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LICHTBLICK/208: Entlassungspraxis - nur ein leeres Wort?


der lichtblick - Gefangenenmagazin der JVA Berlin-Tegel
Heft Nr. 363 - 2/2015

Entlassungspraxis - nur ein leeres Wort?
Wie sehen die Entlassungsvorbereitungen aktuell bei uns in der Anstalt aus. Was ist verbesserungswürdig, was wird wie umgesetzt.

von N. Kieper


Mit der Entlassung wechselt der Inhaftierte aus der reglementierten, überstrukturierten geschlossenen Anstalt in eine andere Lebenssituation, die neue Erwartungen und Ansprüche an ihn stellt. Die klaren Verhaltensregeln und das fremdbestimmte Anstaltsleben lässt er hinter sich und muss nun selbstständig seine Versorgung sichern und sein Leben neu gestalten.

Wenn er hierbei familiären Rückhalt erfährt, in einen Beruf zurückkehrt, Zugehörigkeit in Gruppen und Vereinen hat, umso besser. Zusätzlich muss er aber das Stigma der Vorstrafe ausgleichen und gegen Vorurteile ankämpfen. Nicht selten kommt es zu Vorwürfen, Diskriminierungen, Verdächtigungen und Misstrauen, die durch die Umwelt bestätigt werden. Darüber hinaus kommen noch Erfahrungen wie Verarmung und Vereinsamung hinzu, die zu einem schnellen Rückfall führen können. Viele Gefangenen reagieren angesichts solcher Perspektiven mit Angst und Unsicherheit je näher der Entlassungstermin kommt.

Die Entlassungsvorbereitung ist eine entscheidende Phase des Vollzuges. Die erfolgreiche Eingliederung (§ 3(3) StVollzG) kann durch entsprechende Maßnahmen erheblich gefördert werden. Die Anstalt muss den Betroffenen dabei RECHTZEITIG, aus dem Vollzug heraus, unterstützen und die aufbauenden Kontakte mit ehrenamtlichen Helfern, Vermietern, Arbeitgeber und Bewährungshelfern fördern. Die Möglichkeiten der Selbstbestimmung sind begrenzt. Die Justiz wird als ungerecht erlebt.

Die Vorbereitungen sollen "MÖGLICHST FRÜHZEITIG" erfolgen und nicht erst in den letzten Wochen der Haft. Bereits während der Vollzugsplanung ist daraufhin zuzuarbeiten (§ 7(2) Nr. 8 StVollzG). Zur Vorbereitung der Entlassung dient der offene Vollzug (§ 10 StVollzG) und nach §15 (3) StVollzG kann innerhalb von drei Monaten vor der Entlassung zur Vorbereitung Sonderurlaub bis zu einer Woche gewährt werden.

Bei Freigängern kann innerhalb von neun Monaten vor der Entlassung Sonderurlaub bis zu sechs Tagen gewährt werden. In § 74 StVollzG werden die Hilfen zur Entlassung zusammengefasst durch Beratung und Hilfen. Das erscheint jedoch wenig konkret und die unmittelbare Hilfspflicht der Anstalt wird nicht eindeutig benannt. Die Maßnahmen zur Entlassung sollen der aktuellen Situation angepasst werden und müssen bei der Erstellung des Vollzugsplanes frühzeitig berücksichtigt werden.

Auch die Gesellschaft hat ein Interesse, dass die unübersehbaren Problemanhäufungen (Wohnungslosigkeit, Langzeitarbeitslosigkeit, Schulden, Suchtproblematik, soziale Belastungen wie Eheprobleme) in Grenzen gehalten werden. Geschieht keine Vorbereitung so steigt nach den Tagen der Entlassung das Risiko eines Rückfalls.

Auf keinen Fall sollte die Anstalt (äh, dem Gruppenleiter(in)) alles auf den Bewährungshelfer abschieben, denn nur HILFE UND BERATUNG AUS DER HAFT HERAUS macht wirklich Sinn. Zumal viele der Insassen auf Hilfe angewiesen sind und vollzugsinterne Möglichkeiten der Beratung bestimmt gerne annehmen.

Keiner von uns möchte mit einem blauen Müllsack vor dem Tor entlassen werden. Der Übergang aus dem Vollzug in die Freiheit stellt erhebliche Anforderungen an die Betroffenen und an die Bediensteten, die durch eine koordinierte Begleitung unterstützt werden muss damit die Rückfallgefahr niedrig gehalten wird.

Die Reintegration aus der Strafhaft in das Gemeinwesen soll mit der Aufrechterhaltung der sozialen Bindungen gefördert werden was am besten mit Hilfe von Lockerungen umgesetzt wird denn die Familie ist bekanntlich das günstigste Resozialisierungsmittel. Es macht aber keinen Sinn erst kurz vor dem Entlassungstermin in regem Aktivismus auszuarten.


