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KAZ/310: Krise 2019 - Die zweite Attacke in Größerdeutschland


KAZ - Kommunistische Arbeiterzeitung, Nr. 369, Dezember 2019
Proletarier aller Länder und unterdrückte Völker vereinigt euch!

Krise 2019: Die zweite Attacke in Größerdeutschland

von Stephan Müller


In der Gründungslegende der BRD wird dem dicken heiligen Ludwig Erhard mit der Zigarre nicht nur die Erfindung des frommen Glaubens der "sozialen Marktwirtschaft" zugeschrieben, sondern auch der profunde Lehrsatz, die Hälfte der Ökonomie sei Psychologie. Nachdem man dummerweise nicht erfuhr, welche Hälfte, wurde Optimismus Pflicht im Angesicht der immer heftigeren zyklischen Krisen in der Bonner Republik. Anders im wiedervergrößerten Deutschland. Als todkranker Mann Europas musste der Exportweltmeister in höchster Gefahr gerettet werden mit der Generalattacke auf den Lohn, im Namen des Standortes, zur Abwendung der sich sichtbar ausbreitenden Arbeitslosigkeit infolge der über das Land hereinbrechenden Globalisierung. Die schlechte Nachricht ist: Nach der unheilvoll erfolgreichen Agenda 2010, mit der der deutsche Imperialismus die zunehmende Krisenhaftigkeit der 2000er Jahre zu ungeahnter Profit- und Machtmaximierung zu nutzen wusste, steht uns eine zweite Generalattacke ähnlicher Größenordnung ins Haus.

Hintergrund zyklische Krise

Den Hintergrund bildet die verzögert anrollende zyklische Krise. Im 2. Quartal 2018 hat die Industrieproduktion in der BRD ihren Höhepunkt überschritten und sinkt seitdem. Auch die Auftragseingänge, vor allem auch aus dem Ausland, sinken. Viele große "Leit"-Konzerne, von denen unzählige Zulieferer abhängig sind, haben ihre Aktionäre über die sich verschlechternde Situation informiert. Den Aufträgen und der Produktion folgt mit der üblichen Verzögerung der Arbeitsmarkt. Seit Mai 2019 geht die Zahl der offenen Stellen Monat für Monat zurück, Massenentlassungen werden angekündigt. Auch andere deutliche Indikatoren zeigen in Richtung eines weltweiten zyklischen Abschwungs. Durch die enormen Staatseingriffe nach der globalen Krise ab 2007 hat sich der Krisenzyklus zwar verschoben, wir[1] gehen aber davon aus, dass die zyklische Krise begonnen hat.

Vor der letzten zyklischen Krise 2007/2009 hatte sich der deutsche Imperialismus mit der Agenda eine starke ökonomische Position in der EU geschaffen, die er nutzen konnte, um 2010 die politische Führung in der EU zu übernehmen. Das half, die Krisenlasten der Bankenrettung nicht nur auf die eigene Bevölkerung, sondern mit Hilfe der EU-Troika auch auf schwächere Länder an der EU-Peripherie abladen. Die Krise schwelte nach dem Wiederanlaufen der Wirtschaft 2009 besonders in der EU weiter, weil ein echter Aufschwung ausblieb, der vor allem die Bankbilanzen saniert hätte. Schließlich konnte der Schwelbrand im Eurosystem nur durch die Politik des "billigen Geldes" der EZB mit Nullzins eingedämmt werden. Das Problem der chronischen Überkapazitäten und der mehr oder weniger offen gezeigten Massenarbeitslosigkeit, die ökonomischen Charakteristika der allgemeinen Krise des Kapitalismus, wurde durch das starke Wachstum des riesigen chinesischen Marktes übertüncht. Hohen Gewinnen bei den exportierenden Konzernen standen und stehen noch negative Nettoinvestitionen gegenüber. Hunderte von Milliarden nichtabgeschriebene uneinbringliche "faule" Kredite drohen weiter, wie 1929 Kettenzusammenbrüche bei den Banken auszulösen. Der deutsche Imperialismus hat sich mit dem Euro-Rettungssystem EMS etc. ein Erpressungsinstrument in der EU nicht zuletzt gegen Italien und Spanien geschaffen, deren Bankensystem im Zusammenhang mit der hohen Staatsverschuldung als besonders anfällig angesehen wird.

