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IZ3W/258: Editorial von Ausgabe 327 - Lieber Siebenmilliardster Erdling


iz3w - informationszentrum 3. Welt - Ausgabe Nr. 327 - November/Dezember 2011

Editorial
Lieber Siebenmilliardster Erdling


Lieber Siebenmilliardster Erdling,

wir wissen nicht, wann und wo du in diesen Tagen geboren wurdest. Jedenfalls freuen wir uns sehr, dass du das Licht der Welt erblickt hast, und wollen dich herzlich willkommen heißen. Wäre das langweilig auf der Erde, wenn wir sie nicht mit vielen anderen Menschen teilen könnten! Jeder neue Erdling ist doch eine einzigartige Bereicherung.

Leider wollen sich nicht alle über deine Ankunft freuen. Da gibt es zum Beispiel Menschen, die sich der so genannten Bevölkerungspolitik verschrieben haben. Oft nennen sie sich DemographInnen. Die sehen in dir ein Problem, ja sogar eine Bedrohung!

Nehmen wir mal an, du bist gar in einem afrikanischen Land geboren worden. Dann bist du für die DemographInnen nichts als ein Armutsrisiko, dazu verurteilt, ohne Bildung, mit schlechter Gesundheit und als Opfer von Gewalt dahinzuvegetieren. Sie meinen es schrecklich gut mit euch in Afrika. Die Stiftung Weltbevölkerung beispielsweise hat hehre Ziele: »Wir wollen durch unsere Arbeit Armut verhindern, bevor sie entsteht.« Nun ja, sie wollen vor allem verhindern, dass du als AfrikanerIn geboren wirst. Denn in ihren Augen bist du die personifizierte Armut. Aber lass dir das nicht einreden! Wenn denen wirklich was an deinem guten Leben läge, dann würden sie sich für faire Handelsbeziehungen, den Stopp von Rüstungsexporten und ein Ende der Kumpanei mit Kleptokraten einsetzen.

Und glaube denen bloß nicht, wenn sie behaupten, die Nahrung werde knapp und das Hungerelend sei unausweichlich, wie jetzt in Somalia. »Je stärker die Bevölkerung zunimmt, desto mehr Menschen konkurrieren um die ohnehin knappen Ressourcen wie Ackerland, Wasser und Wald«, schreibt die Stiftung Weltbevölkerung. Bullshit! Auf der Erde ist genug Essen da, es ist bloß ungleich verteilt. Oder es ist Gegenstand von politischen Machtkämpfen, wie jetzt in Somalia. Sollte das Essen wirklich knapp werden, liegt es daran, dass Weizen als »Biodiesel« verheizt wird. Der wird freilich weniger in Somalia, sondern von zahlungskräftigen EuropäerInnen durch den Auspuff geblasen.

A propos Ökologie. Die finden die DemographInnen ganz wichtig. Deshalb sagen sie zu Recht: Der westliche Lebensstil ist nicht universalisierbar. Aber gemeint ist: Ihr da unten in Afrika könnt nicht so luxuriös leben wie wir! Zumindest dürft ihr nicht so viele werden. Je mehr ihr seid, desto weniger CO2-Emissionen stehen euch pro Kopf zu. Das müsst ihr doch selbst einsehen. Weniger ist mehr. Wenn ihr euch durch schiere Masse arm macht, dann werdet ihr irgendwann fliehen wollen. Aber wo führt das hin? Das Flüchtlingslager oder das Ertrinken im Mittelmeer unter Aufsicht der EU-Grenzschutztruppen wollen die DemographInnen dir ersparen. Ganz altruistisch.

Sie meinen es übrigens auch mit deiner Mutter gut. Sie gehen mit größter Selbstverständlichkeit davon aus, dass du kein Wunschkind bist. Sondern dass deine Mutter durch deinen Vater und durch die patriarchalische Gesellschaft dazu genötigt wurde, dich zu gebären. Sei es, damit du zum Lebensunterhalt beiträgst oder weil viele Kinder zu haben bei euch nun mal so üblich ist. Klar, Kinderreichtum beruht wahrlich nicht immer auf Freiwilligkeit, und viele Mütter (und übrigens auch einige Väter) haben ihr Recht auf sexuelle und reproduktive Selbstbestimmung nicht wahrnehmen können. Aber richte deinen Eltern bitte mit lieben Grüßen aus, sie sollen ganz genau hinschauen, wer mit welchen Absichten Verhütung propagiert.

Lieber siebenmilliardster Erdling, wenn du in Europa geboren wurdest, sieht es schon ganz anders aus. Dann freuen sich die PolitikerInnen über dich, es wird sogar richtig heimelig, etwa wenn Bundeskanzlerin Angela Merkel sagt: »In einer Welt von sieben Milliarden Menschen müssen wir 500 Europäer zusammenhalten.« Wobei sie das nicht allzu wörtlich meint. Wenn du beispielsweise ein AkademikerInnen-Kind bist, dann gehörst du schon zum »Wir«, das den Wohlstand zusammenhält. Wenn du aber ein MigrantInnenkind bist, noch dazu ein muslimisches, dann bist du nicht wirklich europäisch, dann unterwanderst du den deutschen Sozialstaat, trägst zur Verdummung und letztlich zur Abschaffung Deutschlands bei. Sagt der Sozialdemokrat Sarrazin. Der muss es wissen, er hat ganz viele Bücher über Demographie gelesen und sie genauso verstanden, wie sie gemeint waren.

