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KAZ/129: Arbeitszeitverkürzung für alle!


KAZ - Kommunistische Arbeiterzeitung, Nr. 327, April 2009
Proletarier aller Länder und unterdrückte Völker vereinigt euch!

Arbeitszeitverkürzung für alle!

Warum der Kampf um den Normalarbeitstag wieder aufgenommen werden muss


Ein Normalarbeitstag, was ist das? Einfach ausgedrückt: Ein gesetzlich geregelter Arbeitstag, dessen gesellschaftlicher Fortschritt darin besteht, dass er als Rechtsanspruch ausnahmslos für alle Lohnabhängigen gilt. Bei dem Arbeiterinnen und Arbeiter wissen, dass die Ausbeutung ihrer Arbeitskraft nach zum Beispiel 7 Stunden täglicher Arbeit endet und ihre eigene Lebenszeit beginnt. Ein Gesetz, das nicht im hinteren Teil für bestimmte Berufe und/oder Personengruppen wieder aufhebt, was vorne gesetzlich geregelt ist, und das keine Verschlechterungen zulässt.

In der BRD gibt es weder den oben beschriebenen Normalarbeitstag noch hat die Arbeiterklasse nach 1918 ein Gesetz durchgesetzt, welches ihn garantiert. Was in diesem Lande gilt, ist das Arbeitszeitgesetz vom 6. Juni 1994 mit einer Änderung vom Oktober 2006. Es ist das Staatsgesetz, womit die Kapitalisten - 1994 vertreten durch die Kohl-Regierung - die bis dahin geltende Arbeitszeitordnung "AZO" von 1938 abgelöst und damit allen auf tarifvertraglicher Ebene erkämpften Arbeitszeitverkürzungen den Krieg erklärt haben. Eine Kriegserklärung, mit welcher der Acht- durch den 10-Stundentag oder mehr (zwar mit Ausgleich), ausgehebelt wird. Die nach der "AZO" geltende Begrenzung der Überstunden auf 30 im Jahr und der dafür ab der 9. Stunde zu zahlende 25prozentige Überstundenzuschlag wurde hierbei gleich mit aus dem Weg geräumt. Abgesehen von einem ganzen Katalog der o.g. Ausnahme- und Regelungen für den Kriegsfall, nagelt uns dieses Gesetz mit der Festschreibung der 48- und möglichen 60-Stunden-Woche bis heute im 19. Jahrhundert fest - auf den Stand, den z.B. australische Arbeiter bereits 1856 in Melbourne mit dem Achtstundentag als Staatsgesetz und die deutschen Arbeiter mit dem 10-Stundentag durch Tarifvertrag bis 1914 durchsetzten (siehe Kasten "Ein kurzer Blick in die Geschichte des Kampfs um Arbeitszeitverkürzung" auf Seite 32). Hinzu kommt, dass es den "Tarifpartnern", Gewerkschaften und Kapitalisten möglich ist, durch Tarifverträge geltende Regelarbeitszeiten zu ändern und zu flexibilisieren, oder dies durch "freiwilligen Kontrakt" - dem Arbeitsvertrag - mit dem Kapital zulassen. Zu diesem Geschäft sind alle Arbeiterinnen und Arbeiter gezwungen, sie müssen ihre Arbeitskraft - die im Kapitalismus eine Ware ist, wie jede andere - an die Kapitalisten verkaufen, um ihre Existenz zu sichern. Das bedeutet für sie: "Der Kapitalist behauptet sein Recht als Käufer, wenn er den Arbeitstag so lang als möglich und womöglich aus einem Arbeitstag zwei zu machen sucht. Andrerseits schließt die spezifische Natur der verkauften Ware eine Schranke ihres Konsums durch den Käufer ein, und der Arbeiter behauptet sein Recht als Verkäufer, wenn er den Arbeitstag auf eine bestimmte Normalgröße beschränken will. Es findet hier also eine Antinomie(1) statt, Recht wider Recht, beide gleichmäßig durch das Gesetz des Warenaustausches besiegelt. Zwischen gleichen Rechten entscheidet die Gewalt. Und so stellt sich in der Geschichte der kapitalistischen Produktion die Normierung des Arbeitstags als Kampf um die Schranken des Arbeitstags dar - ein Kampf zwischen dem Gesamtkapitalisten, d.h. der Klasse der Kapitalisten, und dem Gesamtarbeiter, oder der Arbeiterklasse."(2)

Der o. g. "Gesamtkapitalist" ist der Staat, das Klassenorgan der Kapitalisten. Er ist keinesfalls ein unabhängig vom unversöhnlichen Interessengegensatz zwischen Kapital und Arbeit über den Klassen schwebendes neutrales und nach allen Seiten "Gerechtigkeit" ausstrahlendes Organ. So wie uns das Begriffe wie "demokratischer und sozialer Rechtsstaat", "parlamentarische Demokratie" oder "Sozialstaat" zur Verschleierung der wirklichen Macht- und Herrschaftsverhältnisse eintrichtern sollen.

In ihren wissenschaftlichen Untersuchungen weisen Engels, Marx und Lenin nach:

Der Staat ist "eine Maschine zur Unterdrückung einer Klasse durch eine andre", stellte Marx fest.(3) Und Lenin erläutert in seiner Schrift "Staat und Revolution": "Der Staat ist das Produkt und die Äußerung der Unversöhnlichkeit der Klassengegensätze. Der Staat entsteht dort, dann und insofern, wo, wann und inwiefern die Klassengegensätze objektiv nicht versöhnt werden können. Und umgekehrt: Das Bestehen des Staates beweist, dass die Klassengegensätze unversöhnlich sind."(4)


8-Stunden-Tag und Revolution

In diesem Sinne bedurfte es in Deutschland der Novemberrevolution von 1918 (9. November), um den ersten gesetzlichen Normalarbeitstag gegen die Kapitalistenklasse durchzusetzen. Am 11. November 1918 sah sich der Industrielle Hugo Stinnes gezwungen, der Gewerkschaftsführung den Achtstundentag anzubieten. Die Gewalt der Revolution, das Kräfteverhältnis zwischen Arbeiterklasse und dem "Gesamtkapitalisten" hatte entschieden. Der damalige Rat der Volksbeauftragten machte den Achtstundentag zur gesetzlich höchstzulässigen Arbeitszeit. In Punkt 2 einer "Anordnung über die Regelung der Arbeitszeit gewerblicher Arbeiter vom 23. November"(5) hieß es: "Die regelmäßige tägliche Arbeitszeit einschließlich der Pausen darf die Dauer von acht Stunden nicht überschreiten. Wenn in Abweichung hiervon durch Vereinbarung eine Verkürzung der Arbeitszeit an Vorabenden der Sonn- und Festtage herbeigeführt wird, kann der Ausfall der Arbeitsstunden an diesen Tagen auf die übrigen Werktage verteilt werden." Eine weitere Besonderheit an diesem Normalarbeitstag ist die Tatsache, dass die Pausen eingeschlossen und damit vom Kapital zu bezahlen waren. Eine Forderung, bei der heute die Mehrheit unserer Angestellten, Gewerkschaftsführer und Sekretäre eine Gänsehaut bekommen und dies als verrückt und nicht verwirklichbar abtun.

Die Arbeitszeitverkürzung durch die Revolution von 1918 ist die erste und bis heute einzige in der Geschichte Deutschlands, die durch ein "staatliches Zwangsgesetz" erfolgte. Der Staat hat sonst immer nur eingegriffen, wenn es darum ging, die Arbeitszeit zwangsweise zu verlängern (z.B. 1. und 2. Weltkrieg und s.o. Arbeitszeitgesetz von 1994).

