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IZ3W/245: Editorial von Ausgabe 324 - Der Traum geht weiter


iz3w - informationszentrum 3. Welt - Ausgabe Nr. 324 - Mai/Juni 2011

Hefteditorial
Der Traum geht weiter


Die Proteste und Umbrüche in den arabischen Ländern haben Milliarden Menschen weltweit regelrecht beflügelt. Was kaum jemand für möglich gehalten hatte, geschieht, und jeder kann es live im Fernsehen oder im Internetticker sehen: Junge Oppositionelle begehren auf gegen waffenstarrende Regime, sie können binnen kurzer Zeit zementierte Strukturen aufbrechen und haben bereits zwei Präsidenten aus dem Amt vertrieben.

»Die Angst hat das Lager gewechselt«, betitelten wir in der letzten iz3w einen Beitrag anlässlich des Beginns der Revolten. Das hat sich bewahrheitet. Denn nun sind es die Ancien Régimes der arabischen Welt, die mit dem Rücken zur Wand stehen und sich rechtfertigen müssen, nicht mehr die revoltierenden, meist jungen Demonstrierenden der Generation 2011. Fast alle verbliebenen Autokratien müssen jederzeit mit heftigem Protest rechnen, nur wenige Länder wie Saudi Arabien sind bislang davon ausgenommen. Aber wer weiß... bei Bahrain oder Syrien hat auch niemand damit gerechnet, dass sich ernsthaft Widerstand regt. Und doch geschieht das Wunder - wahr gemacht von ganz normalen Menschen.

Das Tempo der Ereignisse ist noch immer hoch. Doch die Euphorie der ersten Wochen ist verflogen. Zu viele Rückschläge ließen den schönen Traum von den befreiten Gesellschaften im Nahen und Mittleren Osten, den wir im Hefteditorial der letzten Ausgabe formulierten, phasenweise zu einem Alptraum werden. Insbesondere Libyen war eine Zäsur. Anders als Ben Ali und Mubarak trat Gaddafi nicht friedlich ab, sondern verwickelte das Land in einen Bürgerkrieg. Aus Tunesien und Ägypten waren vor allem Bilder von mal wütenden, mal euphorischen Demonstrierenden zu sehen. Aus Libyen sieht man hingegen fast nur Bilder von Bewaffneten und kriegerischen Auseinandersetzungen. Gaddafi hat die Militarisierung den Rebellen aufgezwungen. Der selbst ernannte »Revolutionsführer« hält eben nicht nur an seinen Pfründen fest, er ist vor allem ein ideologischer Fanatiker. Für seine verquasten antiimperialistischen und nationalistischen Ziele ist er bereit, bis zum letzten Blutstropfen zu kämpfen - oder besser gesagt: kämpfen und sterben zu lassen. Im Vergleich zu ihm erscheint ein Kleptokrat wie Mubarak zweckrational und berechenbar.

Eine Zäsur ist Libyen auch aufgrund des internationalen militärischen Eingreifens. Nun können die Rebellen nicht mehr beanspruchen, Gaddafis Regime aus eigener Kraft vertrieben zu haben. Ihr Sieg wird immer ein von Frankreich und der NATO geschenkter Sieg bleiben, was wiederum eine Steilvorlage für alle WidersacherInnen des demokratischen Wandels in arabischen Ländern darstellt: Er kann nun als Werk äußerer Kräfte diskreditiert werden. Der syrische Noch-Präsident al-Assad spielt bereits mit dieser Karte.

Erklärungsmuster wie »imperialistische Eroberung« eines erdölreichen Landes, wie sie beispielsweise von Seiten der deutschen Friedensbewegung formuliert werden, treffen den Kern des Problems jedoch nicht. Sie sind gefangen in alten Weltbildern, die allerspätestens durch die Revolten obsolet wurden. Gaddafi hat als Partner des Westens doch bestens funktioniert, beim Ölverkauf ebenso wie bei der Flüchtlingsabwehr, eine imperialistische Eroberung war gar nicht nötig. Die Rebellen gaben sich ohnehin pro-westlich. Sie waren es, die die Intervention geradezu erflehten, als Gaddafis Truppen vor Bengasi standen. Und in diesem Moment gab es eigentlich auch keine Alternative, als das Schlimmste zu verhindern. Gewiss, das eine Übel wurde nur durch ein anderes Übel verhindert. Dass dieses Dilemma überhaupt entstehen konnte, verweist aber vor allem auf eines: Schon in den Jahrzehnten zuvor wurde alles falsch gemacht in Sachen Politik gegenüber autoritären Regimen wie in Libyen. Jetzt erntet man die bitteren Früchte der Kumpanei und der Waffenlieferungen an Despoten wie Gaddafi: Gewalt.

Wie sehr die aktuelle Situation in Libyen gängige Interpretationen und politische Muster durcheinander bringt, spiegelt sich auch in der deutschen Außenpolitik wider. Es kam zu kaum vorstellbaren Konstellationen: Außenminister Westerwelle und Kanzlerin Merkel waren zusammen mit Linkspartei, Friedensbewegung und junge Welt (»Hände weg von Libyen«) gegen die Beteiligung am militärischen Eingreifen. Die Grünen und die SPD waren dafür. Rot-Grün kritisierte Westerwelle für die Enthaltung Deutschlands im UN-Sicherheitsrat mit einem klassischen machtpolitischen Argument: Deutschland verringere dadurch seinen Einfluss und verspiele alle Chancen auf einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat. Schwarz-Gelb wollte sich durch die Beteiligung am Militäreinsatz offensichtlich nicht die guten Geschäftsbeziehungen zu arabischen und anderen Despoten verderben. Fast allen politischen Kräften gemeinsam ist, dass die humanitäre Situation der Opfer von Krieg und Despotie keine bedeutende Rolle in der Argumentation spielt. Der Umgang mit den Flüchtlingen beispielsweise auf Lampedusa legt ein beredtes Zeugnis davon ab.