Besonderheit: Schubweise Durchsetzung neuer Produktivkräfte

Die hohen Gewinne der exportorientierten Konzerne schlugen sich weniger unmittelbar in neuen Produktionsanlagen nieder, als in Investitionen zur Entwicklung einer neuen Betriebsweise in Produktionstechnik und Verwaltung, Stichwort 'Digitalisierung'. Die elektronische Datenverarbeitung bestimmt seit einer Generation die Produktivkraftentwicklung in allen Wirtschaftsbereichen, die sich verdichtet zu einem systemischen Anstieg auf eine neue Stufe, vergleichbar mit der wissenschaftlich-technischen Entwicklung um 1900. Begünstigt durch staatsmonopolistische Eingriffe im militärischen Bereich hat der US-Imperialismus hier seit den 1940er Jahren einen Entwicklungsvorsprung, den er in seiner hegemonialen Stellung nach 1945 ausbauen konnte. Inzwischen ist auch der deutschen Finanzoligarchie klar, dass die Entwicklung der Internet-Plattformökonomie noch stärker auf Weltmarktbeherrschung ausgerichtet ist als die Entwicklung der Großserienproduktion der Ära des Fordismus/Taylorismus im 20. Jahrhundert. In der BRD entsteht ein staatsmonopolistisches Netzwerk von Wissenschaft, Staat und Konzernen rund um die neuen Leitkonzerne Siemens und SAP. Davon kann man einen Eindruck bekommen in den Projekten der "acatech", das ist der Kurzname für die "Deutsche Akademie für Technikwissenschaften". Die Spannweite geht von der Künstlichen Intelligenz (KI) über die "Industrie 4.0", Cybersecurity, Blockchain bis zur Mobilität über alle strategischen Bereiche der Wirtschaftsentwicklung. Die acatech wurde 2002 unter dem Vorsitz von Joachim Milberg, der bis dahin Chef von BMW war, gegründet. 2009 übernahm bis 2018 Henning Kagermann, der Vertrauensmann des SAP-Oligarchen Hasso Plattner. Seitdem ist der acatech-Vorsitz etwas breiter aufgestellt mit zwei Ko-Präsidenten: Karl-Heinz Streibich war Chef der Software AG, vorher bei debis/Daimler, ist Multi Aufsichtsrat u.a. bei der Deutschen Telekom und Siemens Healthineers, außerdem im Präsidium des IT-Unternehmerverbands BITKOM und in vielen anderen Ämtern, die ihn als "Versteher" der Interessen des Monopolkapitals und seiner Bedürfnisse gegenüber Staat, Wissenschaft und auch den nichtmonopolistischen Kapitalgruppen ausweisen. Streibichs Ko-Präsident Diether Spath kommt von der Fraunhofer-Gesellschaft, die von Staats wegen Wissenschaft und Kapital verbindet. Kagermann sitzt nun dem Kuratorium vor, das für die strategische und personelle Ausrichtung der acatech sorgt, ein musterhaftes Netzwerk des staatsmonopolistischen Kapitalismus. Dort findet sich Stefan Quandt, der seinen Angestellten Milberg motivierte, Gründungspräsident zu werden, neben seinem BMW-Entwicklungsvorstand Fröhlich. Multiaufsichtsrätin Köcher vom Meinungsmache-Institut Allensbach trifft Bosch-Kontrolleur Dais, Kley kennt Kreimeyer vom Chemieverband und so weiter ...

Die acatech spielt in der durch die "Digitalisierung" bedingten "Transformation" - Schlagworte, die wir nicht zuletzt von den Gewerkschaftstagen der IG Metall und ver.di kennen - eine Rolle, die mit der Hartz-Kommission der "Agenda" vergleichbar ist.

