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KAZ/161: Analyse vor Kopfbahnhof!


KAZ - Kommunistische Arbeiterzeitung, Nr. 333, Dezember 2010
Proletarier aller Länder und unterdrückte Völker vereinigt euch!

Analyse vor Kopfbahnhof!


"Auch dieses Land ist Heimat", seufzen brave Bürger, und rebellieren gegen S21. "Endlich bewegt sich mal was" frohlocken manche Linke. Sollen wir für diesen Bahnhof kämpfen? Und wenn nein, warum nicht? Für einen kühlen Kopf (statt für den Kopfbahnhof) plädiert dieser Artikel.


Die Seltenheit von Bewegungen auf der Straße sorgt bei uns für überschwängliche Freude, wenn dann doch mal irgendwie, irgendwo größere Menschenmassen protestieren. Gern drücken wir dann auch mal ein Auge zu bei der Analyse, drücken uns vor der Frage, was uns daran nützt und was nicht.

Frühjahr 2003: Als Schulklassen frei bekamen, um zu demonstrieren, mit der Regierung, dem "Friedenskanzler" samt den Grünen, wurde sogar in Radio und Fernsehen über die stattfindenden Großdemonstrationen gegen den Irakkrieg ausführlich und wohlwollend informiert. Auch da standen leider nicht allzu viele da und überlegten wenigstens am Rande des Volkstroms: Was passiert hier überhaupt, rein in die Bewegung oder nicht oder doch?

Während dieser Proteste gegen den Irakkrieg, gegen die USA haben viele nicht gesehen, warum die Schröder-Regierung plötzlich so "friedliebend" war: Ein wesentlicher Teil der deutschen Bourgeoisie hatte sich durchgesetzt, sie traute sich schon aus der Rolle des Juniorpartners heraus, um gegen "Übersee" zu poltern. Wie ungemein praktisch war es da auch noch, die "Zustimmung des Volkes" als eigene Legitimation vor sich hertragen zu können. Denn: Heute sind wir alle "Old Europa" ... Oder besser: Mit Hussein an der Macht waren gar treffliche Geschäfte in der Region zu machen, was mit der Machtübernahme der NATO - also dem US-amerikanischen Kapital im Irak - ein Ende finden würde und ja dann auch gefunden hat. Diejenigen, die auf diese Achse Berlin-Bagdad und den stinkenden imperialistischen Frieden deutscher Nation hinwiesen, mussten sich was anhören und waren in der Minderheit.

Auch in Sachen "Stuttgart 21" geht es wieder einmal und viel zu oft nur um Kopfbahnhof usw. und viel zu selten um den kühlen Kopf, den es zu bewahren gilt. Einen kühlen Kopf, gerade in Situationen, in denen dieselben deutschen Medien, die sonst einen Dreck darauf geben, wenn auf der Straße protestiert wird, auf einmal Proteste gegen "Stuttgart 21" wohlwollend und gar nicht mehr so "wertneutral" wie sonst in den Lichtkegel schieben. Einen kühlen Kopf, wenn dieselben deutschen Medien, deren Stimmungs- und Meinungsmache, nur "linke Chaoten" und das "Recht auf Versammlungsfreiheit für Faschisten" kennt, die Leiden des schwäbischen Bürgers im Pfeffersprayhagel der plötzlich bösen Polizei entdecken.

Und wir entdecken dann dieselben braven schwäbischen Bürger Arm in Arm mit aufrechten Antifaschisten, Demokraten, Gewerkschaftern. Dieselben schwäbischen Bürger, die angesichts des Umgangs mit dem "Hartz4-Mob", der live verhungert, und deutschen Landsern, die am Hindukusch wüten, lediglich das Gesäß zum Ablassen heißer Luft vom Fernsehsessel heben. Diese springen jetzt auf einmal auf, um sich die Regenjacken anzulegen und mit Pappschildern zu bewaffnen. Weil sie jetzt für ihren wilhelminischen Bahnhofsprotzbau mit wahrzeichenhaftem Daimler-Stern auf dem Dach demonstrieren müssen. Und das ist auf einmal das Protestpotential gegen die herrschenden Verhältnisse, Bündnispartner von Antifaschisten und Gewerkschaftern? Das darf und muss man mit Vorsicht genießen, dazu später mehr.

