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LICHTBLICK/183: Die Würde des Gefangenen ist antastbar


der lichtblick - Gefangenenmagazin der JVA Berlin-Tegel
Heft Nr. 345 - 4/2010

Die Würde des Gefangenen ist antastbar

von Michael Stiels-Glenn, Kriminologe und Psychotherapeut


Nach Artikel 1 Grundgesetz ist die Würde des Menschen unantastbar. Dieser Satz bedeutet eigentlich: "Man kann die Würde des Menschen nicht antasten, es geht nicht." Es geht aber! Nichts ist leichter, als die Würde des Menschen anzutasten, besonders wenn er Straftäter ist. Der Gesetzgeber hat wahrscheinlich gemeint: "Die Würde des Menschen darf nicht angetastet werden." Er hätte dann erklären müssen, was unter der Würde des Menschen zu verstehen ist. Er hätte konkret angeben müssen, durch welche Akte die Würde verletzt werden kann. Es wäre naiv, den Schöpfern des Grundgesetzes schon im ersten Satz Gedankenlosigkeit zu unterstellen. Ein treffendes Zitat lautet: "Als sie ansetzten, die Würde des Menschen zu konkretisieren, hatten sie nicht bedacht, dass es mehr Möglichkeiten gibt, Menschen zu erniedrigen, als von hinten auf sie zu schießen."

Vor dem 8. Jahrhundert war Würde zunächst die äußere, gesellschaftliche Bedeutung. Die absolute Bedeutung von Rang, Stand, Amt, Ansehen, wich Mitte des 18. Jahrhunderts im Zuge der Aufklärung zu einer Norm des inneren Seins und Handelns. "Würde umfasst Sein und Habitus geistig und sittlich autonomer Wesen, in denen sich ihr innerer Wert ebenso kundtut wie ihr Anrecht auf Selbstachtung und Achtung seitens der Umwelt." (Deutsches Wörterbuch der Gebrüder Grimm 2004). Der Verlust der Würde bedeutet, den Subjektcharakter als Mensch gleichberechtigt "auf Augenhöhe" zu verlieren, bedeutungslos in den Augen derer, von denen man abhängt, bloßgestellt und schutzlos den Blicken Anderer ausgesetzt sein, erniedrigt, hilflos und inkompetent zu erscheinen.


Wodurch wird die Würde des Strafgefangenen gefährdet?

Die Angst bei Justizverwaltung, Psychologen und Mitarbeitern, für etwaige Rückfälle verantwortlich gemacht zu werden, ist in den letzten Jahren erheblich gewachsen. In diesem Fall kann man nichts verkehrt machen, wenn man Gefangene nicht lockert und nicht vorzeitig entlässt. Ich unterstütze eine sorgfältige Arbeit mit inhaftierten Straftätern, was eine gründliche Einschätzung der persönlichen Risikofaktoren umfasst. Aber die geschilderte Haltung dient nach meinem Gefühl manchmal nicht so sehr der öffentlichen Sicherheit wie der Absicherung der eigenen beruflichen Position bzw. Karriere. Nun ist das durchaus legitim, wenn es öffentlich geäußert wird und somit einer Kontrolle im Diskurs unterliegt. Aber nach außen wird etwas Anderes behauptet! Nicht die eigenen Ängste und Ambitionen, sondern die Eigenarten des Gefangenen seien die Ursache, weshalb man nicht lockern könne.

Die Würde des Strafgefangenen wird in Deutschland nicht mehr (oder noch nicht wieder?) durch Folter, Drohungen oder offene Entwertungen gefährdet. Das ist heute viel subtiler als früher. Worum es geht, macht ein kleiner Ausflug in die Antike deutlich.


Der Mythos des Sisyphos

... Für allerlei Betrug traf Sisyphos in der Unterwelt die Strafe, dass er einen schweren Marmorstein, mit Händen und Füßen angestemmt, von der Ebene eine Anhöhe hinaufwälzen musste. Wenn er aber schon glaubte, ihn auf den Gipfel gedreht zu haben, so wandte sich die Last um und der tückische Stein rollte wieder in die Tiefe hinunter. So musste der gepeinigte Verbrecher von neuem und immer von neuem wieder das Felsstück empor wälzen, dass der Angstschweiß von seinen Gliedern floss.

Diese Vergeblichkeit der individuellen Bemühungen ähnelt der Lage von Strafgefangenen, insbesondere bei Langstrafen und unbefristeten Strafen. Wenn man die Würde von Strafgefangenen prüfen soll, muss geprüft werden, ob im Straf- und im Maßregelvollzug die Insassen sich als

- sittlich und geistig autonome Wesen erleben können, die
- einen inneren Wert haben und für die
- ein Recht auf Selbstachtung und
- Achtung seitens der Umwelt besteht.