Die IG Metall, beispielhaft für den DGB, hat sich an die acatech angebunden über ihren Beirat "Zukunft der Arbeit", den IG-Metallchef Jörg Hoffmann, damals noch 2. Vorsitzender, 2015 mit SAP/acatech-Kagermann aus der Taufe hob. In die staatlich organisierte Klassenzusammenarbeit eingebunden ist Hoffmann und die IG Metall über die "Plattform Industrie 4.0", die die Arbeits-, Forschungs- und Wirtschaftsministerien als zentrales Lenkungsinstrument nach Beratung durch acatech gründeten. Der Lenkungsausschuss dieser "Plattform Industrie 4.0" wird rotierend aus dem Kreis ihrer "Leitungsmitglieder" besetzt, zu dem außer den Ministerien noch der BDI, die IG Metall, die Fraunhofer Gesellschaft, die Telekom, Siemens, SAP und aus dem nichtmonopolistischen Kapital die Festo AG gehört.

Entscheidend für die Nutzung der neuen Technologien wie KI oder Robotik wird der direkte Datenverkehr zwischen Maschinen sein, wofür eine sichere Infrastruktur Voraussetzung ist, also Speicherung von riesigen Datenmengen und direkter Zugriff, d.h. Cloud und 5G-Netz.

Deshalb zeigen sich hier die Linien der Machtverschiebung im Imperialismus.

Machtverschiebung

Die "Digitalisierung" verschärft die Probleme der zyklischen Krise in der derzeit noch zentralen Branche der BRD, der Autoindustrie. Der von der Konkurrenz mit japanischen und US-Herstellern geprägte "Diesel-Angriff" auf den US-Markt wurde mit empfindlichen Verlusten bezahlt. Das trifft direkt nicht nur Daimler, VW und BMW sondern auch Bosch, ZF und Conti-Schäffler, die zu den weltgrößten Autozulieferern gehören. Indirekt betroffen sind weite Teile der Gesamtwirtschaft vom Maschinenbau (dominant: Siemens) über Chemie (BASF) bis zur Versicherung (Allianz). Diese Industrien und ihre Finanziers müssen nun die "Diesel"-Verluste hinnehmen und versuchen, sie auf Belegschaft, Kunden, Zulieferer und über den Staat auf den Rest der Wirtschaft abzuwälzen. Gleichzeitig kämpfen sie darum, die Kosten des Umbaus entsprechend ihrer unterschiedlichen "Digitalstrategien" über den Staat ebenfalls wieder weiterzugeben.

Um welche Kapital-Größenordnungen geht es hier? Das zeigt ein Vergleich der aktuellen 'Marktkapitalisierung' (das ist der Preis für die Summe der Aktien) der größten deutschen Konzerne mit den führenden US-Konzernen: Den größten deutschen, SAP mit ca. 150 Milliarden US-Dollar und Siemens mit ca. 100 Milliarden stehen Amazon, Google (jetzt alphabet), Apple und Microsoft gegenüber, deren Bewertung bei jeweils ca. 1.000 Milliarden US-Dollar liegt.

In diesem Licht ist auch eine Meldung vom Anfang des Jahres zu sehen, die ein Zusammenrücken von SAP und Siemens aufscheinen lässt: Langer Tradition entsprechend sollte mit Nathalie von Siemens wieder ein Mitglied des Clans den Vorsitz im Siemens-Aufsichtsrat übernehmen. Im Februar wurde aber nicht sie, sondern der ehemalige Ko-Chef von SAP, Jim Hagemann Snabe, zum Aufsichtsrats-Vorsitzenden gewählt; Nathalie von Siemens begnügt sich mit einem einfachen Aufsichtsratsmandat.

Zur Machtverschiebung gehört auch, dass die beherrschenden deutschen Banken des 20. Jahrhunderts, Deutsche, Dresdner und Commerzbank keine Hauptrolle mehr spielen bei der Finanzierung der Industriekonzerne. Ein Finanzierungssystem für die Finanzmassen, die für die Entwicklung einer Digital-Plattform notwendig sind bis zur Weltmarktbeherrschung, ist in Deutschland nicht vorhanden. Beispiel Amazon: Die hatten vor 10 Jahren ca. 25.000 Beschäftigte, heute sind es ca. 650.000. Bis 2015 hat Amazon praktisch keine Gewinne ausbezahlt und wurden doch extern finanziert, Marktwert heute, wie erwähnt, über eine Billion US-Dollar.

