marx läsen bedürften wir einer Einführung durch seine berufenen neomarxistischen Ausleger. Die sagen uns dann, welche Textpassagen wir ernst nehmen sollen und welche besser nicht.

Auf eine Tragödie ist hier wieder einmal eine Farce gefolgt. Schon die Neue Marxlektüre der siebziger Jahre war in meinen Augen ein Irrweg. Aber sie war ein großer, ein notwendiger, ein produktiver Irrweg. Sie hat berechtigte Fragen aufgeworfen, sie hat Probleme aufgezeigt. Sie hat uns vor Aufgaben gestellt, die wir teilweise immer noch nicht gelöst haben. Die Zurückweisung der Verschränkung von logischer und historischer Analyse war von Anfang an falsch, aber die Argumente, mit der diese Zurückweisung vorgetragen wurde, haben gezeigt, dass hier offene Fragen existieren. Bei aller Gegnerschaft in der Sache gebührt einem Backhaus und einem Kittsteiner daher großer Dank. Ob dies den jüngeren Vertretern der Neuen Marxlektüre noch zuzubilligen ist, daran habe ich meine Zweifel. Viele von ihnen haben sich von Marx längst verabschiedet. Was sie veranstalten ist keine Marx-Rezeption mehr, sondern eine Marx-Demontage unter falscher Flagge. Wolfgang Fritz Haug urteilt über die populäre neomarxistische Einführungsschrift Michael Heinrichs, dass hier, da Heinrich die Dialektik der Logik opfere, die Einführung zur Entführung aus dem Marxismus geriete. Dieses Urteil trifft nicht nur auf Michael Heinrich zu, und es trifft auf andere mehr zu als auf ihn.


Politik

Ich hatte zu Anfang die These vertreten, es ginge um weit mehr als um Philologie. Die Zeit läuft mir davon, aber ich will nicht zur Diskussion übergehen, ehe ich nicht wenigstens ein paar Behauptungen in den Raum geworfen habe. Ich behaupte, hinter dem Streit um dieses oder jenes Marx-Zitat steht der Streit um Geschichtsphilosophie, ja um Philosophie überhaupt. Es geht um die Frage, ob wir die Gesetze historischer Entwicklungen erkennen können oder nicht. Genauer: Ob Marx im "Kapital" die grundlegenden Gesetze der Entwicklung des Kapitalismus aufzeigt, ob er seine historische Entstehung, seine innere Historizität und seine historischen Grenzen erörtert. Es geht um die Frage, ob der Kapitalismus eine Geschichte hat, ob er eine historisch endliche Gesellschaftsformation ist. Oder, dies ist die Gegenposition, ob Marx im Kapital eine sich selbst stets identisch reproduzierende Struktur beschreibt. Eine Gesellschaftsordnung, die zwar mal irgendwie entstanden sein mag, deren Entstehen und Vergehen aber nicht Gegenstand der begrifflichen Analyse des Kapitals ist; deren Entstehen und Vergehen begrifflich überhaupt nicht zu fassen ist. Wenn die Neue Marxlektüre recht hätte, dann hätte Marx im Kapital das Bild einer Gesellschaftsformation gezeichnet, die prinzipiell in der Lage ist, sich ohne historische Grenze zu reproduzieren.