Oft scheinen es Kleinigkeiten zu sein, an denen die Würde von Strafgefangenen sich definiert. Deshalb mögen manche meiner Beispiele verwundern. Es geht immer um Situationen, in denen Gefangene

- sich nicht als Mensch gesehen fühlen, in denen sie
- völlig hilflos und ausgeliefert warten müssen,
- ihnen keine Entscheidungen oder gar Planungen möglich sind,
- in denen man ihnen Antworten und Auskunft verweigert,
- alle Lebensäußerungen pathologisiert und kriminalisiert und
- in denen sie von oben herab behandelt werden.


Einige praktische Beispiele

Gefangene werden in Gesprächen, Stellungnahmen, manchmal auch in Gutachten als "Zeitbomben" dargestellt. Bomben sind Maschinen, keine Menschen. Die haben keine Entscheidungsfreiheit, die können sich nicht verändern - die ticken mechanisch, bis sie explodieren. Der Begriff "Zeitbombe" spricht Gefangenen den Subjektcharakter ab, bestreitet sein Mensch sein, genau wie Begriffe wie "ab-artig", "a-normal". Damit gehören sie nicht mehr zur menschlichen Gattung, werden entmenschlicht. Was ist da mit dem inneren Wert und der Achtung durch die Umwelt?

Strafgefangene werden ausschließlich als Risikoträger gesehen: Person und Tat werden gleichgesetzt. Er ist ein Vergewaltiger - nicht ein Mann, der Vergewaltigungen begangen hat. Er ist ein Kinderschänder, nicht ein Mann, der Kinder sexuell missbraucht hat. Dieser Mensch ist nichts mehr außer seinem Delikt, er ist ein wandelndes Risiko. Dabei wird Schindluder mit dem Begriff der Gefährlichkeit getrieben - ein schillernder Begriff, der theoretisch zweifelhaft ist. Der Gefangene wird auf sein Delikt reduziert - gleichgültig, welche Bemühungen er in der Zwischenzeit unternommen hat. Das Heute, die Gegenwart wird mit dem damals, der Vergangenheit verwechselt. Die Vergangenheit - seine Delikte - tragen den Sieg über die Gegenwart davon. Und wenn man ihm unterstellt, er werde mit hoher Wahrscheinlichkeit rückfällig, dann gibt es für den Gefangenen auch keine Zukunft.

Entsprechend äußern sich Vollzugsbedienstete abwertend über Gefangene. Auch Psychologen beteiligen sich daran: Der Satz "Wir müssen mal sehen, ob Sie nicht wieder kleine Mädchen umbringen." nach fünfzehnjähriger Haft ignoriert alle therapeutischen Prozesse und Bemühungen des Gefangenen, sich selbst zu verändern. Hier wäre mehr Sensibilität gefragt, z. B. mit Formulierungen: "Was haben Sie gelernt, um in Zukunft ähnliche Delikte zu verhindern?"

Gefangene sind einer ständigen und einseitigen Bewertung ihres Handelns ausgeliefert. Dabei werden Äußerungen und Verhalten oft pathologisiert: Ein Patient im Maßregelvollzug wurde nach einer disziplinarisch bedingten Rückverlegung in die geschlossene Abteilung einem halben Jahr ungeduldig und fragte oft nach seiner Verlegung. Das Team dokumentierte das als Pathologie: Er habe keine Geduld. Dass eine solche Reaktion eigentlich normal ist, darauf kommt niemand der Beschäftigten.

Besonders schwierig ist es, wenn sein Verhalten und seine Äußerungen ausschließlich aus der Deliktperspektive gewertet werden: Ein sehr junger, unreif wirkender Patient im Maßregelvollzug schlug mit der Faust gegen Wände und Türen, wenn er verärgert oder frustriert war. Er suchte in solchen Situationen engen Kontakt zum Personal und äußerte, es werde sicher etwas geschehen, wenn man ihn nicht rasch in die Isolierung bringe. Auch hier wurde das Verhalten zu eng verstanden mit Blick auf aggressiv gefärbte Einweisungsdelikte. Die Möglichkeit, dass auch dieser junge Patient mit seinem Verhalten symbolisch deutlich machte, dass man seinen Zorn - und damit seine Männlichkeit - ernst nehmen sollte, wurde nicht in Betracht gezogen. Dabei war sich das Personal einig, dass der Patient wenig Potenzial für körperliche Übergriffe hatte.