Eine geschichtliche Tatsache, die den meisten Lohnabhängigen in der BRD kaum noch oder gar nicht bekannt ist. Dabei möchte auch die Mehrheit der Gewerkschaftsführer nur ungern an die Rolle erinnert werden, die ihre Vorgänger 1918 gespielt haben. Es ist unglaublich, während noch große Teile der Arbeiterklasse mit der Waffe in der Hand darum kämpften, die Ergebnisse der Revolution zu sichern, wurde sie von den rechten Gewerkschaftsführern bereits verraten. Trotz aller Erfahrungen mit dem imperialistischen Deutschland im 1. Weltkrieg, opferten sie ihre Erfolge bewusst ihrer selbstmörderischen "Sehnsucht nach Klassenzusammenarbeit". Vom 9. bis 12. November trafen sie sich schon wieder mit Vertretern des Monopolkapitals in Berlin. Unter Führung von Carl Legien - dem damaligen Leiter der "Generalkommission der Gewerkschaften" (1890-1919) - verabredeten sie hierbei mit den bekannten Kapitalisten Hugo Stinnes und Carl Friedrich von Siemens ein "Arbeitsgemeinschaftsabkommen". Es ist als "Zentralarbeitsgemeinschaftsabkommen", als "ZAG" in die Geschichte eingegangen.

Damit sicherten die Gewerkschaftsführer den Monopolherren zu, ihre Enteignung, die "Sozialisierung der Produktionsmittel" zu verhindern, einen geordneten Produktionsablauf zu garantieren, "wilde Streiks" zu beenden und den Einfluss der revolutionären Räte zurückzudrängen.

Die Kapitalisten versprachen dafür den 8-stündigen Arbeitstag (Pkt. 9 in der Satzung der "Arbeitsgemeinschaft") sowie den Alleinvertretungsanspruch und die dauerhafte Anerkennung der Gewerkschaften als "berufene Vertreter der Arbeiterschaft". Das galt für insgesamt 14 Reichsarbeitsgemeinschaften, die für die einzelnen Industrie- und Gewerbezweige eingerichtet wurden.

Mit ihrer Unterschrift unter diese Abkommen gaben die "berufenen Vertreter der Arbeiterschaft" zugleich ihr Einverständnis mit der blutigen Niederschlagung der Revolution. Zigtausende revolutionäre Arbeiter wurden hierbei - wie bereits durch den "Burgfrieden" der Gewerkschaftsführung mit dem Kapital im 1. Weltkrieg geübt (Verzicht auf Lohnkämpfe und vor allem Streiks) - erschossen, ermordet und zu Krüppeln gemacht.

Dabei haben die Kapitalisten die Zugeständnisse der Gewerkschaftsführer in der "ZAG" dafür genutzt, um sich vom Schrecken der Revolution zu erholen, das kapitalistische System wieder zu stabilisieren und ihre alte Machtposition zurück zu erobern. Gleichzeitig fanden sie damit die Zeit, um die nächsten Angriffe auf die Rechte der Arbeiterklasse vorzubereiten. Bereits Anfang der 1920er Jahre fühlten sich die Industriellen der Schwerindustrie wieder stark genug, um auf den gesetzlichen Achtstundentag los zu gehen. Sie erklärten: Aus Gründen der Kostensenkung und der deutschen "Wettbewerbsfähigkeit" sei "eine Arbeitszeitverlängerung trotz höherer Arbeitslosigkeit" unumgänglich. 1923/24 versuchten sie dann, den gesetzlichen Achtstundentag endgültig auszuhebeln. Als Basis ihrer Angriffe nutzten sie dafür die in der ZAG geschaffenen Fakten, die in vielen Bereichen den 10-Stundentag wieder zur Regel gemacht hatten. Der Maschinenbau- und Lokomotivenfabrikant Borsig (Borsigwerke Berlin) beschrieb in dem Zusammenhang, wie der Arbeitstag zur effektivsten Ausbeutung der Arbeitskraft auszusehen hat. In der Schrift "Industrie und Sozialpolitik" stellte er im Auftrag der Schwerindustrie fest: "Es ist falsch den Arbeitgebern vorzuwerfen, sie wollten den schematischen 10-Stunden-Tag einführen. Die Vereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände hat wiederholt darauf hingewiesen, dass ein schematischer Zehnstundentag ebenso falsch wäre, wie ein schematischer Achtstundentag. Eine schematische Regelung der Arbeitszeit ist nicht zum Segen für die Wirtschaft. Deshalb verlangen wir nichts weiter, als dass in den Tarifverträgen oder Betriebsvereinbarungen für jeden Betrieb diejenige Arbeitszeit zugelassen wird, die nach den gegebenen Verhältnissen den höchsten Nutzeffekt in der Produktion gewährleistet."(6)

Was mit diesen Worten reklamiert wurde, ist nichts anderes als die schrankenlose "Freiheit der Arbeit". Das ist spätestens seit Beginn des 19. Jahrhunderts der Schlachtruf der Kapitalisten. Damit fielen und fallen sie bis heute zu - nur unter Namen wie Flexibilisierung, Deregulierung u.a. - über alle Forderungen, Gesetze, Verordnungen usw. her, die ihnen bei der Ausbeutung unserer Arbeitskraft im Wege stehen. Fürs Kapital hat der Arbeitstag hierbei 24 Stunden (siehe Marx: "Der Arbeitstag" in dieser KAZ auf Seite 37). Da ist es nur konsequent, wenn Fabrikant Borsig fordert: Weg mit dem "schematischen Acht- oder Zehnstundentagen". Das Kapital braucht weder das eine noch das andere. Wir wollen machen können, was wir wollen! Sonst ist "der höchste Nutzeffekt in der Produktion" gefährdet. "Staatliche Zwangsgesetze" zur Regulierung der Arbeitszeit hindern da genauso. Hierbei besteht die große Gefahr, dass uns dafür die gesamte Arbeiterklasse wieder an den Hals geht. So, wie wir das erst vor kurzem in der Revolution erlebt haben. Dazu darf es nicht mehr kommen. Darum lasst uns lieber so "friedlich" weitermachen, wie wir das in der ZAG geübt haben: "Festlegung der Arbeitsbedingungen durch Kollektivvereinbarungen" (Pkt.6)!

Es ist allemal besser, den Belegschaften einen Tarifvertrag und/oder eine Betriebsvereinbarung aufs Auge zu drücken. Mit dem notwendigen Druck und Erpressungspotential lassen sich damit Arbeitszeiten nach "Gutsherrenart" u.a. durchsetzen. Dabei unterliegt es dann der "freien" und "souveränen" Entscheidung, der Tarif- oder "Betriebspartner", durch geeignete "Arbeitszeitmodelle" geltende "gesetzliche Schranken und Schutzvorschriften" aus dem Weg zu räumen. Immer so, wie es "Wettbewerbsfähigkeit, Auftragslage, Arbeitsplatz- oder Standortsicherung" gerade verlangen.

"Nach der Lehre des Sozialismus ... ist die wirkliche Triebkraft der Geschichte der revolutionäre Kampf der Klassen; Reformen sind ein Nebenprodukt dieses Kampfes, ein Nebenprodukt, weil sie Ausdruck erfolgloser Versuche sind diesen Kampf abzuschwächen, ihm die Schärfe zu nehmen usw."(7) 

Die opportunistischen Gewerkschaftsführer haben den Kampf für Tarifverträge an die Stelle des "revolutionären Kampfs der Klassen" gestellt. Mit der Tarifvertragsverordnung vom 23. Dezember 1918 - ebenfalls ein Ergebnis der Revolution - wurde dafür die Voraussetzung geschaffen. Sie wird bis heute als die erste Rechtsgrundlage für die "Tätigkeit der Tarifvertragsparteien" und der Tarifverträge ("Unabdingbarkeit der Tarifnormen") in den Gewerkschaften gelobt, dieses "gesetzliche Regelwerk" für den Umgang der Kapitalisten und der Arbeiterklasse. Heute gilt dafür das Tarifvertragsgesetz (TVG) vom 9. April 1949. Ein Mittel, um dem "Klassenkampf" der "Sozialpartner" "die Schärfe zu nehmen", ohne ihn beseitigen zu können. Ihn sozusagen zu kanalisieren und in eine dem Kapital beim Profitmachen genehme und auch "zeitlich berechenbare" Form zu pressen. Die schlimmsten Befürchtungen revolutionärer Arbeiter und Gewerkschafter sind damit wahr geworden. Wir werden und sind an die Kette der sogenannten "Friedenspflicht" gelegt. Für die Laufzeit der Tarifverträge heißt das: Waffen abgeben! Die Klassenjustiz, das Bundesarbeitsgericht hat daraus abgeleitet, das Streikrecht steht nur den Gewerkschaften für tariflich durchsetzbare Ziele zu. Was für den, aus welchen Gründen auch immer, nicht gewerkschaftlich organisierten Teil unserer Klasse bedeutet, es gibt kein Streikrecht. Aber auch spontane Aktionen, Streiks der Gewerkschaften gegen Willkürakte der Kapitalisten sind damit als "rechtlich unzulässig" ausgeschaltet. Sie werden wie Abwehrkämpfe, "wilde Streiks" der Belegschaften, mit Regressansprüchen des Kapitals bedroht und gegebenenfalls verfolgt. Gekämpft werden darf erst wieder nach 12, 18 oder 24 Monaten, nach Vertragsablauf. Dabei stolpern wir nur noch von einem Tarifvertrag zum anderen und von der einen in die nächste "Friedenspflicht". Je länger, je besser, sagt das Kapital. Das bringt zum "Segen der Wirtschaft" viele Jahre ohne Streik. Das Beispiel aus der jüngeren Geschichte liefert eine Studie der Hans-Böckler-Stiftung von 2008. Zwischen 1996 und 2005 fielen in der BRD im Durchschnitt 2,4 Arbeitstage jährlich pro Tausend Beschäftigte durch Streik aus. Im Verhältnis dazu kamen unsere französischen Kolleginnen und Kollegen während derselben Zeit auf 71 und die spanischen auf 144 Streiktage. In dieser Zeitung ist in diesem Zusammenhang zu lesen, welche Ergebnisse die "Streikbereitschaft" unserer Gewerkschaftsführer für die Lohnabhängigen bringt.(8) (Siehe dazu Kasten auf S. 34.)