Glücklicherweise scheren sich die Protestierenden in Daraa, Tunis oder Amman nicht um das Versagen deutscher Außenpolitik. Sie nehmen ihr Leben selbst in die Hand. Das kann weiterhin Hoffnung machen und zu Revolutionsträumen inspirieren.

die redaktion


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Inhaltsverzeichnis iz3w Nr. 324 - Mai/Juni 2011


Revolte in der arabischen Welt

Generation 2011

Die Proteste und Umbrüche in den arabischen Ländern haben Milliarden Menschen weltweit beflügelt. Junge Oppositionelle begehren auf gegen waffenstarrende Regime, sie können binnen kurzer Zeit zementierte Strukturen aufbrechen und haben bereits zwei Präsidenten aus dem Amt vertrieben. Nun sind es die Ancien Régimes der arabischen Welt, die mit dem Rücken zur Wand stehen und sich rechtfertigen müssen. Fast alle verbliebenen Autokratien müssen jederzeit mit heftigem Protest rechnen, nur wenige Länder wie Saudi Arabien sind bislang davon ausgenommen. Unser Themenschwerpunkt gibt einen Überblick über die Veränderungen und ihre sozialen Hintergründe.

Unser zweiter Themenschwerpunkt nimmt "Zehn Jahre nach dem G-8-Gipfel von Genua" zum Anlass, der globalisierungskritischen Bewegung auf den Zahn zu fühlen. Die iz3w hat die Globalisierungskritik von Beginn an intensiv publizistisch begleitet, mit Sonderheften, Themenschwerpunkten und hunderten Artikeln. Naiv abgefeiert haben wir die Bewegung dabei aber nicht. Und so versucht auch dieser Themenschwerpunkt, in kritisch-solidarischer Absicht zu bilanzieren, wo die Bewegung heute steht.


INHALTSÜBERSICHT


Hefteditorial: Der Traum geht weiter


SPECIAL: REVOLTE IN DER ARABISCHEN WELT

Nordafrika: Generation 2011
Die Revolte wird vor allem von der Jugend getragen
von Bernhard Schmid

Ägypten: Vertreibung aus dem Paradies
Ein Streifzug nach der Revolution
von Juliane Schumacher und Philipp Löffler

Ägypten: »Veränderungen brauchen Zeit«
Interview mit Hoda Salah über den Umbruch der Geschlechterverhältnisse

Jemen: Bürgerkrieg statt Revolution
Die Proteste könnten den Zerfall des Landes beschleunigen
von Thomas Schmidinger

Syrien: Tage des Zorns
Nach anfänglicher Ruhe regt sich auch in Syrien Protest
von Susanne Reinhardt

Israel: »Ägypten ist nicht Iran«
In Israel wird die arabische Revolte mit gemischten Gefühlen aufgenommen
von Stefan Vogt

Flüchtlingspolitik: Wie aus dem FF
Mit Frontex gegen Revolutionsflüchtlinge
von Alice Rombach

Irakisch-Kurdistan: Plätze der Befreiung
Die urbane Mittelschicht protestiert gegen die Regionalregierung
von Thomas Schmidinger und Mary Kreutzer

Zypern: Ohnmächtige Wut
Die zyperntürkische Bevölkerung demonstriert - gegen die Türkei
von Sabine Hagemann-Ünlüsoy


SCHWERPUNKT: ZEHN JAHRE NACH GENUA

Editorial: Zehn Jahre nach Genua

Wider die Zahmheit
Nach dem Ende eines Protestzyklus tut erneute Bewegung Not
von Josef Moe Hierlmeier

Genua war ein Anfang
Der G8-Gipfel 2001 war für Bewegung und Polizei wegbereitend
von Matthias Monroy

Migration in eine ungewisse Zukunft
Wie ging es nach Genua mit den sozialen Bewegungen in Italien weiter?
von Johanna Wintermantel

Monopol des Marktes
Potenziale und Grenzen des Neoliberalismus-Begriffes
von Joachim Hirsch

Die Transmitter
Globalisierungskritik und »Bewegungsintellektuelle«
von Jens Kastner

Die Zapatistas
Impulsgeber für die Globalisierungskritik
von Rosa Lehmann und Sascha Klemz

Nichts Neues unter der Sonne
Ein Abgesang auf den Mainstream der Globalisierungskritik
von Lothar Galow-Bergemann und Klaus Blees

Ein Stück gemeinsamer Weg
Die Geschlechterverhältnisse haben sich durch Globalisierungskritik kaum bewegt
von Christa Wichterich

Zweitausend Kilometer für Bewegungsfreiheit
Eine migrationspolitische Karawane zum Weltsozialforum in Dakar
von Alice Rombach


KULTUR UND DEBATTE

Islamdebatte: Große Verwirrung
Antimuslimischen Ressentiments ist nicht mit dem »Islamophobie«-Begriff beizukommen
von Udo Wolter

Film I: Rasant und stilsicher
Action-Thriller aus Kinshasa und Johannesburg
von Isabel Rodde

Film II: Game Over
Eine Kölner Filmreihe zur Rebellion in Nordafrika
von Karl Rössel

Film III: Was wir sehen wollen
Afrikanische Filme im deutschen Kino
von Ulrike Mattern

Rezensionen

Leserbriefe

Szene/Tagungen


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Quelle:
iz3w Nr. 324 - Mai/Juni 2011, S. 3
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veröffentlicht im Schattenblick zum 19. April 2011