Dürfen und müssen heißt es auch in Sachen Analyse der Hintergründe um "Stuttgart 21". Für die Bahn und die von ihren Milliardenaufträgen profitierenden Unternehmen wie z.B. Siemens braucht es die Monsterprojekte im Inland, denn der Heimatmarkt ist Schaufenster, Schaufenster vor allem gegen die anrollende Konkurrenz, die dem europaweit führenden Bahnkonzern aus Asien, aus China entgegen rollt und mit Umsatzsteigerungen von über 100 Prozent bereits den bisherigen deutschen Platzhirsch Siemens auf Platz 5 verwiesen hat. Derweil die Milliarden aus den Töpfen des DB-Konzerns für Prestigeprojekte ins Schaufenster fließen, wird der Personen- und Güterverkehr zum Vergammeln frei gegeben. So sind Hochgeschwindigkeitsbahnen wie TGV oder Shinkansen längst am deutschen ICE vorbei gerast, dieser wird in der BRD dank eingesparter Wartung in 15 Jahren kurz und klein gefahren und könnte eigentlich 40 halten. Und entsprechend kommt der marode Personenverkehr der Deutschen Bahn mit samt Berliner S-Bahn nicht aus den negativen Schlagzeilen, bleiben Fakten wie das Abkoppeln ganzer Landeshauptstädte vom ICE-Netz öffentlich unerwähnt und übrigens weitgehend unprotestiert.

Wenn auch das Verrotten des öffentlichen Personenverkehrs der deutschen Wirtschaft nun wirklich Lichtjahre am Arsch vorbei geht - der Arbeiter wird schon sehen, wie er pünktlich zur Ausbeutung seiner selbst kommt - das Kaputtsparen des Güterverkehrs ist indes Fraktionen der herrschenden Klasse schon ein Dorn im Auge, denn das ist Wettbewerbsnachteil gegenüber der Konkurrenz, den anderen Räubern. Die deutsche Bourgeoisie, die sich vorgenommen hat, auf Lohndumping basierend durch ihren Export Europa kaputt zu konkurrieren, muss verkehrstechnisch rüsten. Da ist einiges nachzuholen, stellte die Exportindustrie fest, waren es 1950 noch 50 Prozent, was an Waren auf der Schiene rollte, sind es heute nur noch ganze 20 Prozent der Güter.

"Entsprechend wendet sich inzwischen auch eine stetig wachsende Anzahl Unternehmer gegen das Vorzeigeprojekt 'Stuttgart 21'. Die zunehmende Produktion von Waren besonders für den Export verlangt eine anhaltende Zunahme des Transportvolumens; hierfür solle auch die Bahn in Zukunft einen größeren Beitrag leisten, heißt es. Als Bahnchef Rüdiger Grube am vergangenen Montag bei der Stuttgarter Industrie- und Handelskammer erklärte, es werde einen Baustopp für 'Stuttgart 21' nicht geben, da protestierten nicht nur mehrere zehntausend Menschen vor dem Gebäude. Auch in den Räumen der Industrie- und Handelskammer kam es zu Unmutsbekundungen. In Stuttgart und Umgebung sprächen sich mittlerweile bis zu 300 Unternehmer gegen das Vorhaben aus, teilte ein Firmenchef der örtlichen Presse mit. Dass 'Stuttgart 21' gestoppt wird, gilt in diesen Kreisen nicht unbedingt als wahrscheinlich, zumal man dem Druck der Straße nicht nachgeben will. Ob auch in Zukunft am Güterverkehr interessierte Wirtschaftskreise neue Bahn-Prestigeprojekte in ähnlicher Form dulden werden, kann allerdings bezweifelt werden." (aus "Schaufenster 21", german-foreign-policy.com, 14.10.2010)

So stimmt nun auch manch deutscher Firmenchef in den Chor ein, wenn es ums Nein gegen den gemeinen Durchgangsbahnhof geht. Transparente wie "Unternehmer gegen Stuttgart 21" sind deshalb Grund zur tieferen Analyse, kein Grund zur Freude. Es wäre unsere Aufgabe z.B. genau diese verschiedenen mitunter gegenläufigen Kapitalinteressen und Fraktionen offen zu legen anstatt erst mal blind einzutauchen in die Bewegung. Eine Bewegung, die erst mal sortiert werden will, denn wem nützten die Proteste und vor allem, was an den Protesten nützt uns?

