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ICARUS/010: Zeitschrift für soziale Theorie, Menschenrechte und Kultur 1/2009


ICARUS Heft 1/2009 - 15. Jahrgang

Zeitschrift für soziale Theorie, Menschenrechte und Kultur



INHALT
Autor
Titel

Kolumne
Wolfgang Richter
Obamania

Fakten und Meinungen
Horst Schneider
Lorenz Knorr
Irene Edith Eckert
Außer Spesen nichts gewesen?
Antifaschismus - passé?
Gedanken wider den Zeitgeist. Sprache und Denken
(II)
Heidrun Hegewald
Dokument
Siegfried Forberger
Klaus Eichner
Sprache
Concluding Observations
Das DDR-Menschenrechtskomitee
Für einiges muss ich mich schämen

Freundeskreis "Kunst aus der DDR"
Norbert Rogalski
Peter Arlt
Peter Michel
Peter H. Feist
Karl-Marx-Relief auf DHfK-Boden
Atelier 2008
Unsere Utopie lebt
Kein weißer Fleck auf der Landkarte der Weltkunst

Personalia
Siegfried Wege
Stefan Bollinger
Friedrich Möbius
Ein Dankeschön für Peter Michel
Ein unverbesserlicher Sozialist
Bernhard Wächter zum Gedenken

Rezensionen
Gerhard Fischer
Hans Dahlke
Siegfried Prokop
Georg Grasnick
Peter Michel
Werner Krecek
Gab es das? Die verpasste Chance?
Frieden und Freiheit für das Volk von Palästina
Mein Leben. Mein Chef Ulbricht
Als Zeitzeugen erlebt
Visionär
Tief bewegende Dokumentation

Marginalien


Ein paar kleine Wahrheiten
Aphorismen

Raute

Kolumne

Wolfgang Richter

Obamania

Wer würde nicht aufatmen, dass die acht Jahre Präsidentschaft Bush jr. endlich vorbei sind. Und wer würde nicht die Hoffnung hegen, dass es so schlimm nicht noch einmal kommen könne. Aber weiß man's? Hoffnungen auf Personen - und verdienten sie auch Sympathie - sind nur zu oft trügerisch. Die Herausforderungen, die vor den USA stehen, angesichts Wirtschaftskrise, Verschuldung, Autoritätsverlust durch Kriegsverbrechen und Polizeistaatsmethoden haben mit Obama zunächst nichts zu tun. Doch warum hat er wohl Wahlkampfspenden von Unternehmen und Wallstreet in noch nie dagewesener Höhe erhalten? Nie hatte ein demokratischer Kandidat seinen republikanischen Gegner an Spenden übertroffen. Er muss dem großen Kapital nicht nur als Hoffnungsträger sondern wohl auch zuverlässig erscheinen, die Fortsetzung seiner neoliberalen Kriege zugunsten der USA und ihrer globalen Rendite bzw. seiner neokolonialen Ressourcenkriege wirksam zu gewährleisten, die mit dem drohenden Ende des amerikanischen Jahrhunderts verbunden ist, noch ehe es begonnen hatte.

"Eine Selbstbindung der USA an internationales Recht, das Primat der UNO oder eine Präferenz für Verhandlungen ohne militärische Interventionspolitik ist jedoch auch unter Bushs Nachfolger unwahrscheinlich" heißt es im Friedensgutachten 2008. "Unabhängig vom Amtsinhaber werden die USA ihre militärische Hegemonie ausbauen. Ideologisch ist das missionarische, auf militärischer Überlegenheit basierende Selbstbild parteiübergreifend. ... Europäer sollten sich deshalb nicht an einer Rückkehr zu mythisch verklärten Amerikabildern ergötzen."