KASTEN

Nach dem Wiedereingliederungsgrundsatz soll der Gefangene auf ein Leben nach der Haft vorbereitet werden, etwa durch:

  • Urlaub zur Entlassungsvorbereitung (§15 StVollzG)
  • Vorverlegung des Entlassungszeitpunktes (§16 StVollzG)
  • Hilfe zur Entlassung (§74 StVollzG)
  • Entlassungsbeihilfe (§75 StVollzG)

KASTEN-ENDE


Dazu sollten wir noch die Einrichtung für die Entlassung (§ 147 StVollzG) hinzunehmen, die die Justizverwaltung verpflichtet offene Einrichtungen oder gesonderte offene Anstalten für die Entlassung vorzuhalten. Der Begriff Einrichtung kann sehr weit ausgelegt werden und somit steht das "Grundrecht der Sozialisierung" auf schwachen Füßen. Das Problem wird verschleiert, denn nicht der gesamte offene Vollzug dient direkt der Entlassungsvorbereitung.

Anspruch auf Überbrückungsbeihilfen (§75StVollzG) nach §5(1)SGBIIsindnichtzuvergleichenmitÜberbrückungsgeld und können auch nach der Entlassung noch gezahlt werden wenn sich herausstellt, dass das am Entlassungstag gezahlte Geld für eine zu kurze Zeit bemessen war und andere Geldleistungen noch nicht fließen.

Das am Entlassungstag ausgehändigte Überbrückungsgeld dient ausschließlich der Sicherung des notwendigen Lebensunterhalts (§51(1)StVollzG) und seiner unterhaltsberechtigten Personen für die ersten vier Wochen. Eine vorzeitige Inanspruchnahme zur Eingliederung des Gefangenen (z.B. Winterkleidung etc.) ist durchaus möglich, wenn der Inhaftierte einer regelmäßigen Arbeit nachgeht.

Natürlich geht es hier auch um den Aufbau eines neuen Hausrates oder um wichtige Gegenstände, wie Bekleidung, Körperpflege etc., die für das Selbstwertgefühl des Entlassenden eine große Rolle spielen.(irrtümlich wird immer vom doppelten Sozialhilferegelsatz ausgegangen; in der VV Nr.1(2) zu §51 wird vom vierfachen Regelsatz gesprochen).

Auch die Fremdeinschätzung bei Ämtern und Vorstellungsgesprächen ist ein wichtiger Aspekt, der nicht unerwähnt bleiben sollte. Selbstverständlich unterliegen Überbrückungsbeihilfen der Unpfändbarkeit (auch keine Aufrechnung). Die Auszahlung dieser Beihilfen kann auch an den Bewährungshelfer oder an eine Betreuungsstelle erfolgen.

Darüber hinaus eignet sich auch die Arbeitsbeschaffung (§ 148 StVollzG) als organisatorische Maßnahme zur Entlassungsvorbereitung. Inwiefern die Vermittlungen der Jobcenter genutzt werden ist nicht hinlänglich bekannt.

Auch auf die Beratungs- und Vermittlungsfunktionen des Anstaltsbeirates (§ 162 StVollzG) darf hingewiesen werden. Er kann Sorge tragen, dass die Öffentlichkeit(Kontaktpersonen, Arbeitgeber etc.) so früh wie möglich in die Entlassungsvorbereitungen mit eingebunden wird.

Das hört sich alles sehr geschmeidig an aber wie sieht die Wirklichkeit aus? Wir haben uns umgehört und sind schnell fündig geworden, dass die Umsetzung der Entlassungsvorbereitungen doch sehr mangelhaft sind.

Ein Inhaftierter mit einer Strafdauer von 1,6 Jahren, vorbestraft und Strafrest von 3 Monaten erzählte uns von seinen unergiebigen bis unerhörten Gesprächen mit seinem GL. Seinen Einwand er sei ohne festen Wohnsitz begegnete der GL mit der Bemerkung "nach Aktenlage können sie in einem Männerwohnheim unterkommen, ob sie noch 10 Jahre oder 4 Monate haben von mir bekommen sie nichts". Wir meinen rückfallvermeindende Wiedereingliederung sieht anders aus.

Ein anderer Fall. Ein 24-Jähriger Ersttäter, Strafdauer vier Jahre, Strafrest drei Monate. Seine devoten Bemühungen zu Entlassungsvorbereitungen begegnete der GL mit "wer weiß was da sonst noch passiert". Der Abgewimmelte hat dem Verbal-Bombardement wenig entgegenzusetzen. Von so viel Fachkenntnis und Sprachgewalt eingeschüchtert wagen die meisten keinen Widerspruch.

Ein Leserbrief aus Delmenhorst erreichte uns diese Woche: »Erst sechs Monate vor Entlassung Freigänge zu bekommen, um Job und Wohnung zu finden, waren für mich zu wenig. Drei Monate vor TE fand ich einen Job. Bis zur Entlassung hatte ich aber gerade mal ein Pensionszimmer, wofür schon ein Drittel meines Überbrückungsgeldes drauf ging. Den Arbeitsvertrag musste ich wieder zerreißen, weil ich nicht mehr rechtzeitig eine Wohnung fand. Als Ex-Knacki Arbeit zu finden ist ja schon mehr als Glück, alles wegzuwerfen mangels Wohnraum, ist aber letztlich auf Justiz-Vorschriften zurückzuführen.«

In einem Gespräch mit der "Freien Hilfe Berlin e.V." wurde uns erklärt, dass die Entlassungsvorbereiter zur Vorklärung zum einen von den Gruppenleitern zugeführt werden und zum anderen selbst aktiv sind. "Die Unterkunft nach der Haft ist zu klären".