Proteste unter dem Slogan: "Wir sind das Volk!", die auf den bewusst veranstalteten "Montagsdemos" gegen "Stuttgart 21" getragen werden, nützen uns nichts, einer deutschnationalen Vereinnahmung der Proteste dagegen um so mehr. Auch der "schöne Bahnhof" und sein Erbauer Paul Bonatz, seines Zeichens Verfechter der "Stuttgarter Schule", deren Vertreter in der Aufklärung, der Moderne, vor allem aber in den Bauhaus-Architekten ihr Hassobjekt gefunden hatten, sollte uns mal kreuzweise können! So wusste dieser Bonatz, Erbauer des "schönen Bahnhofs", den es zu retten gilt, nach der Machtübergabe an die Nazis der durch Bauhausarchitekten zeitgleich mit dem Bahnhof errichteten Weißenhofsiedlung die Bezeichnung "Vorstadt Jerusalems" zu verpassen. Wenn das Porträt dieses Mannes während der Proteste getragen wird, so nutzt uns dies ebenso wenig wie Schilder, die um alte Bäume gehängt werden mit Aufschrift: "Auch dieses Land ist Heimat". Wenn dann auch noch der Baum als Sinnbild deutscher Wehrhaftigkeit gegen nationale Katastrophen erscheint, der "Kaiserreich, Weimar und Hitler und die Bombennächte überlebt hat.. .", dann sollte es unsereins im Halse würgen. Erst recht, wenn dieser ganze Unsinn auch noch von einem Straßenchor samt Blechbläsern mit dem Absingen des Deutschlandliedes untermalt wird. Auch so was geht in Stuttgart und es ist keine Randerscheinung. So was nützt vielleicht den Grünen bei ihrem Wahlkampf, dessen Sprachrohe an den "schönen Bahnhof" gekarrt werden. Uns nützt das nichts, nur unseren Gegnern!

Auch einem wahrlich abenteuerlichem Argument sei der Garaus zu machen: Die Demos in Stuttgart sind kein zweiter Bildungsweg. Nein, das Bürgertum Stuttgarts wird sich nicht an seine vom Pfefferspray verätzten Augen und an seine vom Knüppel der Bullen blau gehauenen Rücken erinnern, wenn es wieder gegen Antifaschisten und demnächst gegen Hungernde und Streikende geht. Denn die Polizei tat zwar Unrecht mit den Gegnern des Durchgangsbahnhofes, doch tut sie recht mit dem "faulen Pöbel" und den "linken Chaoten" die Ruhe und Ordnung stören. Das ist der Horizont des Bürgers, mit dem wir zu rechnen haben. Wer den Knüppel und die verätzten Augen verdient, entscheiden immer noch ARD und ZDF!

Und wie kommen wir eigentlich dazu, zusammen mit jenen Olivgrünen, Gauweilern, Geißlern und sonst wem noch dem Geschwätz von "direkter Demokratie" zu folgen und "Volksentscheide" als Lösung von irgendwas anzubieten?