Ein weiterer Aspekt der Machtverschiebung der Monopolgruppen bezieht sich ebenfalls auf die Plattformökonomie: Siemens, Weltmarktführer in Maschinensteuerung, versucht seine Entwicklungs- und Produktionsplattform 'Mindsphere' weltweit zum Industriestandard, zum "Betriebssystem" der industriellen Produktion zu machen. Das bedeutet, dass alle Zulieferer eines Unternehmens, das als Plattformkontrolleur eine Leit- oder Kopffunktion in einer sogenannten Wertschöpfungskette hat, sich dort unterordnen müssen, und ihrerseits wieder an Siemens hängen.

Insofern geht z.B. der Kampf um den BRD-Mobilitätsmarkt nicht mehr VW gegen BMW oder Auto gegen Bahn, sondern alle gegen Uber, das die Fahraufträge gegen Gebühren verteilt und dafür ein Weltmarktmonopol anstrebt. Deshalb hat die derzeitige Zentralfigur der Kapital-Lobby, der SAP-Mann Henning Kagermann, die staatliche Runde zur Förderung von E-Autos aufgelöst und eine neue gegründet, die sich um Mobilität allgemein kümmert: Er ist jetzt Vorsitzender des Lenkungskreises der "Nationalen Plattform Zukunft der Mobilität". Privatautos spielen dort nicht mehr die Hauptrolle.

Digitale Souveränität mit Gaia-nd Cyberrüstung

Der Streit um Huawei hat deutlich gemacht, dass die VR China den Plan, bis 2025 eine technologisch führende Nation zu werden, umsetzt. Die USA wollen das verhindern. Dabei werden auch die widersprüchlichen Kräfte im deutschen Imperialismus deutlich. Im Januar hatte sich, wohl auf Druck der USA, im BDI eine chinafeindliche Linie gezeigt. Inzwischen wird diese Linie korrigiert. Siemens-Käser hat nun den Vorsitz im Asien-Pazifik-Ausschuss der deutschen Wirtschaft übernommen und zusammen mit Allianz-Bäte und BMW-Zipse, BASF-Brudermüller, sowie BDI-Kempf und Merkel China besucht. Am Montag darauf, es war der 14. Oktober, wurde dann gemeldet, dass Merkel verfügt hat, trotz der USA-Bedenken Huawei auch nicht teilweise vom Aufbau des 5G-Netzes auszuschließen. Das wurde, nicht überraschend, aus den USA und von US-inspirierten Kräften in Deutschland heftig kritisiert. In einem Interview sprang am 26. Oktober Karl-Heinz Streibich, der oben erwähnte Ko-Präsident der acatech, seiner Regierung zur Seite. Ein Ausschluss von Huawei würde Abhängigkeit von den USA bedeuten: "Allein die Möglichkeit des ausländischen Zugriffs ist ein Grund, nach Datensouveränität zu fragen." stellte er fest und bezog sich dabei auf Microsoft und die Tatsache, dass Microsoft dem US-Cloud-Act unterliegt, dem US-Gesetz, das regelt, wann amerikanische Behörden auch auf Daten zugreifen können, die außerhalb des Landes gespeichert sind.