Doch auch darauf allein will man nicht bauen und Obama mit einer Mannschaft umgeben, die ihn notfalls zügelt. Diejenigen seiner Kandidaten, bei denen das zweifelhaft scheint, würden eben nicht vom Senat bestätigt werden. Die Hoffnungen der Amerikaner und der gesamten Menschheit auf Obama haben diese Kehrseite: "Noch nie hat die tote Hand der Vergangenheit einen Reformkandidaten so fest bei der Gurgel gehabt." So Alexander Cockburn in einer Kolumne. Sein Vizepräsident Joseph R. Biden gilt als Mann mit Visionen für die neue Weltordnung. Vergessen wir nicht, dass der weidlich bekannte geistige Haudegen Zbigniew Brzezinski außenpolitischer Berater Obamas im Wahlkampf war. Ihm "winkte" schon vor dem Krieg gegen Jugoslawien "im Kampf um die Vorherrschaft in Europa der traditionelle Balkan als geopolitische Beute" (Die einzige Weltmacht). Und da ihm die zentralasiatische Region und das Kaspische Becken als einziges Gebiet in der Welt galten, das einen Krieg wert sei, da der Kampf um die globale Vorherrschaft auch in Zukunft in Eurasien ausgetragen werde, könnte man ihn auch hinter Obamas Plänen vermuten, amerikanische Truppen aus dem Irak nach Afghanistan zu verlegen.

Der CDU-Abgeordnete Willy Wimmer richtete einen Brief an den deutschen Außenminister Steinmeier am 17. November 2008, dass sich "das Personal um Obama wie eine Dublette jener Kräfte ausnimmt, die uns in den Jugoslawien-Krieg (...) getrieben haben."

Und nicht nur in diesen. Richard Hoolbroke, der als einstiger stellvertretender Außenminister Clintons und derzeitiger Berater Obamas mit dem völkerrechtswidrigen Angriff der USA und der NATO auf Jugoslawien und der Bombardierung des Landes in einem Atemzug genannt werden muss, hat auch seine ganz persönliche Aktie an der Ostausdehnung der NATO bis an die Grenzen Russlands, ganz entgegen den Versprechen, die noch Reagan Gorbatschow und die NATO wer weiß wem noch gegeben hatten.

Rahm Israel Emanuel hat als Chef des Stabes des Weißen Hauses eine unselige Vita. Bekannt für seine Ausbrüche und mit dem Spitznamen Rahmbo hatte er schon die Invasion im Irak durch die Bushadministration unterstützt. Mitglieder der israelischen Friedensbewegung nennen ihn einen Super-Likud-Falken und fragen sich, was er in der Obama-Administration soll? Vielleicht seinen Einfluss geltend machen, dass die Aggression Israels auf den Gazastreifen vor der Präsidentschaftsübernahme abgetan sein sollte?

Der ehemalige deutsche Außenminister Joseph Fischer, ein glühender Verfechter der (völkerrechtswidrigen!) humanitären Intervention, der eifrig daran arbeitet, sie UNO-fähig zu machen, applaudierte Obama heftig nach seiner Rede im August 2008 in Berlin. Er habe, wie Fischer in "Focus" (13.08.09) verlautbarte, "Klartext" gesprochen und den Europäern gesagt: "Mit mir wird in Zukunft gemeinsam entschieden und dann gemeinsam gekämpft, und wenn es sein muss, auch gemeinsam gestorben."

Und was sagte er zu seinem Amtsantritt? Er betonte den Führungsanspruch der USA in der Welt und sagte das altbekannte Wort: "Wir weisen die Wahl zwischen Sicherheit und unseren Idealen zurück." Und was wird es wohl bedeuten, dass er die Schuld an der Krise einigen wenigen und auch dem "kollektiven Versagen gibt, harte Entscheidungen zu treffen." Manch einer denkt dabei, der Irankrieg ist also noch nicht vom Tisch. Schließlich drohte Hillary Clinton dem Iran noch vor nicht zu langer Zeit mit "Auslöschung".

Raute

Fakten und Meinungen

Horst Schneider

Außer Spesen nichts gewesen?

Zum Umgang der bundesdeutschen Justiz mit Menschenrechten

Der Bundestagsbeschluss vom 13. Dezember 2007 über die "Rehabilitierung"

Obwohl Regimenter von Staatsanwälten, Richtern, Historikern, Experten bei der Abrechnung mit dem "SED-Unrecht" eingesetzt waren, scheint es ihnen schwierig zu sein, eine Gesamtbilanz zu ziehen. Nun haben wir zwei Texte zum Thema. Der Bundestag beschloss am 13. Dezember 2007 eine Vorlage des Petitionsausschusses (Drucksache 16/7493), und Hansgeorg Bräutigam schrieb im Deutschland Archiv (6/2007) den Artikel "17 Jahre Rehabilitierung". Bräutigam war zeitweilig der Leiter der BRD-Vertretung in Berlin, also mit der Materie gut vertraut.