"Legislative Einmischung"

"Was die Beschränkung des Arbeitstages angeht, in England wie in allen Ländern, so ist sie nie anders als durch legislative(9) Einmischung erfolgt. Ohne den ständigen Druck der Arbeiter von außen hätte diese Einmischung nie stattgefunden. Jedenfalls aber war das Resultat nicht durch private Vereinbarung zwischen Arbeitern und Kapitalisten zu erreichen. Eben diese Notwendigkeit allgemeiner politischer Aktion liefert den Beweis, dass in seiner rein ökonomischen Aktion das Kapital der stärkere Teil ist."(10) 

Beispiele für legislative Einmischung im positiveren Sinne gibt es in Europa in den Ländern Estland, Finnland, Österreich, Polen, Schweden und Spanien. Dort gilt die 40-Stunden-Woche als gesetzlich höchstzulässige Arbeitszeit. An der Spitze der gesetzlichen Regelungen stehen Belgien und Frankreich. Es gelten die 38- bzw. 35-Stunden-Woche. Das zeigt, was - abgesehen von Frankreich - selbst in wirtschaftlich schwächeren Ländern möglich und durchsetzbar ist. Hierbei geht es um Arbeitszeiten, die in diesem Lande trotz vieler tariflicher Vereinbarungen noch nie zum geltenden Gesetz und damit zum gesellschaftlichen Fortschritt für alle Lohnabhängigen wurden. Die Ursache dafür liegt im nicht geführten Kampf gegen den ideellen "Gesamtkapitalisten", gegen den Staat. Mit Aussagen wie: "Wer eine andere Regierung will, muss anders wählen" und "gegen eine demokratisch vom Volk gewählte Regierung streiken wir nicht!" lehnen die Gewerkschaftsführer die "Notwendigkeit allgemeiner politischer Aktion" ausdrücklich ab. Das ist gleichzeitig ihre ständige Antwort auf Forderungen nach Massen- und/oder Generalstreik. Eine Antwort, die in der Regel alle fortschrittlichen und kämpferischen Kolleginnen und Kollegen irgendwo bestimmt schon einmal gehört haben. Unsere Gewerkschaftsführer treten damit eine unserer wichtigsten Waffen gegen Kapital und Regierung und für gesellschaftlichen Fortschritt unter die Füße der Klassenzusammenarbeit. Gleichzeitig werden die Gewerkschaftsmitglieder, die Lohnabhängigen auf Wahlen vertröstet. Was dabei herauskommt heißt: Getrennt marschieren, und vereint verlieren oder "jeder stirbt für sich allein". Statt Organisierung und Stärkung unserer Klasse zum gemeinsamen Kampf, Spaltung und Zersplitterung durch tarifliche Regelungen. Jede Gewerkschaft erkämpft und verteidigt immer wieder aufs Neue im Alleingang die "eigene" Arbeitszeit. Bekommt dabei im "Häuserkampf" für "Haus-Zukunfts- u.a. Tarifverträge" die "eigene" Flexibilisierung, die "eigene" unentgeltliche "Rückkehr" zur 40-41-42- oder mehr- Stundenwoche aufs Auge gedrückt. Die durchschnittliche Wochenarbeitszeit stieg hierbei von 2003 um 3,3 Stunden auf 41,1 Stunden in 2007. Ein Spitzenplatz unter den 27 EU-Ländern wird in einer EU-Studie festgestellt. ("Welt Online" 15. September 2008). Mit diesem "Spitzenplatz" ist es den Kapitalisten gelungen, alle seit der 40-Stundenwoche erreichten tarifvertraglichen Arbeitszeitverkürzungen - egal, ob sie wie die 35-Stunden-Woche noch im Metalltarif stehen - auf kaltem Wege wieder einzukassieren.

Hierbei ist in der IGM-Schrift "Arbeitszeit in Europa und Deutschland" auf Seite 7 zu lesen, worin sich der deutsche Imperialismus im Verhältnis zu seinen europäischen Konkurrenten einen weiteren "Spitzenplatz" erobert hat: "Im produzierenden Gewerbe weist Deutschland mit 63,4 Wochenstunden vor Frankreich mit 61,5 und Großbritannien mit 59,4 Wochenstunden die längsten Betriebsnutzungszeiten auf. Weit dahinter liegen Niederlande, Spanien und Portugal.

Die Betriebszeit ist also um 80 Prozent länger als die tariflich vereinbarte individuelle Wochenarbeitszeit (35 Stunden). Die betrieblichen Arbeitszeit-Arrangements tragen in Deutschland im Vergleich zu den anderen EU-Mitgliedsländern überdurchschnittlich zu einer hohen Flexibilität bei.

84 % der deutschen Industrieunternehmen haben die Option, die Betriebszeiten unterjährig den betrieblichen Anforderungen anzupassen - in der EU sind es 70 %"(11).

Bei diesen "Optionen" stieg die Anzahl der bezahlten Überstunden nach einer Information des Instituts für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB) 2007 auf 1,477 Milliarden (2006: 1,45 Milliarden, 2005: 1,43 Mrd.). Ungefähr gleich groß ist die Zahl der nicht entlohnten Überstunden (wobei es eher wahrscheinlich ist, dass es hier noch eine große Dunkelziffer gibt). 3 Milliarden Überstunden mindestens kommen da also jährlich zusammen!(12) 

"Die kapitalistische Produktion, die wesentlich Produktion von Mehrwert, Einsaugung von Mehrarbeit ist, produziert also mit der Verlängerung des Arbeitstags nicht nur die Verkümmerung der menschlichen Arbeitskraft, welche ihrer normalen und physischen Entwicklungs- und Betätigungsbedingungen beraubt wird. Sie produziert die vorzeitige Erschöpfung und Abtötung der Arbeitskraft selbst. Sie verlängert die Produktionszeit des Arbeiters während eines gegebenen durch Verkürzung seiner Lebenszeit."(13) (Zu den Begriffen "Mehrwert" und "Mehrarbeit" siehe Kasten)

Ein Erfolg, den die Kapitalisten der "überdurchschnittlich hohen Flexibilität" unserer Gewerkschaftsführer zu verdanken haben, die unsere Klasseninteressen unter ihre Füße treten, um dem Kapital auf die Beine zu helfen. Bei diesem "Kampf" wird nicht nur der "ständige Druck der Arbeiter von außen" auf die Regierung verhindert. Er kostet darüber hinaus zusätzlich Zeit, Kraft, Mitgliedsbeiträge u.a. Gleichzeitig wird damit Enttäuschung, Rat-, Mutlosigkeit und Resignation in die eigenen Reihen getragen und gefördert und die Kampfkraft geschwächt. Auf dieses Konto gehen nicht nur die Angriffe der bürgerlichen Klassenjustiz aufs Streikrecht, sondern ebenso das geltende reaktionäre Arbeitszeitgesetz wie der von der IGM in 2003 im Osten verlorene Kampf für die 35-Stunden-Woche. Hinzu kommt die nach wie vor staatlich gepflegte und auf die Tarifpolitik abgefärbte Spaltung in Ost und West. Auch 18 Jahre nach dem sich der deutsche Imperialismus 1991 die DDR einverleibt hat, gelten immer noch West- und Osttarife, gelten Tarifverträge, mit denen - abgesehen von den generell schlechteren Arbeitsbedingungen - auch unterschrieben wird, dass die Arbeiterinnen und Arbeiter im Osten immer noch länger am Tag und in der Woche schuften müssen, als die im Westen.