Ein anderer Gefangener mit einem Tötungsdelikt, der zur Tatzeit sehr verschlossen war und mit niemandem kommunizieren konnte, wie frustriert er war, äußert dies mittlerweile gegenüber Beamten. Die sehen das aber nicht als Veränderung, sondern als Beleg für eine weiter bestehende Gefährlichkeit. Dabei spricht der Gefangene darüber, dass er "am liebsten jemandem etwas vor die Fresse hauen" würde - aber er macht das nicht, sondern redet über seine Impulse.

Wenn aber alle Bediensteten so reagieren, als würde er gleich real schlagen, ist bei dem Gefangenen das Gefühl vorprogrammiert, dass er nicht verstanden wird, wenn er redet. In der Therapie wird natürlich besprochen, was er mit seinen Äußerungen bewirkt. Aber die pathologisierende Sichtweise des Personals erschreckt mich immer wieder. Übrigens: Patienten, die immer als "Monster" gesehen werden, werden diese Bewertung von außen irgendwann einmal übernehmen - vor allem wenn das der einzige Bereich ist, in dem sie sich als Männer ernst genommen fühlen. Zuschreibungen haben immer Wirkung auf die Identität.

So äußerte ein seit Jahren untergebrachter intelligenzgeminderter Patient in Abständen dem Personal gegenüber, er denke "wieder an kleine Jungen". Dies wurde im Team als Fortbestehen pädophiler Neigungen verstanden und mehrfach mit Wegnahme von Lockerungen beantwortet. Auch als die Behauptungen dieses Patienten widerlegt werden konnten, dass er an bestimmten Tagen im Garten der Station kleine Jungen angesprochen und durch den Zaun sogar berührt habe, stellte sich niemand im Team die Frage, was dies zu bedeuten habe. Die Angst vor dem Rückfall wurde zur einzig beherrschenden Perspektive. Angesichts einer instabilen männlichen Identität des Patienten, der ja wenig hatte, mit dem er als Mann anderen (auch dem Personal) imponieren konnte, war seine "Gefährlichkeit" das einzige, vor dem alle Respekt bekamen und alarmiert waren. Und angesichts des lange frustrierten Wunsches dieses Patienten nach Lockerung begann er, fast sadistisch, seine Behandler zu strafen, indem er sie in Angst versetzte.

"Sie sind ein Endstrafenkandidat!" als Begrüßungssatz eines Vollzugspsychologen ist nicht unbedingt geeignet, die Achtung vor der Möglichkeit von Menschen auszudrücken, sich selbst zu verändern. Selbst wenn Gefangene an sich arbeiten wollen, können sie nicht immer mit der Unterstützung des Vollzugs rechnen. Da kämpft ein Gefangener lange darum, Therapie machen zu dürfen. Zu den vollzugsinternen Kräften hat er nach dem Weggang einer Psychologin in eine andere JVA nicht unbedingt Vertrauen. Der Vollzug verweigert sich dem Wunsch des Gefangenen, eine externe Therapie machen zu dürfen: er habe seine Veränderungsmotivation nicht unter Beweis gestellt, weil er trotz hoher Motivation eine sozialtherapeutische Behandlung in einer anderen Anstalt nach wenigen Wochen abbrach. Der Gefangene beantragte weiterhin Behandlung durch einen externen Therapeuten. Der Richter der StVK schaltete sich ein, um die Meinung eines externen Therapeuten zu erhalten. Die Anstalt verweigerte dem Therapeuten den Kontakt mit dem Gefangenen. Es liege schließlich nur ein Brief des Richters vor, nicht aber ein Beschluss. Erst die Androhung der sofortigen Beschwerde schaffte Abhilfe.

Die Äußerung: "Wir können aber noch nicht sicher sein, ob nicht doch ein Risiko von Ihnen ausgeht!" in Gesprächen, Stellungnahmen und in Begutachtungen drückt ein tiefes Misstrauen gegenüber Gefangenen aus: Vollzugspsychologen und Gutachter benennen die Risikofaktoren, viel besser aufgelistet als früher. Geprüft wird aber seltener, ob auffälliges Verhalten deliktrelevant ist. "Vergessen" und umgedeutet werden von Psychologen und Gutachtern die gemachten Entwicklungen, vergessen werden Stärken, Ressourcen und äußere Hilfen.

Ein Gefangener, der gut reden kann und auch beim Personal nach Bündnispartnern sucht, wird als manipulierend erlebt und nicht als jemand, der sich Unterstützung holt. Die Beamten, die diesen Gefangenen unterstützen, werden innerhalb des Stabes als Marionetten abgewertet. Als der Gefangene sich daraufhin zurückzog, galt er als "nicht einschätzbar"!