Beginnen wir mit dem Artikel Bräutigams.

Er postuliert u. a., "dass es in der DDR keine den Anforderungen des Rechtsstaates genügende Justiz gab, keine unabhängigen, nur dem Gericht und dem Gesetz unterworfenen Richter."(1) Er beruft sich bei diesem Verdikt auf Falco Werkentin, als ob der die Vollmacht (von Gott, einem Tribunal oder von wem?) hat, die Justiz der DDR zu verleumden. Dass die Anklagen gegen die DDR (SED)-Justiz keinerlei völkerrechtliche und sachliche Grundlagen haben, ist längst nachgewiesen.(2)

Es wäre Platzverschwendung, hier aufzulisten, was der DDR, insbesondere der Staatssicherheit, angelastet wurde: "Killerkommandos" hätten die BRD heimgesucht, "Frühchen" seien im Eimer ertränkt worden, Psychiater seien auf ehrenwerte Pfarrer angesetzt worden, Häftlinge seien gefoltert worden usw. Wo gab (gibt) es eine moralische Grenze bei den Lügen und Verleumdungen über die Justiz der DDR und des MfS?

Angesichts der - auch von Bräutigam - behaupteten riesigen Zahl von "Justizverbrechen" in der DDR ist es erstaunlich, wie schleppend die Rehabilitierungsanträge eingingen, die eine "Entschädigung" versprachen.

1991 gingen 3193, 1992 insgesamt 3706 Anträge ein. Die Gesamtzahl der Anträge betrug am 30. Juni 2007 20.282.

Die Motive für die Anträge liegen auf der Hand. Zwar hatte sich die Siegerjustiz die Möglichkeit geschaffen, "praktisch jede strafgerichtliche Entscheidung der DDR-Gerichte seit der Gründung der DDR zu überprüfen"(3), aber immerhin war der Artikel 103 des Grundgesetzes nicht aufgehoben worden, wonach in Übereinstimmung mit den Menschenrechtskonventionen rückwirkendes Strafrecht nicht gestattet ist.

Das Strafrecht der DDR hatte wohl mit ähnlichen Delikten zu tun wie das anderer Staaten. Gegenstand der Verurteilungen waren Mord, Raub und Vergewaltigung ebenso wie Sabotage, Spionage, Verstöße gegen Steuer-, Devisen- und Zollgesetze oder Zuwiderhandlungen gegen Art. 6 der ersten DDR-Verfassung vom 7. Oktober 1949 und die Kontrollratsdirektive Nr.38. In bestimmten Fällen wurden DDR-Urteile durch Kassationsentscheidungen aufgehoben. 1990 waren es 162, 1991 gar 414 und 1992 noch 167.

Bräutigam beschreibt einige Beispiele der Kassation von Urteilen, z. B. des Strafbefehls gegen den Schriftsteller Stefan Heym wegen Devisenvergehens, und des Urteils gegen den Journalisten Karl Wilhelm Fricke, der in der DDR am 11. Juli 1956 in der DDR wegen Spionage zu 4 Jahren Haft verurteilt worden war. Sein Urteil wurde 1991 kassiert.(4) "Am 4. November 1992 trat endlich das Strafrechtliche Rehabilitierungsgesetz (Str.RehaG) in Kraft."(5) Es ermöglichte die Aufhebung von DDR-Urteilen und die Rehabilitierung von Bestraften durch Gerichtsbeschluss und Entschädigungen für erlittenes "Justiz-Unrecht". Die Entscheidungen fielen auf Antrag des Generalstaatsanwaltes beim Kammergericht Berlin. Seit dem 1. Januar 2000 betrug die monatliche Entschädigung 600 DM, jetzt 306,78 Euro.