Mitte des 19. Jahrhunderts schrieb Karl Marx: "Zum 'Schutz' gegen die Schlange ihrer Qualen müssen die Arbeiter ihre Köpfe zusammenrotten und als Klasse ein Staatsgesetz erzwingen, ein übermächtiges gesellschaftliches Hindernis, das sie selbst verhindert, durch freiwilligen Kontrakt mit dem Kapital sich und ihr Geschlecht in Tod und Sklaverei zu verkaufen. An die Stelle des prunkvollen Katalogs der 'unveräußerlichen Menschenrechte' tritt die bescheidne Magna Charta eines gesetzlich beschränkten Arbeitstags, die endlich klar macht, wann die Zeit, die der Arbeiter verkauft, endet und wann die ihm selbst gehörige Zeit beginnt, Quantum mutatus ab illo!"(14) ("Welch große Veränderung!")

Anders als in der Lohnfrage, ist es gerade in der Frage der Arbeitszeit nicht nur nötig, sondern auch möglich, die gewerkschaftliche Kampfkraft auf ein gemeinsames Ziel zu konzentrieren. Z. B. um die tariflich niedrigste Arbeitszeit in der BRD - z. Z. die "35-Std.-Woche" -, so wie in Frankreich, per "Staatsgesetz" zum gesellschaftlich geltenden Maßstab für alle Lohnabhängigen zu machen. Aktuell sammelt die ver.di Linke für eine solche Forderung Unterschriften. Im vergangenen Jahr hat der Journalist und Gewerkschafter Eckart Spoo bei einer Rede festgestellt, "es ist höchste Zeit für 4x7: die Vier-Tage-Woche mit je sieben Arbeitsstunden am Tag".(15)

Die Vier-Tage-Woche hat auch der hessische IGM-Bezirksleiter, Armin Schild, "für die gesamte europäische Automobilindustrie" gefordert.(16) Damit spaltet er aber wieder die Klasse. Es geht um mehr, als nur um die Autobranche und den Abbau von Autohalden.


"Zeit, dass wir was drehen!"

Unter diesem Motto veranstaltete die IGM-Führung am 17. und 18.2.2009 in Sprockhövel eine Konferenz zur "Leistungs- und Arbeitszeitpolitik". Hierbei ging es offensichtlich mehr darum, sich ein Alibi in der Frage der Arbeitszeit zu "drehen", als sich Kampfziele zu setzen. Nachdem Steffen Lehndorff vom Institut für Arbeit und Qualifikation von der Uni Bochum erklärt hatte: "An einer flächendeckenden 30-Stunden-Woche in der Bundesrepublik führe kein Weg vorbei", wollte die Mehrheit der "Metaller" nur noch "abdrehen". So heißt es in einer Mitteilung der Zeitung junge Welt vom 20. Februar 2009: "Die anwesenden Funktionäre aus Betrieben und Gewerkschaft waren überwiegend der Meinung, für Arbeitszeitverkürzung nicht zu mobilisieren." Dabei waren sie sich darin einig, die 35-Stunden-Woche als "Arbeitszeitstandard" zu stabilisieren.

Dann gibt es allerdings einiges zu tun. Auf der Grundlage fehlender Mobilisierung hat zunächst das Kapital seinen "Arbeitszeitstandard" stabilisiert. Das wird in einer von der IGM selber im extranet (2.3.09) veröffentlichten Infografik für 2007 festgestellt: "... in keinem anderen Land (in Europa, d. Verf.) ist die Differenz zwischen den nach Tarifvertrag und den tatsächlich geleisteten Wochenarbeitsstunden so groß wie in Deutschland. Nur noch in Polen wird genauso lange gearbeitet ..." (siehe Tabelle) Die durchschnittliche tarifliche Wochenarbeitszeit in der BRD lag in 2007 bei 37,6 und die tatsächliche bei 41 Wochenstunden (s.o.). Bis zum "Arbeitszeitstandard" von 35 macht das 6 Stunden Differenz.

Nur zur Erinnerung: 28 Jahre lange Jahre - von 40 Stunden 1967 in der Metall- und Elektroindustrie bis 1995 - hat die Auseinandersetzung zur Einführung der 35-Stunden-Woche gedauert. Mit dem Stand 41-Stunden-Woche sind wir also wieder bei vor 1967 angekommen.

Was liegt da näher, als den Kampf in eine von breiten Schichten der werktätigen Bevölkerung getragene Gesetzesinitiative mit dem Ziel zu "drehen", einen "Standard" - von z. B. den 7-Stundentag, die 35- oder 28-Stundenwoche - per "Staatsgesetz" durchzusetzen und zu sichern. Die Krise, die zigtausend fache Kurzarbeit und millionenfache Erwerbslosigkeit, die aktuell in vielen Betrieben gegen ihre Entlassung kämpfenden Belegschaften sind dafür Anlass genug. Davon sind alle lohnabhängigen Arbeiterinnen und Arbeiter in Ost und West als Klasse betroffen und gefordert. Das ist die Basis dafür, eine entsprechende gewerkschaftliche Forderung zu entwickeln, aufzustellen und dafür zu mobilisieren. Das ist nicht leicht aber keine Frage des Könnens, sondern des politischen Wollens. Damit ließe sich nicht nur das ganze Klein, Klein der ständigen "Alleingänge" und "Einzelkämpfe" zusammenfassen, sondern ebenso unsere Spaltung bekämpfen. Ein Weg, bei dem mehr als jetzt, die Möglichkeit besteht, auch den unorganisierten Teil unserer Klasse einzubeziehen. Das gilt gleichermaßen für die Belegschaften in den kleineren und mittleren und den nicht tarifgebundenen, den betriebsratslosen, den Handwerksbetrieben und Verleihfirmen. Es geht darum, sie anzusprechen, ihnen Mut zu machen und sie für den gemeinsamen Kampf zu gewinnen.


Die Kapitalisten oder wir, die Lohnabhängigen?

So steht im Kapitalismus immer die Frage. Mehr Zeit für uns, für unsere Familien, mehr Zeit zum leben und zum kämpfen, haben wir noch nie geschenkt bekommen. Und es wäre dumm von uns zu glauben, es gäbe im Kapitalismus auch nur den geringsten Fortschritt, ohne unseren Kampf gegen die Klasse der Kapitalisten oder das ließe sich über "richtig" wählen regeln.

Arbeitszeitverkürzung ist notwendig, damit wir nicht völlig im kapitalistischen Ausbeutungssystem versumpfen und verkommen. Damit wir wieder mehr über unsere Interessen und über eine andere Zukunft nachdenken, damit wir beginnen, das ständig verbreitete Märchen, der Kapitalismus sei das Ende der menschlichen Entwicklungsgeschichte, aus unseren Köpfen zu streichen.

Arbeitszeitverkürzung ist notwendig, damit sich die einen nicht zu Tode schuften und die anderen hungern, weil sie keine Arbeit finden.

Sie ist notwendig, damit etwas von dem heute längst möglichen technischen Fortschritt zwangsweise in den Betrieben ankommt und wir uns damit etwas von dem zurückholen, was die Kapitalisten uns durch Intensivierung, durch Verdichtung des Arbeitstags längst aus den Knochen gepresst haben.