Die Angst vor dem Rückfall ist verständlich - aber sie geht oft zu Lasten des Gefangenen. Gerade weil es "Null Risiko" nicht gibt, sind die Gefangenen hilflos dieser Argumentation ausgeliefert.

Das Beharren auf hundertprozentige Sicherheit kehrt Beweislasten um. Das führt dazu, dass Gefangene, die eigentlich entlassen werden könnten, in Haft bleiben. Sie haben keine Chance zu beweisen, dass sich Gutachter und Psychologen geirrt haben. Die falsch ungünstige Prognose hat für Gerichte und Gutachter völlig anderen Stellenwert als für Gefangene. Die sitzen weiter ein und warten.

Oft wissen Gefangene nicht genau, warum sie nicht gelockert werden! Immer fehlt noch etwas! Stellungnahmen geben dem Gefangenen weder Perspektiven noch Hinweise, was er tun kann, um die ungünstige in eine günstige Prognose umzuwandeln. Die unabhängige Expertenkommission forderte deshalb die Entwicklung von Instrumenten und Interventionsstrategien, damit aus ungünstigen Prognosen günstige werden.

Stattdessen werden Gefangene vertröstet, gerade Fachdienste verweigern Auskünfte über Zeitdauer oder Verfahrensabläufe. Eine empathische Einfühlung in den Gefangenen seitens des Personals findet nicht häufig statt (obwohl vom Gefangenen gerade empathische Einfühlung in andere erwartet wird). Gefangene erleben sich in solchen Situationen völlig hilflos und ausgeliefert. Alles was sie zur Verbesserung ihrer Situation tun können bzw. getan haben, greift nicht.

So hat z. B. ein Gefangener zwei Psychotherapien absolviert. Gutachter bestätigten, dass er Fortschritte gemacht hat und gelockert werden kann. Der zuständige Psychologe erklärt nun, Lockerungen seien nur möglich, wenn der Klient sich zu einer medikamentösen Behandlung bereit erkläre. Fachmann in Fragen der Pharmakologie ist dieser Psychologe nicht. Er kann auch nicht begründen, warum gerade bei diesem Gefangenen ein Antiandrogen eingesetzt werden soll - damit fehlt jede Indikation. Gutachter und Gericht halten eine solche Behandlung auch nicht für nötig. Aber davon scheinen Lockerungen abzuhängen. Ein anderer Gefangener soll nach Absolvieren einer Gruppe, einer internen und einer externen Psychotherapie jetzt in eine Sozialtherapie gehen. Eine andere Psychologin schreibt in einem Gutachten, ein Sadismus sei nicht auszuschließen. Davon hatten mehrere forensisch erfahrene Vorgutachter nie etwas bemerkt. Die Unterlagen der Anstalt gaben das nicht her. Aber seitdem geistert die Totschlagdiagnose eines "nicht auszuschließenden" Sadismus durch alle Stellungnahmen.

Am meisten problematisch für die Würde des Gefangenen erscheint mir der Umgang des Vollzugs mit der Zeit. Vollzugsbedienstete sagen häufig: "Wir warten erst einmal ab! Zu gegebener Zeit werden wir prüfen, ..." Oder humorig: "Der läuft uns ja nicht weg!" Fachleute wissen um die Ungeduld mancher Inhaftierter. Aber manche warten endlos. Entscheidungen im Vollzug werden oft hinausgeschoben. Es gibt häufigen Wechsel in den Zuständigkeiten, dann ist jedes Mal erneutes Einarbeiten erforderlich; Krankheit, Urlaub, andere Prioritäten - all das mag verständlich sein - aber es geht um die Lebenszeit von Inhaftierten! Gefangene klagen, wie schwer die Zeit zu ertragen ist, in der sie auf Entscheidungen zu warten haben - insbesondere dann, wenn keine Fristen bekannt sind. Dann wird die Hilflosigkeit, das Gefühl des Ausgeliefertseins besonders groß. Hier wäre es hilfreich, wenn - wie im Verkehr zwischen Behörden und Bürger längst üblich - Eingangsbescheide mit Hinweisen zur voraussichtlichen Dauer der Bearbeitung, Daten für Zwischenbescheide, usw. erteilt würden.

Ein Gefangener stellt einen Antrag auf Lockerungen zur Vorbereitung der bedingten Entlassung. Die zuständige Gutachterin hatte bereits zweimal positiv Stellung genommen, die StVK war zur bedingten Entlassung bereit: Allerdings bestand sie auf Lockerungen zur Entlassungsvorbereitung. Die zuständigen Aufsichtsbehörden, die diese Stellungnahmen kannten, brauchten ein geschlagenes Jahr, um zu entscheiden. Nicht einmal der Verteidiger des Gefangenen riskierte eine Beschwerde - alle befürchteten, dass Nachfragen erneute Verzögerungen mit sich brächten.