Der "Volksentscheid" ist im derzeitigen Gesellschaftssystem - zumal in diesem imperialistischen Deutschland - ein weiteres Instrument der herrschenden Klasse, das sie mit ihrem Monopol auf Bewusstseins- und Meinungsmache stimmt und mit dem sie lärmt, wie es ihr gerade passt. Was eine Volksabstimmung über die Ausweisung aller "Nichtdeutschen" anrichten würde, was für ein Feuer sie in den Ofen der Rechten anheizen würde, ob das dann letztlich durchgeführt würde oder nicht, ist wenigstens in Ansätzen vorstellbar. "Volksentscheide" nützen uns in diesem imperialistischen Deutschland nichts, sie sind von der rechten Sammelbewegung geschickt zum Thema gemachte Beschleuniger beim Abbau der bürgerlichen Demokratie. Hier soll der Parlamentarismus unterlaufen, sollen Parteien (auch und gerade demokratische, kommunistische), Gewerkschaften, Streiks, ja der Klassenkampf ausgehebelt werden. Nicht umsonst forderte schon der faschistische Staatsrechtler Carl Schmitt die Einführung eines "plebiszitären Präsidialsystem" gegen die Weimarer Republik, damit "eine wirkliche Volksherrschaft" entstünde. Das Konzept des Unterlaufens der Institutionen der bürgerlichen Demokratie durch Volksabstimmungen ist nicht neu. Trotzdem ist die Idee von der "direkten Demokratie" auch in unseren Kreisen vorzufinden, was die Sache nicht leichter macht. Entgegen dieser Verführung ist in der heutigen Situation jeder Bestrebung nach Volksabstimmungen konsequent entgegen zu treten. Auch das gehört in den Umgang mit der Bewegung um "Stuttgart 21", auch wenn es unbequem ist.

Noch unbequemer, ja fast unmöglich ist der Aufenthalt zwischen Gräben der Befürworter und Gegner des Bahnprojektes. Die Mühe ist jedoch angebracht, machen doch Polizeistaffeln gegen Befürworter von Kopfbahnhöfen Kopfbahnhöfe nicht fortschrittlicher! Sie bleiben ein Relikt aus überlebten Zeiten. Nicht dass die Deutsche Bahn in ihrer kapitalistischen, auf Profitinteressen beschränkten Sicht- und Handlungsweise wirkliche Modernisierung dagegen setzen könnte. Eine Automatik jedoch, dass alle Großprojekte der Bourgeoisie rückständig sind, gibt es nicht. Selbst Großinvestitionen der Deutschen Bahn, wie z.B. "Baden 21" und der Ausbau der Rheintalschiene, der mit der Schweiz vertraglich festgelegt ist, sind für die Modernisierung der Verkehrswege wichtige Projekte. Diese muss man zwar nicht blöd umjubeln, wie es die Befürworter von "Stuttgart 21" tun, jedoch nützt es uns auch nichts, dagegen zu sein. Wenn die Kapitalisten ihren verrotteten Verkehr schon mal punktuell auf Vordermann bringen, dann ist das o.k. für uns, so wie jede Modernisierung der Produktion o.k. für uns ist. Schließlich wollen wir den Laden dann doch mal irgendwann übernehmen. Kurz gesagt, wir haben an jedem Punkt, in jeder neuen Situation, vor die uns die herrschende Klasse stellt, immer wieder neu zu analysieren, neu zu entscheiden.

Es sind dies alles nur Stichpunkte und Einsprüche gegen ein unbedachtes Mitrennen und Einstimmen in den Chor, ohne die Noten gelesen zu haben. Das sollten wir uns abgewöhnen, die Sachen sind komplizierter! Seit 20 Jahren versuchen Presse, Fernsehen und Radio, uns "friedliche deutsche Revolutionen" zu empfehlen, und da ist "Kopfbahnhof 21" ein gefundenes Fressen - aber nicht für uns! Wir sollten diejenigen Kämpfe unterstützen und vorantreiben, die die Arbeiterklasse stärken bzw. eine antifaschistische Stoßrichtung haben. Gleichzeitig ist es unsere Aufgabe, die Interessen und Widersprüche innerhalb der herrschenden Klasse zu analysieren, statt versehentlich noch der ein oder anderen Kapitalfraktion die Begleitmusik zu machen.

Ringo


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Quelle:
KAZ - Kommunistische Arbeiterzeitung, Nr. 333, Dezember 2010, S. 41-43
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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. Februar 2011