Gesetzliche Arbeitszeitverkürzung ist notwendig, weil der technische Fortschritt sie längst möglich macht. Und das ohne Lohnverzicht! Es ist das Kapital selber, die kapitalistische Produktionsweise, die uns den Kampf dafür geradezu aufzwingen. Es sind die von Arbeiterinnen und Arbeitern, von den Angestellten, von Ingenieuren und Wissenschaftlern entwickelten modernen Produktionsmittel. Der Einsatz modernster Technik in Betrieben und Verwaltungen. Maschinen, Roboter, Computer, High-Tech, elektronisch gesteuerte Prozesse, Rationalisierung usw. Sie haben die notwendige Arbeitszeit immer mehr verkürzt. Immer mehr Waren wurden und werden in immer kürzerer Arbeitszeit hergestellt. Die Autos, Maschinen, Kühlschränke, Fernseher, die ganze Elektronik, Lebensmittel und vieles andere. Bis sie - wie im Kapitalismus nicht anders möglich - aufgrund fehlender Nachfrage wieder als unverkäufliche Warenberge, als Überproduktion auf der Halde landen und vernichtet werden. Und das genau ist die Ursache der kapitalistischen Krisen - so wie wir sie jetzt erleben. Die Arbeitszeitverkürzung findet längst statt - aber im Sinne der Kapitalisten, durch unaufhaltsam steigende Erwerbslosenzahlen. Das ist die "Zeitsouveränität", die das Kapital uns zu bieten hat: Statt freier Zeit - Arbeiten ohne Ende oder Kurzarbeit, Erwerbslosigkeit und demütigendes Betteln, dass man arbeiten darf.

Darum ist es höchste Zeit: "dass wir was von unten drehen!" - damit unsere Gewerkschaften sich mal wieder richtig rum drehen! Radikale Arbeitszeitverkürzung verlangt ebenso, eine radikale Änderung der Gewerkschaftspolitik. Das ist ein Schritt auf dem Weg zu dem Ziel, dass die Produktionsmittel, der technische Fortschritt, die Fabriken und Banken und der ganze Arbeitstag uns und nicht mehr dem Kapital gehören!

Arbeitsgruppe "Stellung des Arbeiters in der Gesellschaft heute"


Anmerkungen

(1) Antinomie = Widersprüchlichkeit, Gegensatz, unlösbarer Widerstreit zweier Gesetze
     (Erklärung nach MEW-Ausgabe Berlin 1969)
(2) Karl Marx, Das Kapital Bd.1, MEW Bd. 23, S. 249
(3) Karl Marx, Der Bürgerkrieg in Frankreich, MEW S. 625
(4) Lenin, Staat und Revolution, LW S. 398/399
(5) http://www.documentarchiv.de/wr/1918/arbeitszeit-arbeiter_ao.html
(6) Schriften der Vereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände e. V., Heft 4, Berlin 1924
(7) Lenin, Noch einmal über ein Dumakabinett, LW Bd. 11, S. 57
(8) Siehe Kasten "Die 'Streikbereitschaft' unserer Gewerkschaftsführer und ihre Ergebnisse"
(9) Legislativ=gesetzgebend
(10) Karl Marx, Lohn, Preis und Profit, MEW Bd. 16, S. 149
(11) Europäische Kommission, zitiert bei: IAT-Report, 2003-07, S. 6
(12) Siehe http://www.welt.de/wirtschaft/article1750012/Deutsche_ leisten_3_000_000_000_Ueberstunden.html
(13) Karl Marx, Das Kapital Bd.1, MEW Bd. 23, S. 281
(14) Karl Marx, Das Kapital Bd.1, MEW Bd. 23, S. 320
(15) Rede am 2. Oktober 2008, http: //www.okv-ev.de/Dokumente/Reportdokumente/Rede%20Spoo_02.10.08.pdf
(16) Stern 26.02.2009, S. 40-43


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Arbeitszeiten zum "Segen der Wirtschaft" oder
Wie die Arbeitszeit verlängert wird (einige Beispiele)

"Öffnungs- und Differenzierungsklauseln" machen es möglich. Sie liefern den Kapitalisten das Rezept gegen "schematische" Acht- und/oder Siebenstundentage. Tarifverträge werden dadurch zu Flickenteppichen. Arbeitszeitkonten aller Art erledigen dabei, was an gesetzlichen oder tariflichen Bestimmungen zum Schutz der Regelarbeitszeit noch nicht auf der Strecke geblieben ist. Gleichzeitig wird das im Arbeitsrecht immer noch geltende "Unternehmerrisiko" auf die Lohnabhängigen abgewälzt. Wenn die Arbeit grade mal nicht so dick ist, werden Arbeiter und Angestellte nach Hause oder in Urlaub geschickt. Arbeitszeiten, die der Kapitalist normal zahlen müsste, werden jetzt aus dem Konto der Belegschaft gezahlt. Das gilt auch immer mehr für betriebsnotwendige Qualifizierungen. Was früher wie selbstverständlich als bezahlte Arbeitszeit abgerechnet wurde, wird heute vielfach als Freizeitvergnügen der Beschäftigten behandelt. Wofür hast du denn ein Zeitkonto? Darauf werden auch alle Überstunden geschoben. Über Zuschläge für den zusätzlichen Verschleiß an Arbeitskraft wird in den meisten Fällen schon gar nicht mehr gesprochen. Es wird ja ausgeglichen und damit sind es keine Überstunden mehr. Das ist dasselbe, als wenn man jemanden erklärt, wenn du das eine Bein in einen Eimer kaltes und das andere in einen Eimer heißes Wasser stellst, hast du zwischen den Beinen mittlere Temperatur. Abgesehen davon verfallen in mehr als einem Drittel aller Betriebe mit Arbeitszeitkonten Teile der angesammelten Zeitguthaben. Sie werden einfach gestrichen, weil sie die fürs Konto festgelegte Höchststundenzahl überschritten haben oder gehen bei Firmenkonkursen mit über die Wupper. Häufig versäumen oder verzichten Betriebsräte darauf, die Insolvenzsicherung zur Voraussetzung für ihre Unterschrift unter die Betriebsvereinbarung fürs Arbeitszeitkonto zu machen. In betriebsratslosen Betrieben kann davon noch viel weniger die Rede sein.


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"Die neue Vertrauenskultur - Unternehmerisches Denken und Handeln"

Die Hans-Böckler-Stiftung hat 64 Vereinbarungen zu Arbeitszeit- und/oder Langzeitkonten untersuchen lassen. Dabei wird u. a. zu den Zielsetzungen festgestellt: "In der überwiegenden Zahl der vorliegenden Betriebs- und Dienstvereinbarungen wird als ein übergeordnetes Ziel genannt, dass mit der Flexibilisierung der Arbeitszeit im Allgemeinen und der Vereinbarung von Langzeitkonten im Speziellen eine neue 'Vertrauenskultur' in die Unternehmen Einzug halten soll. Das unternehmerische Denken und Handeln aller Beschäftigten soll gefördert werden."

Obigen Aussagen entsprechend, liest sich der nachstehende Auszug aus einer Vereinbarung:

"Diese Betriebsvereinbarung ist ein zentraler Baustein der Vertrauenskultur im Unternehmen. Sie bietet den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern einen entsprechend flexiblen Rahmen für die Erbringung ihrer mit der Führungskraft zu vereinbarenden Arbeitsleistung. Innerhalb dieses Rahmens kann schnell und unbürokratisch auf die ständig wechselnden Anforderungen des Marktes reagiert werden. Diese Betriebsvereinbarung setzt ein hohes Maß an Eigenverantwortlichkeit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie Absprachen im Arbeitsteam voraus." (Hans Böckler Stiftung, Flexible Arbeitszeit - Langzeitkonten, Karl-Hermann Böker, Ausgabe 2008, S. 16)

Das Vereinbaren der "Vertrauenskultur" haben die Gewerkschaftsführer - der ständigen Forderung des Kapitals entsprechend - schon immer mehr der "Eigenverantwortlichkeit" der Betriebsparteien, dem Betriebsrat und dem einzelnen Kapitalisten überlassen. Der Tarifvertrag gibt dafür nur noch den Rahmen vor. Eine Form sogenannter "Verbetrieblichung" der Tarifpolitik. Betriebsräte, Belegschaften bzw. der oder die einzelne werden hierbei voll den ständigen ökonomischen Erpressungsversuchen des Kapitals ausgesetzt. Bereits Mitte 2005 stellten 81 Prozent der von der Hans-Böckler-Stiftung befragten Betriebsräte u.a. fest, dass diese sogenannte "Dezentralisierung" "den Arbeitgebern eher die Möglichkeit gibt, ihre Interessen durchzusetzen." Dabei erklärten 48%, "sie fühlten sich durch die Dezentralisierung überfordert." Eine Auswirkung dieser Überforderung ist die Tatsache, dass immer mehr Betriebsräte bei den "Kontenmodellen" ihre Mitbestimmungsrechte nach dem Betriebsverfassungsgesetz nicht wahrnehmen. Dabei verzichten sie darauf, Kontrollmöglichkeiten zu vereinbaren oder nehmen sie aus Zeit- oder anderen Gründen trotz Vereinbarung nicht wahr. Hinzu kommt die zunehmende Individualisierung, bei der die Arbeitszeit vom Kapitalisten in den Arbeitsvertrag diktiert wird (siehe Kasten "Vertrauensarbeitszeit").