Dieser Gefangene fühlte sich ohnmächtig und kämpfte sichtlich mit seiner Verzweiflung. Wer er eigentlich sei, dass man mit ihm so verfahren könne? Hier, im Gefühl der Scham und Entwertung, zeigt sich, wie Würde und Stolz von staatlichen Institutionen zerstört werden können. Das sind keine Einzelfälle! Man kann mit Entscheidungen leben - auch wenn sie negativ sind. Gegen Entscheidungen sind Rechtsmittel möglich. Das Hinauszögern von Entscheidungen ist viel schwieriger. Ich halte gerade solche Praktiken für rechtlich ebenso bedenklich wie ethisch verwerflich.

Wegen der wesentlich strenger werdenden Praxis der Aufsichtsbehörde will ich auf folgenden Effekt hinweisen: Wenn positive Stellungnahmen von Vollzugspsychologen oft genug zurückgewiesen werden, ist das Ergebnis Resignation: "Warum soll ich mir die Schreibarbeit machen, wenn das Ergebnis sowieso negativ ist?" fragen sich viele Psychologen. Niemand organisiert sich gern Misserfolgserlebnisse - also unterlässt man die Stellungnahmen oder schreibt sie so, dass sie positiv beschieden werden, also strenger.

Zum anderen besteht bei vielen Psychologen, die mit befristeten Arbeitsverträgen (oft nur für wenige Monate) leben müssen, die Sorge, dass eine Übernahme schwieriger werden könnte, wenn man der Aufsichtsbehörde - die ja auch für Einstellungen und Beförderungen zuständig ist - zu liberal erscheint. Im Ergebnis werden Stellungnahmen so geschrieben, wie die Aufsichtsbehörde sie wünscht.

Und wenn der Gefangene Entscheidungen herbeiführen will oder sich gegen Entscheidungen wehrt? In mehr als einem Fall habe ich erlebt, wie gekränkt selbst höhere Vollzugsbedienstete reagieren, wenn Gefangene den Rechtsweg beschreiten. "Sie haben hier erst mal gar keine Rechte!" war eine der Äußerungen. Das Einschalten von Anwälten oder Gerichten wurde als "Frechheit", als persönlicher Angriff erlebt, das Einschalten politischer Aufsichtsgremien wie des Beschwerdeausschuss oder der Strafvollzugskommission erst recht. Das führte zu Drohungen wie: "Sie machen mir viel Arbeit - überlegen Sie sich das gut." Sich rechtlich zu wehren, wird Gefangenen als Aggression ausgelegt und ist damit deliktnahe. Dabei ist in einem Rechtsstaat die Verfolgung der eigenen Interessen durch Rechtsmittel und den Rechtsweg legal und legitim.

Dies ist in jedem Fall besser, als seinen Ärger über Gewalt und Straftaten zu äußern. Herr Prof. Tondorf hat bei einem Vortrag in Eickelborn darauf hingewiesen, dass der Vollzug viel vom Obrigkeitsstaat habe: dem Rechtsanwalt stehe nicht einmal das Recht auf Akteneinsicht zu. Er lege in diesen Fällen keine Rechtsmittel mehr ein, sondern wende sich an den Petitionsausschuss.

Gefangene haben wenig Spielraum: Droht er mit Gewalt, ist er therapeutisch nicht erreichbar, versucht er es mit rechtlichen Mitteln, gilt er als Querulant. Sucht er Gespräche mit dem Personal, unterstellt man ihm Manipulation. Bleibt also nur die Unterwerfung? Aber solche Gefangenen werden im Vollzug als schleimig beschrieben.

Ehe und Familie stehen unter besonderem Schutz des Staates: Gefangenen, die im Vollzug mit ihren Frauen Kinder zeugten, wurde in zwei Fällen unterstellt, sie täten das nur, um Lockerungen zu erhalten. Beide Gefangene haben ein sehr gutes und enges Verhältnis zu Frau und Kindern mit regelmäßigen Besuchen, was viele Beamten bestätigten. Trotzdem werden mit solchen kränkenden Unterstellungen nicht nur die Gefangenen entwürdigt, sondern auch deren Partnerinnen.

Hierzu passt, dass in Einzelfällen Ausführungen zur Familie erschwert werden. Teilnahme an Bestattungen oder Geburten, Besuche im Krankenhaus finden nicht oder nur mit Fesselung statt - auch bei Gefangenen, die nicht als fluchtgefährdet eingeschätzt werden. Da habe ich manchen Gefangenen vor Wut und Hilflosigkeit, aber auch vor Scham weinen sehen.