Hier kommt die Zusammenarbeit des deutschen mit dem französischen Imperialismus ins Spiel. Der französische Präsident Emmanuel Macron hatte in seiner programmatischen Rede an der Pariser Universität Sorbonne am 26. September 2017 vorgeschlagen, eine von China, aber vor allem auch von den USA unabhängige Internet-Infrastruktur in der EU aufzubauen. Nach USA-Vorbild der DARPA soll das über eine militärisch-zivile wissenschaftlich-technische Schiene laufen. Am 29. Oktober 2019 wurde nun in Dortmund auf dem "Digitalgipfel" ein Strategiepapier des Bundeswirtschaftsministeriums vorgestellt, das Wirtschaftsminister Peter Altmaier schreiben ließ, beraten von Streibich von der acatech. Die Verfasser, darunter SAP, Siemens, Bosch, Deutsche Telekom, Deutsche Bank und IG Metall werden im Handelsblatt, dem das Papier im Voraus vorlag, zitiert: "Wir, Vertreter der deutschen Bundesregierung, Wirtschaft und Wissenschaft, streben eine leistungs- und wettbewerbsfähige, sichere und vertrauenswürdige Dateninfrastruktur für Europa an" ... "die den höchsten Ansprüchen an digitale Souveränität genügt" und "Wirtschaft, Wissenschaft, Staat und Gesellschaft gleichermaßen Souveränität und Nutzen bieten". Streibich erläutert: "Angenommen, es gelänge uns nicht, in der digitalen Welt souverän zu sein - egal ob wir über Mobilnetze, Softwareplattformen oder die Cloud-Infrastruktur sprechen -, dann könnten wir unsere selbstbestimmte und führende wirtschaftliche Rolle in der Welt nicht halten." Weiter heißt es: "Wirtschaftsminister Altmaier hat seine Pläne eng mit der französischen Regierung abgestimmt und hofft auf die Unterstützung weiterer EU-Staaten". Der französische Wirtschaftsminister Bruno Le Maire fasste in Dortmund zusammen: "Wir wollen eine sichere und souveräne europäische Dateninfrastruktur aufbauen". Altmaier und Le Maire hatten sich im deutsch-französischen Wirtschafts-Finanzrat am 19. September in Paris getroffen und dort über das Projekt gesprochen. Der deutsch-französische Ministerrat legte dann am 17. Oktober in Toulouse zum Thema Datensouveränität fest, Anfang 2020 die abgestimmte 'Plattform für eine Dateninfrastruktur', Projektname "Gaia X", vorzustellen. Bundesforschungsministerin Anja Karliczek spricht unverblümt aus, dass es darum geht, die Spitzenposition der deutschen und europäischen Wirtschaft international zu verteidigen: "Denn die Macht über die Daten in Europa soll nicht mehr in den Händen einiger weniger Konzerne anderswo liegen". Altmaier selbst kommentierte im Handelsblatt: "Datensouveränität und Datenverfügbarkeit sind der Schlüssel für digitale Innovationen und das Fundament für die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands wie auch Europas. Eines ist klar: Wir können nur in Europa und mit Europa erfolgreich sein. Deshalb brauchen wir eine ambitionierte Fortentwicklung des Europäischen Binnenmarkts." Konsequenterweise hatten Macron und die neue EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen für diesen Posten Sylvie Goulard vorgeschlagen, die ehemalige französische Armeeministerin - so heißt das Amt wieder, seit sie es 2017 übernommen hatte. Ihre Kandidatur wurde vom EU-Parlament abgelehnt. Von der Leyen, "Verteidigungs"ministerin von 2013 bis 2019, hatte dem Kommissariat ihrer Kollegin zu Binnenmarkt und Technologie noch das Ressort Verteidigung dazu geben wollen. Das wird wohl bei dem neuen Kandidaten auch so bleiben: Thierry Breton weiß, um was es geht. Er hat nicht nur die IT-Eliteuniversität "Supélec" absolviert, sondern auch das Institut des hautes études de défense nationale (IHEDN), auf dem Zivilisten für Aufgaben im Militärbereich vorbereitet werden. Nach Jobs als Sanierer im High-Tech-Bereich wie die Privatisierung der France Telecom wurde er Wirtschafts- und Finanzminister, um dann die IT-Servicefirma Atos zum Leitkonzern der französischen IT-Branche aufzubauen. Mit dem Banker Macron fusionierte er 2010 die Siemens IT-Sparte SIS mit Atos. Als Chef von Atos leitete er 2012 bis 2014 zusammen mit dem oben erwähnten Jim Hagemann Snabe, damals SAP, jetzt auch Siemens, die European Cloud Partnership der EU. Die stieß 2014 mit Rückenwind von dem damals von Edward Snowden aufgedeckten PRISM-Spionageaffäre die Entwicklung einer von den USA unabhängigen EU-Cloud an. Deren Entwicklung mit dem Projekt "Gaia-X" ist ihm nicht fremd, auch mit der "Verteidigungs"ministerin von der Leyen hatte er bzw. Atos bereits eng zusammengearbeitet.