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"Vertrauensarbeitszeit" oder "Arbeiten ohne Ende"

Bei der neuen "Vertrauenskultur" soll jede und jeder das Recht haben, "sich und sein Geschlecht durch freiwilligen Kontrakt mit dem Kapital in Tod und Sklaverei zu verkaufen."[1]

Dafür haben die Kapitalisten das sogenannte Modell der "Vertrauensarbeitszeit" erfunden.

Ein "Modell", bei dem vollständig auf Zeiterfassung und -Kontrolle der Arbeitszeiten verzichtet wird. Es spielt keine Rolle, welche Arbeitszeit im Arbeitsvertrag steht. Das Arbeitspensum bestimmt die Arbeitszeit. Wichtig ist, dass die Arbeit, das "Projekt", zu einer bestimmten Zeit fertig - oder egal wie auch immer - beim Kunden ist. Danach bestimmt dann auch jede und jeder "eigenverantwortlich" wie lange sie oder er täglich arbeitet und unabhängig von freiem Wochenende, Feiertagen usw. wann Feierabend ist. Teilweise hat sich dadurch eine Arbeitszeit entwickelt, die zwischenzeitlich als "Arbeit ohne Ende" gilt. Gläubige Menschen kommen dabei leicht in Versuchung, das mit einem Schritt in das goldene Zeitalter der "Zeitsouveränität" zu verwechseln. Die Gläubigen sitzen hierbei nicht nur in den Chefetagen oder im mittleren Management.

Welchen "Mitarbeitertypus" sich das Kapital fürs neue "Modell Vertrauensarbeitszeit" vorstellt, hat der Jurist und Arbeitsrechtanwalt Wolfgang Trittin beschrieben:

"Als idealer Mitarbeitertypus gelten unternehmerisch denkende Mitarbeiter als 'Arbeitskraft-Unternehmer', 'Unternehmer im Unternehmen', 'Selbst-GmbH' oder 'Ich-AG'. Ihre Beziehungen untereinander haben die Form von Kundenkontakten: Unternehmensbereiche und Mitarbeiter werden Lieferanten oder Servicegeber der jeweils anderen. Regelmäßige Arbeitszeiten erweisen sich als hinderlich. Betrachteten Unternehmen bisher Zeiterfassung zur Kontrolle der Arbeitnehmer als dringend erforderlich, so verzichten sie jetzt hierauf und überlassen sie den Arbeitnehmern. Dabei geht es nicht allein um Kosteneinsparung durch Wegfall bezahlter Überstunden, sondern mit der Ersetzung der tatsächlichen Arbeitszeit durch das zu erbringende Arbeitsergebnis um einen tiefgehenden Eingriff in das arbeitsvertragliche Austauschverhältnis. Die Devise: 'Macht was ihr wollt, aber seid profitabel!' beinhaltet die hiermit verbundenen neuen Freiheiten, aber auch die neuen Zwänge für Arbeitnehmer, wie sie etwa durch 'Arbeiten ohne Ende' zum Ausdruck kommen...

Arbeitnehmer arbeiten wie 'unselbständige Selbständige' eigenständig und zugleich fremdbestimmt für den Arbeitgeber. Ihre neue Freiheit gleicht der abhängiger Konzernunternehmen, die innerhalb gesetzter Rahmenbedingungen ein Ergebnis zu erbringen haben. Ergebnisabhängige Arbeit lässt alle an Arbeitszeiten orientierten Schutzgesetze und Mitbestimmungsrechte 'leer laufen'. Das Arbeitsvolumen bestimmt sich nach den Vorgaben des Arbeitgebers, den Erwartungen der Anteilseigner und den Anforderungen der Kunden. Arbeit verliert damit ihr 'normales' Maß. Die Abhängigkeit der Arbeitnehmer in der Arbeit ändert damit ihre Form und wird nicht unbedingt geringer, sondern kann auch erheblich steigen. Ergebnisorientierte Arbeit widerspricht diametral der bisherigen durch Arbeitszeit geprägten Struktur des Arbeitsvertrags."[2]

Literatur

[1] Karl Marx, Das Kapital Bd. 1, MEW Bd. 23, S. 321)
[2] Wolfgang Trittin, Umbruch des Arbeitsvertrags: Von der Arbeitszeit zum Arbeitsergebnis, in: Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht (NZA), 18/2001, S. 1003


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"Krank durch Arbeit"

Auch die IGM-Führung ist dahinter gekommen, dass die neue "Arbeitszeitfreiheit" neue Zumutungen mit sich bringt. In einem von ihr herausgegebenem Schwarzbuch »Krank durch Arbeit« wird festgestellt: "Zunehmende Belastungen am Arbeitsplatz verursachen verstärkt Krankheiten. Psychische Erkrankungen und Mobbing spielen dabei eine immer größere Rolle. Über 19 Millionen Arbeiter und Angestellte haben mittlerweile psychisch bedingte Fehlzeiten. Dies sind 11,1 Prozent aller Erkrankungen. Jeder siebte Berufstätige ist schon einmal wegen einer psychischen Erkrankung arbeitsunfähig gewesen. Ursache sind eine starke Arbeitsverdichtung und zunehmender Leistungsdruck. Fast ein Drittel der Befragten nennt permanent hohen Arbeitsanfall bei gleichzeitig immer weniger Personal. Krank macht auch das schlechter werdende Arbeitsklima. Die Zahl der Mobbingopfer nimmt zu.

Beschäftigte in Call-Centern sind gesundheitlich besonders gefährdet. Die geforderte Dauerfreundlichkeit und das Pensum von mehr als 20 Anrufen pro Stunde sorgen zusätzlich für psychosomatische Erkrankungen. 250 Telefongespräche täglich beanspruchen nicht nur die Stimme. Es kommt zu Schmerzen in Händen und Rücken, zu Sehstörungen durch ständige Bildschirmarbeit. Ein Drittel der Erkrankten ist nicht älter als 20 Jahre. So der Gesundheitsreport 2005 der DAK.

Viele Beschäftigte verkürzen wegen der hohen Arbeitsverdichtung ihre Pausen oder nehmen sie überhaupt nicht mehr. Sie fürchten, die Arbeit nicht zu schaffen. 54 Prozent der Berufstätigen machen regelmäßig Überstunden. Ein Viertel der Mehrarbeit wird weder bezahlt noch in Freizeit ausgeglichen. »Arbeit ohne Ende« wird zur Normalität. Arbeitszeit nach Tarifvertrag findet kaum noch statt"[1].