Ein Gefangener wehrte sich gegen ein Foto in der elektronischen Gefangenendatei, weil dies rechtlich nicht zulässig sei. Er wies darauf hin, dass jeder an die Gefangenendaten kämen, selbst z. B. Zivilangestellte in der Anstaltsdruckerei. In seinem Datensatz seien z. B. auch Name, Vorname, Geburtsdatum, Anschrift der Ehefrau, was in die Besucherkartei gehöre, nicht aber zu den Gefangenendaten. In Zeiten von Intranet und der kommenden Vernetzung im Internet die Daten nicht sicher vor fremden Zugriffen seien.

Nach einer Therapiesitzung schrieb ich einem Gefangenen einen Brief, in dem Reflektionen sehr intimer Themen zur Sprache kommen. Dieser Brief wird von Vollzugsbediensteten geöffnet, obwohl bekannt ist, dass der Gefangene bei mir in Therapie ist. Man übergibt ihm den Brief grinsend und mit zweideutigen Bemerkungen. Das Ergebnis beim Gefangenen sind Scham und Zorn.

Alle Beispiele sind nicht dramatisch, sondern stellen eher den Alltag dar, den externe Therapeuten im Vollzug erleben. Viele Gefangene innerhalb von Straf- und Maßregelvollzug fühlen sich heute dem Sisyphos verwandt. Egal, was sie selbst unternehmen, egal, wie sehr sie sich bemühen: Es reicht nie! Und wenn etwas die Würde beschädigt, dann ist es das Gefühl, hilflos und inkompetent zu sein. Dann ist es das Gefühl, gedemütigt, bloßgestellt und den Blicken aller ausgesetzt zu werden. Dann ist es das Gefühl, dass alles, was man selbst einleitet, verpufft.

Damit ist die Würde von Strafgefangenen heute stets bedroht. Dabei geht es nur selten um Sadismus bei den Beschäftigten. Entwürdigungen finden oft aus Gedankenlosigkeit und "Business as usual" statt. Ich habe keine Probleme damit, wenn Menschen inhaftiert werden, die solche psychischen Probleme haben, dass Andere zu schwerem Schaden kommen und weitere Straftaten zu erwarten sind. Ich habe erhebliche Probleme, wenn diese Menschen dann jahrelang verwahrt werden, wenn nur so getan wird, als würde man mit ihnen arbeiten. Gefangene sollten die Zeit der Freiheitsentziehung vom ersten Tag an nutzen können, um daran zu arbeiten, ihre eigenen Risikofaktoren kennenzulernen und dafür eigene Frühwarnsysteme und realisierbare Notfallpläne zu entwickeln.

Hintergründe für diese Haltung: Politiker weichen vor der öffentlichen (und veröffentlichten) Meinung über Sexualstraftäter zurück bzw. nutzen die Stimmung, um daraus politisches Kapital zu schlagen. Sie lenken mit diesem Thema von anderen Missständen ab. Ihnen geht es selten um die Sache, sie haben den nächsten Wahltermin im Auge. Die Würde des Strafgefangenen spielt keine Rolle - sie kostet höchstens Wählerstimmen.


"Was beliebt, ist auch erlaubt"? (Wilhelm Busch)

Altkanzler Schröder hat Sexualstraftäter mit seinem Satz: "Solche Täter sollte man wegsperren - und zwar für immer!" zum Abschuss freigegeben. Schröder weiß als Jurist sehr genau, welche rechtlichen und ethischen Erwägungen gegen eine solche populistische Aussage stehen. Seit dieser Äußerung, immerhin von einem der mächtigsten Männer im Staat, ist diese Gefangenengruppe gesellschaftlich zur Ächtung freigegeben - vogelfrei wie im Mittelalter. Jeder kann Hand anlegen an sie, jeder kann Aussagen über sie treffen - auch Beschäftigte in Polizei und Justiz. Rechte der Täter oder ethische Überlegungen verschwinden.

Die (Grund-)Rechte der Gefangenen auf Resozialisierung werden dem (Rechts-)Anspruch auf Sicherheit vor Kriminalität gegenübergestellt. Damit werden alle zu Tätern, die sich für die Rechte von Gefangenen einsetzen: und zwar Täter an potenziellen (!) Opfern! Das heißt: Menschen, die noch gar kein Opfer sind, aber eines werden könnten. Und die müssen putativ geschützt werden - vor den Tätern wie vor denen, die sich für Täter einsetzen. Die Würde des Täters wird dagegen als vernachlässigbar zurückgestellt. Es spricht für die Unfähigkeit zur Spannungstoleranz der Gesellschaft, dass hier stets im Modus des "Entweder - Oder" argumentiert wird.