Es bleibt zu beobachten, wie sich die digitale zivil-militärische Zusammenarbeit in der Krise entwickelt, bzw. inwieweit es den USA und ihren Interessenvertretern in Europa gelingt zu bremsen. Die dezentrale Projektstruktur und die ungeklärten Fragen zwischen den beteiligten Partnern - wer soll wie viel bezahlen - bieten viele offene Flanken.

Die schnellen Fortschritte der EU-Armee und ihrer Rüstung werden dankenswerter Weise von der Tübinger IMI regelmäßig präzise berichtet. Die Ergebnisse des IMI-Kongress vom 29.11. bis 1.12.2019, Thema: "Rüstung digital", werden sicher breite Beachtung finden.

Ökonomische, politische und militärische Souveränität: Wer soll bezahlen? Wer profitieren?

Wir sind damit bereits bei den Angriffen gegen die Arbeiterklasse und die lohnabhängigen Schichten. Die Durchsetzung der wissenschaftlich-technischen Seite jeder Stufe der kapitalistischen Industrialisierung, ausgerichtet auf die Steigerung des relativen Mehrwerts, ist immer verbunden mit Arbeitslosigkeit und damit dem Hebel zur Steigerung des absoluten Mehrwerts, Verlängerung des Arbeitstags und politischer Entrechtung. Der Drang des akkumulierenden Kapitals nach Expansion der Märkte potenziert sich mit der neuen Stufenleiter der Produktivkräfte. Im Imperialismus, dem Kapitalismus der Finanzoligarchien in einer Welt, die unter Großmächte aufgeteilt ist, mit aufstrebenden Ländern wie Russland und die VR China, die um Unabhängigkeit und Sozialismus kämpfen, konkretisiert sich der Expansionsdrang: Für die im Rennen um die Märkte zu kurz und zu spät gekommenen Finanzoligarchen bleibt die Option von Krieg und Faschismus.

Die Angriffe kommen aktuell im Gewand der sogenannten "digitalen Transformation". Hauptinhalt ist der Angriff auf das Normalarbeitsverhältnis, Festanstellung im Tarif, kurz die Rücknahme der Zugeständnisse, die der deutsche Imperialismus nach 1945 machen musste. Zu erwarten ist, dass sich eine neue Offensive des Kapitals mit der zyklischen Krise entwickelt, die ähnlich wie die Agenda-Offensive aufgestellt wird, diese aber in den Schatten stellt. Damals hieß die Generalbegründung für die Agenda-Reformen", man müsse sich den unausweichlichen Folgen der imperialistischen "Globalisierung" anpassen. Mit Hartz-Methoden wurde die Arbeiterklasse gespalten, um den Aufstand der "Globalisierungs-Verlierer" zu vermeiden, um sie dann als "Hartzer" erniedrigen zu können. "Digitalisierung" wird heute die neue Stufe der industriellen Revolution genannt, deren Struktur und Klassencharakter ebenso wenig hinterfragt werden soll wie zu Zeiten Marx', des mechanische Webstuhls und der Dampfmaschine, oder zu Zeiten Lenins, der Elektrifizierung und des Fließbands.

'Transformation' ist dabei der eine Kampfbegriff. Er will sagen: Klassenzusammenarbeit. Die Fachleute von SAP&Co haben ihren Platz in den "Transformations"gremien der IG Metall schon gefunden. Mit der anderen Verbalkeule 'Flexibilisierung der Arbeitszeit' ist gemeint der Angriff auf alle Errungenschaften der Arbeiterbewegung seit dem 10-Stunden-Tag. Der Angriff richtet sich zunächst nicht zentral gegen die in den DGB-Gewerkschaften stark organisierten Industriearbeiter, sondern gegen die durch IT-Rationalisierung gefährdeten und schwach organisierten Arbeiter in Büros und Randbereichen. Solidarität ist deshalb weniger denn je eine rein moralische Angelegenheit.