Wenn du in Asien geboren wurdest, dann können die DemographInnen sich nicht so recht entscheiden. Sie sind ein bisschen neidisch auf Chinas autoritäre Ein-Kind-Politik - würden sie aber niemals öffentlich loben. Sie malen sich das Schreckenszenario aus, dass alle 1,3 Milliarden ChinesInnen mit einer Geländelimousine der Marke Shuanghuan die Straßen einer Megacity verstopfen. Doch wenn es ein BMW wäre? Dem können sie Positives abgewinnen. Ein ganz besonders schlauer Demograph, Wolfgang Fengler, erklärte jüngst in der Süddeutschen Zeitung, wie Deutschland vom achtprozentigen Bevölkerungswachstum in Asien profitierten kann: »Bei mehr als vier Milliarden Asiaten wird das Interesse weiter wachsen, deutsche Qualitätsgüter zu kaufen.« Als Ökonom im Büro der Weltbank in Nairobi weiß Fengler nämlich, dass in Afrika die Nachfrage an deutschen Qualitätsprodukten nicht so groß ist - allenfalls, wenn sie von Heckler & Koch kommen.


Lieber Erdling, weißte was? Diese DemographInnen ignorieren wir einfach. Genieße dein Leben, wo immer du gerade bist, lass uns FreundInnen werden und Spaß haben. Das wünscht sich

die redaktion


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Inhaltsverzeichnis iz3w Nr. 327 - November/Dezember 2011


Der Grüne Kapitalismus kommt

Mission Windrad

In der Ära des New Green Deal werden wir mit Sonne und Wind Energie erzeugen, mit Elektroautos umherflitzen und stromsparend produzieren. Hierzulande klingen solche Aussichten nicht ganz unrealistisch, in Mumbai-Dharavi wird darüber eher herzlich gelacht.

Wie grün und wie universal ist dieser Deal? Sind die neuen Technologien wirklich sanft? Welche neuen Energiebeziehungen kommen im Grünen Kapitalismus? Und wie steht es um Sozialverträglichkeit und Arbeitsbedingungen in den Leitbranchen des New Green Deal? Nach Antworten suchen wir im aktuellen Themenschwerpunkt.


INHALTSÜBERSICHT


Editorial - Lieber Siebenmilliardster Erdling


POLITIK UND ÖKONOMIE

England: Im Ausnahmezustand
Die Riots verweisen auf die Krise neoliberaler Politik
von Moritz Altenried und Sibille Merz

Chile: »Und er wird stürzen«
Junge Menschen kämpfen gegen die Vermarktung der Bildung
von Jürgen Schubelin

Kinderarbeit: Schwere Lasten
Der Kampf gegen die Kinderarbeit im indischen Bundesstaat Nagaland
von Thomas Schwarz

Piraterie: Große Themen vor Gericht
Der Hamburger Piraten-Prozess wirft fundamentale Rechtsfragen auf
von Anke Schwarzer

Eritrea I: Migration statt Revolution
Zwanzig Jahre nach dem Ende des Unabhängigkeitskrieges hält Eritreas Misere an
von Magnus Treiber

Eritrea II: Auf der Flucht vor dem giftigen Drachen-Geschichten von eritreischen MigrantInnen
von Eva-Maria Bruchhaus

Eritrea III: Sparen bei den Ärmsten
Die Weltbank zieht sich aus einem Bildungsprogramm zurück
von Johanna Fleischhauer


SCHWERPUNKT: GRÜNER KAPITALISMUS


Editorial

Ein grüner Kapitalismus?
Auch das neue »Modell Deutschland« ist eine expansive Wachstumsökonomie
von Joachim Hirsch

Klein und rein
Grüne Technologien und ihr Stellenwert in der Technikgeschichte
von Cord Riechelmann

Gefährliche Zeiten
Der grüne Kapitalismus und sein Imperialismus
von Rainer Trampert

Made in China
Die chinesische Variante des Grünen Kapitalismus
von Uwe Hoering

Wenn Kohle grün wird
Energiebeziehungen zwischen der EU und Südafrika
von Franziska Müller

Maximale Windgeschwindigkeit
Windenergieanlagen sind eine Schlüsseltechnologie im Grünen Kapitalismus
von Jörg Alber

Teils heiter, teils wolkig
Das Desertec-Projekt in Nordafrika ist nicht zwangsläufig neokolonial
von Wolfgang Pomrehn

Woanders emittieren
Elektrofahrzeuge sind keine Lösung des Autoproblems
von Michael Adler


KULTUR UND DEBATTE

Musik: Kitsch ohne Copyright
Die Tecnobrega-Szene mischt den Norden Brasiliens popmusikalisch auf
von Simon Brüggemann

Film I: Kolonialsoldaten hinter der Kamera
Der Zweite Weltkrieg in Spielfilmen aus Afrika
von Karl Rössel

Film II: Logik der Unterwerfung
Der Spielfilm »Schlacht um Algier« ist eine zeitlose Anklage des Kolonialismus
von Gerhard Hanloser

Rezensionen

Szene/Tagungen

Impressum


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Quelle:
iz3w Nr. 327 - November/Dezember 2011, S. 3
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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. Oktober 2011