Damit sind wir bei der Politik. Findet eine politische Bewegung, die den Kapitalismus überwinden will, ihre Anknüpfungspunkte in der Entwicklung des Kapitalismus selbst? Ist es seine eigene Entwicklung, die über ihn hinausweist? Bringt der Kapitalismus Widersprüche hervor, die im Rahmen dieses Systems nicht zu lösen sind, die letztlich seine eigenen Grundlagen untergraben? Produziert er selbst, wie es sowohl im Kommunistischen Manifest als auch im Kapital heißt, seine eigenen Totengräber? Oder gibt es in der Entwicklung der bestehenden Gesellschaftsordnung keinerlei Anknüpfungspunkte für eine revolutionäre Politik, weil diese Gesellschaftsordnung sich ja gar nicht entwickelt, sondern sich selbst stets gleich bleibt? Wenn Letzteres der Fall wäre, dann könnten wir uns allenfalls durch das abstrakte, von einem quasi außerhalb der Wirklichkeit liegenden Standpunkt aus vollzogene Verwerfen des Bestehenden aus der schlechten Gegenwart in eine dann irgendwie andere, unbestimmte gesellschaftliche Ordnung katapultieren. An die Stelle einer dialektischen Entwicklung träte der voluntaristische Sprung - oder aber das Grand Hotel Abgrund, die "kritische" Einrichtung im unabänderlichen Fatum des Status Quo. In einem Satz: Es geht um die Frage, ob Marx den Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft entwickelt hat, oder ob der Marxismus von einer Wissenschaft zur Utopie zurückzuentwickeln sei.


Nachwort

Dies ist ein Vortrag, kein Seminar. Ich kann hier weder meine eigene Position hinreichend begründen noch den Argumenten meiner Gegner den ihnen gebührenden Platz einräumen. Ich kann hier nicht angemessen differenzieren. Ich kann Sie nur darauf aufmerksam machen, dass es hier einen Streit gibt. Ich kann Sie nur auffordern, keiner Seite ihre nachdrückliche Versicherung abzukaufen, sie wisse schon, was Marx wirklich gemeint habe - und wer etwas anderes sage, der sei ein dogmatischer Ideologe, dem keine Beachtung zu schenken sei. Ich kann Sie nur bitten, jedem, der so etwas verkündet, mit äußerstem Misstrauen zu begegnen. Glauben Sie ihm kein Wort ungeprüft. Glauben Sie auch mir nicht. Glauben Sie meinen Gegnern nicht. Lesen Sie Marx mit offenen Augen. Verkneifen Sie es sich, interpretatorische Vorentscheidungen zu treffen, ehe Sie die Texte kennen. All das sollten Selbstverständlichkeiten sein, aber je länger ich die Marx-Debatten in Deutschland verfolge, desto mehr gelange ich zu der Überzeugung, dass das alles andere als selbstverständlich ist.

Das andere, was ich tun wollte, ist auf die politische Dimension des Methodenstreites hinzuweisen. Wenn es einem Punkt gibt, an dem ich mit den Neuen Marxlesern völlig einig bin, dann ist es dieser. Kittsteiner schreibt: "Alle Beteiligten an der Kontroverse sind sich indes bewusst, dass die Frage nach der Einheit des 'Logischen' und 'Historischen' ein zentrales Thema der Marx-Interpretation darstellt, das erhebliche praktische und politische Konsequenzen hat."

Ingo Elbe benennt diese Konsequenzen: "Inhaltlich wird [von der neuen Marxlektüre] (...) eine dreifache Abkehr von zentralen Topoi des Traditionsmarxismus vollzogen: Eine Abkehr vom werttheoretischen Substantialismus, von manipulationstheoretisch-instrumentalistischen Staatsauffassungen sowie von arbeiterbewegungszentrierten bzw. 'arbeitsontologischen' oder sogar generell von revolutionstheoretischen Deutungen der Kritik der politischen Ökonomie."

Aus Elbes neomarxistischem Slang ins Deutsche übersetzt heißt das, die Neue Marxlektüre vollzieht erstens eine Abkehr von der Arbeitswerttheorie, zweitens eine Abkehr von der Auffassung, Staaten seien Klassenstaaten, der bürgerliche Staat mithin der Staat der Bourgeoisie, drittens eine Abkehr von der Arbeiterbewegung oder sogar generell von einer wissenschaftlich begründbaren revolutionären Perspektive. Wenn das der neue Marx ist, dann ziehe ich den alten vor.


Holger Wendt, Bonn, Wirtschaftswissenschaftler


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Quelle:
Marxistische Blätter, Heft 6-10, 48. Jahrgang, S. 34-43
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veröffentlicht im Schattenblick zum 8. März 2011