"Nach mir die Sintflut! ist der Wahlruf jedes Kapitalisten und jeder Kapitalistengeneration. Das Kapital ist daher rücksichtslos gegen Gesundheit und Lebensdauer des Arbeiters, wo es nicht durch die Gesellschaft zur Rücksicht gezwungen wird. Der Klage über physische und geistige Verkümmerung, vorzeitigen Tod, Tortur der Überarbeit, antwortet es: Sollte diese Qual uns quälen, da sie unsre Lust (den Profit) vermehrt? Im großen und ganzen hängt dies aber auch nicht vom guten oder bösen Willen des einzelnen Kapitalisten ab. Die freie Konkurrenz macht die immanenten Gesetze der kapitalistischen Produktion dem einzelnen Kapitalisten gegenüber als äußerliches Zwangsgesetz geltend."[2]

Literatur

[1] http://www.schwbv.de/pdf/05_02_schwarzbuch.pdf
[2] Karl Marx, Das Kapital Bd.1, MEW, Bd. 23, S.285/286


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Ein kurzer Blick in die Geschichte des Kampfs um Arbeitszeitverkürzung

"Die Geschichte der Regelung des Arbeitstags in einigen Produktionsweisen, in andren der noch fortdauernde Kampf um diese Regelung, beweisen handgreiflich, dass der vereinzelte Arbeiter, als 'freier' Verkäufer seiner Arbeitskraft, auf gewisser Reifestufe der kapitalistischen Produktion, widerstandslos unterliegt. Die Schöpfung eines Normalarbeitstags ist daher das Produkt eines langwierigen, eines mehr oder minder versteckten Bürgerkriegs zwischen der Kapitalistenklasse und der Arbeiterklasse. Wie der Kampf eröffnet wird im Umkreis der modernen Industrie, so spielt er zuerst in ihrem Heimatland, England. Die englischen Arbeiter waren die Preisfechter nicht nur der englischen, sondern der modernen Arbeiterklasse überhaupt, wie auch ihre Theoretiker der Theorie des Kapitals zuerst den Fehdehandschuh hinwarfen. Der Fabrikphilosoph Ure denunziert es daher als unauslösliche Schmach der englischen Arbeiterklasse, dass sie 'die Sklaverei der Fabrikakte' auf ihre Fahne schrieb gegenüber dem Kapital, das männlich für 'vollkommne Freiheit der Arbeit' stritt."[1]

8 Stunden Arbeit - 8 Stunden Freizeit - 8 Stunden Schlaf!

Das war die Forderung der Arbeiter nach Verkürzung der Ausbeutungszeit in den Betrieben der englischsprachigen Länder. (Siehe dazu Bild auf S. 29) Ab Anfang der 30er Jahre des neunzehnten Jahrhunderts stand sie auf ihren Transparenten und einer von ihnen verbreiteten Arbeitszeituhr.

Dabei waren es im internationalen Klassenkampf die englischen Arbeiter, die im 19. Jahrhundert im "Bürgerkrieg um die Schöpfung eines Normalarbeitstags" einen ersten Erfolg auf dem Weg zum 8-Stunden-Tag hatten. Sie erzwangen gegen ihre Kapitalisten ein Fabrikgesetz, den Factury Act von 1847. Damit wurde ab dem 1. Mai 1848 in Großbritannien erstmalig ein 10-Stunden-Tag als Normalarbeitstag verbindlich festgeschrieben. Sie ist als Zehnstundenbill in der Arbeitszeitgeschichte bekannt geworden. Englische Fabrikinspektoren schrieben in einem Bericht dazu: "Die Zehnstundenbill hat in den ihr unterworfnen Industriezweigen die Arbeiter vor gänzlicher Degeneration gerettet und ihren physischen Zustand beschützt"[2].

Der erste gesetzliche Achtstundentag

Durch die Arbeitszeitgeschichtsschreibung wird überliefert, dass ein Zimmermann namens Samuel Palmer in Neuseeland mit einem Einmannstreik bereits 1840 einen Achtstundentag durchgesetzt hat. Für wie viele Arbeiter dieser dann gegolten hat, und ob es weitergehende, evtl. gesetzliche Auswirkungen gab, wird nicht berichtet. Nachgewiesen wird allerdings, dass sich die Steinmetze und Gebäudearbeiter in der australischen Kolonie Victoria den ersten gesetzlichen Achtstundentag ohne Lohnverlust für männliche Industriearbeiter erkämpft haben. Er wurde nach einer viermonatigen Kampagne, bei der die Arbeiter in einem Demonstrationsmarsch vor das Parlament in Melbourne zogen, am 21. April 1856 in Kraft gesetzt. Dabei gelang es den im Staatsdienst beschäftigten Steinbrechern, Sattlern, Pferdegeschirrerzeugern, Kutschenbauern und Hilfsarbeitern ebenfalls bis zum Jahresende 1856 eine ähnliche Begrenzung der täglichen Arbeitszeit durchzusetzen. Bereits Anfang März war dies den Steinmetzen in Sydney gelungen. In einer für sie günstigen wirtschaftlichen Situation hatten sie ebenfalls einen Achtstundentag durchgesetzt. Zwei Jahre später folgten ihnen die Bergleute von West Yorkshire in England. Sie erreichten 1858 durch eine Vereinbarung den ersten Achtstundentag - allerdings nur für die Hauer. Die übrigen Bergarbeiter in West Yorkshire - einschließlich zehnjähriger Kinder - mussten auch weiterhin Zehnstundenschichten schuften.

"In den Vereinigten Staaten von Nordamerika blieb jede selbständige Arbeiterbewegung gelähmt, solange die Sklaverei einen Teil der Republik verunstaltete ... Die erste Frucht des Bürgerkriegs war die Achtstundenagitation ... Der allgemeine Arbeiterkongreß zu Baltimore (Aug. 1866) erklärt: 'Das erste und große Erheischnis der Gegenwart, um die Arbeit dieses Landes von der kapitalistischen Sklaverei zu befreien, ist der Erlaß eines Gesetzes, wodurch 8 Stunden den Normalarbeitstag in allen Staaten der amerikanischen Union bilden sollen. Wir sind entschlossen, alle unsere Macht aufzubieten, bis dies glorreiche Resultat erreicht ist.'"[3]

1886 erreichte die Bewegung dafür einen Höhepunkt. Am 3. Mai schossen private Polizeitruppen der Landmaschinenfabrik McCormick in Chicago auf streikende Arbeiter. In der Protestversammlung am Tag danach wurde eine Bombe gelegt - ein Anlass für die anwesende Polizei, in die versammelten Arbeiter zu schießen. Dabei schossen sie ebenso auf sich selbst. Das Ergebnis: 7 tote und 60 verletzte Polizisten - alle von Polizeikugeln getroffen. Auch die Klassenjustiz wollte Arbeiterblut sehen. Der für die Untersuchungen zuständige Staatsanwalt Grinell rief: "Die Arbeiter sollen wie Ratten in ihre Höhlen zurückgejagt werden!" Für die Arbeiterführer endete die Jagd mit dem Tod. Sie wurden gehenkt und diejenigen, die nicht an der Versammlung beteiligt waren, gleich mit, um den Kampf um den Achstundentag zu brechen.

Der Achtstundentag wurde in den USA zunächst durch eine Verfügung des US-Kongresses am 25. Juni 1868 für Mechaniker und Hilfsarbeiter in Staatsstellung beschlossen und am 6. Juli in den Marinewerften von Charleston in Kraft gesetzt. Das Beispiel der US-Regierung fand vorerst nicht überall in Amerika Nachahmung. Trotzdem war die USA der erste Staat, der den Achtstundentag 1916 allgemein zum Gesetz machte. Deutschland, England und Frankreich folgten einige Jahre danach.

Zum selben Zeitpunkt, als sich die englischen Arbeiter die "Zehnstundenbill" erkämpften und in England und in Australien bereits teilweise 8 Stunden als Normalarbeitstag galten, setzten die Kapitalisten in Deutschland noch ungehemmt von gesetzlichen Schranken die "vollkommne Freiheit der Arbeit" durch. Es gelang ihnen hierbei, die Wochenarbeitszeit bis 1860 auf bis zu 85 Stunden auszudehnen. Und Arbeiterinnen und Arbeitern war es durch die "Allgemeine Preußische Gewerbeordnung" von 1845 gesetzlich verboten, den "versteckten Bürgerkrieg" gegen die Kapitalisten offen zu führen. In Paragraph 182 hieß es dort: "Diejenigen Gehilfen, Gesellen und Fabrikarbeiter, die andere zu einem Tun zu verleiten suchen, dass sie die Einstellung der Arbeit oder die Verhinderung derselben verabreden oder zu solch einer Verabredung auffordern, können mit Gefängnis bis zu zwei Jahren bestraft werden."

Ganz im Sinne dieser staatlichen Reglementierung und Unterdrückung der Arbeiterbewegung (u.a. Sozialistengesetz von 1878 bis 1890) waren in Deutschland bis ins 20. Jahrhundert 10 bis 12stündige Arbeitstage, den Sonntag eingeschlossen, durchaus üblich.