Zu beobachten sind außerdem unbedingt die Optionen der einzelnen Finanzoligarchen, die in der 'Transformation' abgehängt werden. Sie werden erfahrungsgemäß mit den ebenfalls in der Transformationsmühle zerriebenen kleinbürgerlichen Schichten von den Verlockungen einer schnelleren Aufrüstung mit dem starken Partner USA gegen Russland und China angezogen. Wir wären dann bei den reaktionärsten Elementen des Finanzkapitals, deren Herausbildung noch nicht abgeschlossen ist.

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8 kurze Punkte zu den Grundlagen der marxistischen Krisentheorie

1. Das Kapital als gesellschaftliches Verhältnis beruht auf der historischen Trennung der Gesellschaft in zwei Hauptklassen. Die Kapitalisten als Privateigentümer der Produktionsmittel sind in der Konkurrenz gezwungen, ihr Kapital zu vermehren. Die Arbeiterklasse ist mangels Produktionsmittel zur Lohnarbeit mit den Produktionsmitteln der Kapitalisten gezwungen.

2. Daraus entsteht der Grundwiderspruch: die Produktion ist gesellschaftlich, die Aneignung privat. Daher sind periodische Krisen im Kapitalismus unvermeidlich, weil immer wieder zu viel Kapital akkumuliert wird im Verhältnis zur kaufkräftigen Nachfrage.

3. Aus der Krise kommen die stärkeren Kapitalisten heraus durch Übernahme der Absatzmärkte schwacher Konkurrenten. Die profitstärksten Kapitale, d.h. die mit der besten Ausbeutungs- und Produktionstechnik, haben den besten Zugang zu Kredit und damit zu maximalem Wachstum. Durch den Wettlauf zur Eroberung der Märkte nach der Krise entsteht wieder Überkapazität.

4. Der Krisenzyklus von etwa 10 Jahren hängt an der schubweisen Erneuerung des fixen Kapitals, d.h. der Produktionstechnik. Mit jedem Zyklus setzten sich technisch und finanziell neue Größenordnungen durch.

5. Um 1900 wird aus der Verbindung zwischen hochkonzentriertem industriellem und Bankkapital das imperialistische Finanzkapital. Die Entwicklung der Produktivkraft der Arbeit, hier der Aufstieg der Elektro- und Chemieindustrie und der Fließbandfertigung, prägt die Entwicklung der kämpfenden Klassen, vor allem der Ausbildung der Monopolbourgeoisie auf der einen und der Arbeiteraristokratie auf der anderen Seite.

6. Auch diese gewaltige Produktivkraftentwicklung stellte sich im Kapitalismus gegen die Produzenten. Weil die Märkte aufgeteilt waren entstand chronische Überkapazität und Massenarbeitslosigkeit. Das ist die ökonomische Grundlage der allgemeinen Krise des Kapitalismus.

7. Der Staat ist nicht mehr ideeller Gesamtkapitalist, der bürgerlich-demokratisch gleiches Recht für alle Kapitale herstellt, sondern ist Herrschaftsinstrument zwar der gesamten Kapitalistenklasse, aber im Wesentlichen zum Nutzen der Monopole, die sich im Staatsapparat Zugriff zur Macht sichern, mit allen Mitteln.

8. Der hohe Vergesellschaftungsgrad lässt nur den Sozialismus als Alternative zum Krieg.
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[1]
siehe AG Krise der KAZ, Notizen zur Krise in KAZ 368

*

Quelle:
KAZ - Kommunistische Arbeiterzeitung, Nr. 369, Dezember 2019, S. 4-7
Herausgeber und Verlag:
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veröffentlicht im Schattenblick zum 19. Dezember 2019

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