In der so genannten Risikogesellschaft gibt es unkalkulierbare, nicht mit den Sinnen wahrnehmbare Risiken wie Ozon-Loch, BSE oder Klimaveränderung, Krieg und Sozialabbau. Diese verunsichern und bedrohen die Bürger. Menschen erleben sich als hilflose Objekte von Ökonomie und Politik. Sie sind sich selbst überantwortet und müssen sich zurechtfinden in einer Informationsflut. Information und Kommentar rutschen zusehends zusammen, Redaktionen verstehen sich als Sprachrohr von "schweigenden Mehrheiten". In Kampagnen über Straftäter kanalisieren Medien die vorhandenen diffusen Gefühle von Ohnmacht und Wut. Dies entspricht einer kapitalistischen Mediendynamik: Hearst hat einmal gesagt, Pressefreiheit sei die Freiheit von 200 Reichen, ihre Meinung abzudrucken. Dies gilt auch für den Markt der elektronischen Medien. Mit der Einführung privater TVSender ist die Konkurrenz unter den Sendern - und auch unter den Redakteuren - gewachsen. Dabei wird mit der Technik der Skandalisierung gearbeitet: Nicht die Meldung steht im Vordergrund, sondern die Frage: Wie konnte das geschehen? Wer ist verantwortlich dafür? Und vor allem: Wer wird das nächste Opfer sein? Und daraus entwickelt sich die Forderung: Es muss jetzt etwas passieren - sofort!

Hierdurch entsteht ein großer Druck auf Politik, Verwaltung und Justiz. Man darf nicht glauben, dass dies allein von Redaktionen verschuldet wurde: Es wird berichtet, dass nach Artikeln zum Umgang mit Strafgefangenen über Leserbriefe jeder liberale Tenor sofort und aggressiv zurückgewiesen wird. Die Rezipienten wollen sich und ihre Meinung wiederfinden in ihren Medien. Sie suchen Sensationen. "Hund beißt Mann ist keine Meldung, Mann beißt Hund sehr wohl eine!" Damit entsteht Druck auf Herausgeber, deren Werbekunden sehr wohl darauf achten, was "das Volk" hören und sehen will, damit das Umfeld für die Werbemaßnahmen stimmt.

Es wächst der Wunsch nach klaren Verhältnissen: In den Köpfen vieler wurde der Rechtsstaat zu einer Art Versicherungsgesellschaft, an den man Ansprüche richten kann - auch den nach Schutz vor potenziellen Übergriffen. Psychoanalytiker wiesen vor vielen Jahren darauf hin, dass in der Jagd auf Verbrecher stellvertretend auch das eigene Böse gejagt, die eigenen abweichenden Impulse unter Kontrolle gehalten werden. Medien greifen diese Bedürfnisse auf.

Auch aus diesen Gründen sind wir auf dem Wege zu einem Sonderstrafrecht für bestimmte Tätergruppen. Im Mordfall Moshammer (bei der Debatte über DNA-Tests als polizeiliche Routine) sprach man von "Gefährlichen Rückfalltätern und Sexualstraftätern", 2010 kommt der Begriff der gefährlichen Schwerverbrecher wieder in Mode. Die Gründe hierfür sind weder juristisch, psychiatrisch, psychologisch oder psychotherapeutisch noch kriminologisch - sie sind medial bestimmt. Der Kriminologe Pfeiffer kommentierte, dass seit Jahren weder der Sachverstand der Juristen oder der von Kriminologen oder Therapeuten gefragt sei. Der einzige derzeit anerkannte und wahrgenommene Wissenschaftszweig sei - die Demoskopie.

Der forensische Psychiater Nedopil wies auf den wachsenden Druck auf Gutachter, Richter, Personal des Strafvollzugs und Maßregelvollzugs und auch auf Therapeuten hin. Es grassieren Befürchtungen, den eigenen Namen in den Schlagzeilen wiederzufinden, wenn etwas schief geht. Diese Ängste drücken sich in der Äußerung einer leitenden Verwaltungskraft aus, die in vertrautem Kreis erklärte: "Ich lasse mir doch von keinem Sexualstraftäter auf den Schreibtisch scheißen!" Es ist gut, wenn man mit der Macht, die einem gegeben ist, nicht leichtsinnig umgeht. Aber Behandelnde, Gutachter und Gerichte sollten sich überlegen, wo ihre Verantwortung liegt, wann und wodurch sie dieser Verantwortung nachkommen. Wenn aber die öffentliche Meinung das eigene Handeln und das eigene Urteil bestimmt, dann leiden darunter Fachlichkeit und Ethik des Handelns.