Deshalb sieht sich die Freie Hilfe als wichtiger Ansprechpartner und weil »der Blick nach draußen« vorhanden ist. »Wohnen, Schulden und Süchte« sind die großen Themen. Dies ist der Schwerpunkt der sozialpädagogischen Unterstützung. Es werden Angebote unterbreitet aber die Wünsche können nur begrenzt bedient werden. Nicht jeder Inhaftierte möchte ein betreutes Wohnen. Die Anzahl der Wohnheimplätze sind nicht unendlich und nicht alle Insassen erfüllen die Voraussetzungen. »Die Entlassungsgefahr mit dem blauen Müllsack ist trotz allem gegeben, obwohl das Entlassungsloch möglichst vermieden werden soll«.

Die Freie Hilfe kann nicht dafür sorgen, dass Ausgänge durchgeführt werden, denn die vollzuglichen Abläufe obliegen der Anstalt. Selbstverständlich stehen auch noch andere Organisationen und Vereine für Entlassungsvorbereitungen zur Verfügung:

  • Berliner Stadtmission
  • Sbh Straffälligen- und Bewährungshilfe Berlin e.V.
  • Mann o meter
  • Carpe Diem
  • Universal Stiftung Helmut Ziegner
  • FSI Freie Schuldner- und Insolvenzberatung im Strafvollzug

Die Erlebnisberichte zeichnen ein sehr düsteres Bild der gängigen Praxis. Man hat das Gefühl, dass die Beratungsgespräche zurückgegangen sind. Dementsprechend haben die Gefangenen weniger Gelegenheiten ihre Entlassung aktiv vorzubereiten und ihre Rückführung in ein Leben in Freiheit schrittweise zu erproben.

Die meisten Gefangenen stehen kurz vor der Entlassung, ohne das sie darauf vorbereitet worden sind. Spätestens hier zeigt sich die ganze Absurdität des modernen Freiheitentzuges. Wie soll sich der Inhaftierte in Unfreiheit auf ein Leben in Freiheit vorbereiten? Strafe ohne Rücksicht auf die soziale Sinnhaftigkeit der Buße, also darauf, ob die Strafe dem Geschädigten oder der Gemeinschaft insgesamt nützt. Der Gefangene soll darben und sühnen so lesen wir es in den Medien. So wird die Rache gestillt und Sühne gelebt. Entlassungsvorbereitende Maßnahmen werden von Voraussetzungen abhängig gemacht, die zu erfüllen der Inhaftierte schon aus Unkenntnis der Forderung nicht in der Lage ist. Der Hilfesuchende könnte auf die falsche Umlaufbahn geraten und der weitere Weg wäre vorprogrammiert.

Die Qualität des Vollzuges bemisst sich also daran, ob alle geeignete Gefangene Lockerungen erhalten (sie müssen es ja per Gesetz). Der Trend der Lockerungsreduzierung ist aber deutlich festzustellen.

Könnte man nicht Informationsveranstaltungen zu Entlassungsvorbereitungen veranstalten, die von unterschiedlichen sozialen Diensten abgehalten werden?

Erste Kontakte könnten hergestellt werden und frühzeitig wichtige Informationen zusammengetragen werden. Die Maßnahmen sollten darauf ausgerichtet sein die Menschen in normalen Wohn- und Lebensverhältnissen zu überführen.


Fazit:

Wir hoffen, dass wir genügend Denkanstöße für Insassen und Bedienstete geliefert haben, um das Thema Entlassungsvorbereitung erneut in den Fokus zu stellen.

Die noch bestehenden Integrationschancen dürfen nicht verspielt werden. Es ist ein Bereich, der uns alle berührt einschließlich der Gesellschaft, die uns ja wieder aufnehmen soll (muss?).

Die grundlegenden Probleme der Haft sind mehr oder weniger die große Unkenntnis, das fehlende Einfühlungsvermögen sowie die Verantwortungsübernahme.

Um sich zu entwickeln sind zwischenmenschliche Beziehungen unabdingbar. Alleinsein bedeutet Abbau sozialer Kompetenzen.

Natürlich hat jeder Inhaftierte andere Voraussetzungen und Vorstellungen aber ein Mindestmaß an sozialer Verantwortung seitens der Justiz wäre wünschenswert.

Am Ende bleibt die Hoffnung nicht von der erbarmungslosen Vollzugsmaschine überwältigt zu werden.

*

Quelle:
der lichtblick, 47. Jahrgang, Heft Nr. 363, 2/2015, Seite 12-15
Unzensiertes Gefangenenmagazin der JVA Berlin-Tegel
Herausgeber: Redaktionsgemeinschaft der lichtblick
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veröffentlicht im Schattenblick zum 15. August 2015

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