Zwischenzeitlich gab es tarifpolitische Erfolge. Hierbei erkämpften sich die Buchdrucker 1873 den ersten Zehnstundentag. Und in Statuten und Kongressbeschlüssen der deutschen Gewerkschaften wurde gegen Ende des 19. Jahrhunderts festgelegt: "dass Arbeitsniederlegungen, deren Zweck die Verkürzung der Arbeitszeit ist, den Vorrang vor anderen zu erhalten haben". Auf diesem Wege konnten die Arbeiter in Deutschland bis 1914 den Zehnstundentag durchsetzen - 66 Jahre später als die Arbeiter in England. Und im Gegensatz dazu, nicht abgesichert durch das von Marx so bezeichnete "übermächtige gesellschaftliche Hindernis", das "staatliche Zwangsgesetz", sondern durch Tarifverträge. Tarifverträge, für die es damals noch keine gesetzliche Grundlage gab und deren Inhalte vor keinem Gericht einklagbar waren. Abhängig vom jeweiligen Kräfteverhältnis, von der Streikbereitschaft der Arbeiter, konnten sie von den Kapitalisten jederzeit wieder gebrochen werden. Das ist allerdings eine Erfahrung, die wir heute nach wie vor machen. Wenn wir nicht bereit sind zu streiken, nutzt auch die beste gesetzliche Grundlage nichts - sie wird von den Kapitalisten gebrochen - in dem Fall das Tarifvertragsgesetz.

Literatur

[1] Karl Marx, Das Kapital Bd. 1, MEW Bd. 23, S. 316/317
[2] "Reports etc. for 31st Oct. 1859", p. 47, zitiert in: Karl Marx, Das Kapital Bd.1, MEW, Bd. 23 S. 320
[3] Karl Marx, Das Kapital Bd. 1, MEW Bd. 23, S. 318


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Die "Streikbereitschaft" unserer Gewerkschaftsführer und ihre Ergebnisse

Nicht nur durch Verzicht auf politischen Streik, sondern ebenso im ökonomischen Kampf und/oder dem Abwürgen von Streiks, halten Gewerkschaftsführer dem deutschen Monopolkapital im internationalen Konkurrenzkampf in besonderer Weise den Rücken frei. In diesem Sinne verkaufte IGM-Bezirksleiter Hoffmann im November 2008 den Streikverzicht im "Pilotbezirk" Baden-Württemberg quasi als Tariferfolg. Nach dem durch die Tarifkommission abgesegneten Abschluss stellte er in einer Pressekonferenz fest: "Es ist uns gelungen, einen Arbeitskampf in letzter Sekunde abzuwehren!"

Dabei kam gleichzeitig heraus, dass die IGM-Verhandlungskommission den Kapitalisten in der entscheidenden Verhandlungsnacht bereits Streikverzicht zugesagt hat. Hoffmann beschwerte sich: nachdem "keine Streikdrohung mehr bestand, hätte der Arbeitgeberverband deutliche Rücknahmen in seinem Angebot vorgenommen."

"So spielt man nicht, wenn man fair spielt", meinte der Bezirksleiter.[1] Nach dem Streikverzicht hat Hoffmann beim fair play dann gleich die Opfer- und Verzichtsbereitschaft der "Arbeitnehmer" mit angekündigt und nachgeschoben.[2] Beim Opfern sind unsere Reallöhne (um die Preissteigerungsrate bereinigter Nominallohn) in der Zeit von 2000 bis 2008 um insgesamt 0,8 Prozent zurückgegangen. Für die Beschäftigten in der BRD heißt das: Die in den letzten 9 Jahren von den Kapitalisten erkämpften Lohnerhöhungen wurden von der Inflationsrate und darüber hinaus um 0,8 % aufgefressen. In allen anderen EU-Ländern sind im gleichen Zeitraum die Löhne für die EU-Kolleginnen und Kollegen preisbereinigt gestiegen. Um mehr als 100 Prozent haben sich hierbei die realen Bruttolöhne in mehreren, der EU beigetretenen mittel- und osteuropäischen Länder erhöht. Dabei wurden in den Niederlanden, Schweden, Finnland, Dänemark, Großbritannien, Irland und Griechenland mit Raten zwischen 12,4 und 39,6 Prozent die höchsten Reallohnsteigerungen erreicht. In Frankreich stiegen die Bruttolöhne von 2000 an, um 9,6 Prozent und selbst in Österreich, dem Land mit der zweitniedrigsten Wachstumsrate, noch um 2,9 Prozent.[3]

Offensichtlich verwechseln Bezirksleiter Hoffmann und die anderen rechten Gewerkschaftsführer den Klassenkampf, den unversöhnlichen Interessengegensatz zwischen Kapital und Arbeit mit einem Fußballspiel. Wobei kein Fußballteam auf die Idee käme, dem Gegner Unfairness vorzuwerfen, wenn seine Stürmer aufs eigene Tor schießen und vorher auch noch den eigenen Torwart ans Tor gefesselt haben. Beim Fußballspielen werden solche Stürmer in der Regel ausgewechselt. In den Gewerkschaften sind wir noch nicht so weit gekommen.

Literatur

[1] Information aus ND vom 21.11.2008
[2] Stuttgarter Zeitung 17.12.2008
[3] Dr. Thorsten Schulten, WSI in der Hans-Böckler-Stiftung 2008


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Mehrwert und Mehrarbeit - was ist das?

Mehrwert und Mehrarbeit sind wissenschaftliche Begriffe in der Terminologie der Arbeiterbewegung. In der verhunzten Sprache der Bourgeoisie haben sie eine ganz andere Bedeutung - wie z.B. der dumme Ausdruck "Mehrwertsteuer" zeigt, oder die sich inzwischen bis in die Gewerkschaften durchziehende Unsitte, Überstunden als "Mehrarbeit" zu bezeichnen.

Was ist das nun wirklich?

"Mehrwert ist der Wert, den die Arbeit des Lohnarbeiters über den Wert seiner Arbeitskraft hinaus schafft und den sich der Kapitalist unentgeltlich aneignet. Somit ist der Mehrwert das Ergebnis unbezahlter Arbeit des Arbeiters.

Der Arbeitstag im kapitalistischen Betrieb zerfällt in zwei Teile, und zwar in die notwendige Arbeitszeit und die Mehrarbeitszeit, die Arbeit des Lohnarbeiters unterteilt sich in die notwendige Arbeit und die Mehrarbeit. Im Verlaufe der notwendigen Arbeitszeit reproduziert der Arbeiter den Wert seiner Arbeitskraft; im Verlaufe der Mehrarbeitszeit schafft er den Mehrwert." (Lehrbuch Politische Ökonomie I, Berlin 1955/Frankfurt a.M. 1971, S. 127/128)

Hier ist nicht die Rede von Überstunden, sondern von einem ganz normalen Arbeitstag, und von Löhnen, die dem Wert der Arbeitskraft entsprechen!


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Je mehr du arbeitest, umso weniger Lohn erhältst du!

"In dem selben Maß also, worin die Arbeit unbefriedigender, ekelhafter wird, in demselben Maß nimmt die Konkurrenz zu und der Arbeitslohn ab. Der Arbeiter sucht die Masse seines Arbeitslohns zu, behaupten, indem er mehr arbeitet, sei es, daß er mehr Stunden arbeitet sei es, daß er mehr in derselben Stunde liefert. Durch die Not getrieben vermehrt er also noch die unheilvollen Wirkungen der Teilung der Arbeit. Das Resultat ist: Je mehr er arbeitet, um so weniger Lohn erhält er, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil er in demselben Maß seinen Mitarbeitern Konkurrenz macht, sich daher ebenso viele Konkurrenten aus seinen Mitarbeitern macht, die sich zu ebenso schlechten Bedingungen anbieten wie er selbst, weil er also in letzter Instanz sich selbst Konkurrenz macht, sich selbst als Mitglied der Arbeiterklasse." Karl Marx, Lohnarbeit und Kapital, MEW Bd. 6, S. 420


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Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Abb. S. 29: Der Beginn des weltweiten Kampfes um den Normalarbeitstag vor über 180 Jahren. (siehe Kasten S. 32)
Abb. S. 31: Großindustrieller Borsig


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Quelle:
KAZ - Kommunistische Arbeiterzeitung, Nr. 327, April 2009, S. 28-36
Herausgeber und Verlag:
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. Mai 2009