Veränderungen müssen sich lohnen

Man lässt einen Esel einen Karren ziehen, wenn eine Möhre an einer Angel vor seiner Nase hängt. Der Esel läuft, weil die Möhre immer gut erreichbar scheint. Allerdings sind Menschen etwas komplexer als Esel. Werden die erhofften oder gar versprochenen Belohnungen nicht gegeben, so steigt in Zukunft die Dopamin-Ausschüttung im Gehirn nicht, sondern sie sinkt sogar. Sich auf eine Therapie einzulassen trotz früherer schlechter Beziehungserfahrungen und dann zu erleben, es stellt sich kein Erfolg ein, die Mühe bringt keinen Schritt weiter, immer fehlt noch etwas - das demotiviert auf Dauer und es untergräbt das Vertrauen. Hier müssen fachliche Überlegungen auch gegenüber Entscheidungsträgern klarer vertreten werden, denn es kann uns in Zukunft wirklich teuer zu stehen kommen, wenn wir Patienten trotz deren Mitarbeit "am ausgestreckten Arm verhungern lassen".

Manchmal wird Würde auch ganz anders verletzt: Die Würde von Therapeuten und Gutachtern nämlich! Ein einziger Rückfall genügt, um viele erfolgreiche Behandlungen sofort vergessen zu machen. Was überall gilt - nämlich das es hundertprozentige Sicherheit nicht gibt - spielt hier keine Rolle. Es scheint nur der Misserfolg zu zählen. Hier gilt es umzudenken. Zugleich ist in der Arbeit mit Strafgefangenen auch zu sehen, ob sie es schaffen, die Würde derer zu achten (oder das zu erlernen), die sie behandeln. Hier können Therapeuten wie Gutachter Rollenvorbilder sein, wie man sich - ohne überempfindlich oder hoch kränkbar zu werden - selbst schützt.


Was tun?

Oft genügt im Umgang mit Inhaftierten ein bisschen mehr an Sensibilität, um deren Würde zu wahren. Wenn man bei allen organisatorischen Problemen daran denkt, was es bedeutet, wenn man Gefangene vertröstet - es ist deren Lebenszeit hinter Gittern - ist viel gewonnen. Auch Gefangene sind Staatsbürger - egal was der Bundeskanzler öffentlich über sie absondert. Sie haben Rechte und sollten wie Rechtssubjekte behandelt werden: Mit Eingangsbestätigungen, voraussichtlicher Bearbeitungsdauer und qualifizierten Zwischenbescheiden. Wenn Gefangene ihre Interessen mit Rechtsmitteln wahrnehmen, ist das nicht unanständig, sondern ein Schritt auf dem Weg zur Normalität. Konfrontationen mit Verhaltensproblemen sind notwendig (ich mache das in Therapien häufig), aber sie sollten nicht von oben herab erfolgen, sondern "auf Augenhöhe". Beschämungen sollten dosiert erfolgen. Vor allem aber: Auch Sexualstraftäter können sich verändern - und alle Behandler sollten dies unterstellen und in dieser Hinsicht optimistisch sein. Das wahrt deren Würde und erhöht den Therapieerfolg.

Auch wenn öffentliches Engagement für Gefangene derzeit nicht "en vogue" ist, brauchen Inhaftierte auch Fürsprecher. Dazu brauchen die Profis Zivilcourage! Mit dem ständigen Zurückweichen vor öffentlichem Druck, mit der Angst davor, Stellung zu beziehen, wird sich wenig ändern. Vor allem geben wir Gefangenen durch Feigheit und Konfliktscheu ein schlechtes Vorbild. Innerhalb der Institutionen des Vollzuges werden Fehler gemacht, oft auch vertuscht. Wenn Institutionen sich dann manchmal gegenseitig "wasserdicht" machen, dann ist allerdings die Einschaltung öffentlicher Kontrollgremien wie der Strafvollzugskommission oder dem Petitionsausschuss notwendig, um Dampf zu machen.


Der Text basiert auf einem Vortrag beim Symposium des Institut für Konfliktforschung Köln e. V. und wurde bereits 2006 veröffentlicht unter derQuelle:

Die Würde des Straftäters ist antastbar in:
Rode I; Kammeier H; Leipert M (Hrsg.)
Die Würde des Menschen ist antastbar?
Band 28. Münster, LIT-Verlag
Schriftenreihe des Instituts für Konfliktforschung
www.konfliktforscher.de/schriftenreihe.php


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Quelle:
der lichtblick, 42. Jahrgang, Heft Nr. 345 - 4/2010, Seite 14-20
Unzensiertes Gefangenenmagazin der JVA Berlin-Tegel
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. August 2011