Die für die Politik entscheidende Frage ist: Welche Urteile der "SED-Justiz" wurden rehabilitiert, also durch die Siegerjustiz zu "Unrecht" erklärt?

Das sind Verurteilungen wegen "Landesverräterischer Nachrichtenübermittlung", "Staatsfeindlichen Menschenhandels", "Staatsfeindlicher Hetze", "Ungesetzlicher Verbindungsaufnahme", "Ungesetzlichen Grenzübertritts", "Boykotthetze", Wehrdienstentziehung und Wehrdienstverweigerung sowie wegen inhaltlich vergleichbarer Delikte, ferner wegen Hochverrats, Spionage, Anwerben zum Zwecke der Spionage, "Landesverräterischer Agententätigkeit", die "Waldheim"-Urteile, "Staatsverbrechen, die gegen einen verbündeten Staat gerichtet sind, Unterlassung der Anzeige dieser Straftaten sowie Geheimnisverrat oder inhaltlich vergleichbarer Straftaten, wenn die Tat für die Bundesrepublik Deutschland, einen mit ihr verbündeten Staat oder für eine Organisation begangen worden sein soll, die den Grundsätzen einer freiheitlichen rechtsstaatlichen Rechtsordnung verpflichtet ist, oder wenn die angeordneten Rechtsfolgen im groben Missverhältnis der zu Grunde liegenden Tat stehen."(6) De facto handelt es sich um Straftatbestände, die auch in parlamentarischen Demokratien zum Schutze ihrer staatlichen Existenz festgelegt werden.

In der Praxis der "Rehabilitierung" musste also rückwirkend die Souveränität der DDR und das völkerrechtlich bestätigte Verbot rückwirkenden Strafrechts aufgehoben werden. Der "Rechtsstaat" BRD hob damit entscheidende Grundlagen und Elemente eines Rechtsstaates auf.

Bräutigam schildert die Schwierigkeiten bei der "Rehabilitierung" am Beispiel einiger (harmloser) Fälle, um am Ende zu bilanzieren: "Bis zum 30. Juni 2007 wurden insgesamt 19.902 Anträge erledigt, wovon bis Ende 2004 insgesamt 8820 Anträge erfolgreich beschieden wurden. 3290 Anträge hatten keinen Erfolg. 6460 Anträge haben sich durch Rücknahme, Abgabe an andere Gerichte etc. erledigt. Man wird den Betroffenen eine unterschiedliche Beurteilung darüber zugestehen müssen, ob das Ziel erreicht worden ist oder noch erreicht werden kann."(7)

Und was gesteht Bräutigam einem kritischen Beobachter zu? Wäre es lehrreich zu erfahren, welche Gesetzesverletzungen bei den 8820 Anträgen nachträglich "rehabilitiert" wurden? Existiert eine Namensliste mit der Aufzählung der Urteile? Oder sind Namen wie Johann Burianek und Dr. Linse typisch für alle?

Johann Burianek, der erste und schlimmste Terrorist in der DDR, wurde im September 2005 vom Kammergericht Berlin rehabilitiert(8), Dr. Linse, der bei der "Arisierung" in Chemnitz eine führende Rolle gespielt hatte, sollte sogar mit Unterstützung Hubertus Knabes Namenspatron einer Stiftung werden.(9) Gibt es eine Schamgrenze bei Leuten wie Hubertus Knabe?

Um die offizielle Bilanz der "Rehabilitierungen" zu erfahren, ersuchte ich am 23. Januar 2008 das Justizministerium um Auskunft. Dr. Olizeg antwortete mir mit dem Datum vom 6. Februar 2008. Aus seinem Schreiben ergibt sich: Das Ministerium führt keine Statistiken. Für die Durchführung der Gesetze sind die Länder zuständig.

Ungeachtet dieser Einschränkung teilte er mit, dass noch seit 2002 bis zum 30.9.2007 17.432 Anträge auf Rehabilitierung gestellt worden sind, "von denen der weitaus überwiegende Teil Erfolg gehabt haben dürfte."

Für die einzelnen Länder führte Dr. Olizeg Folgendes aus (Wobei Angaben zu Zwischenfällen an der Grenze völlig fehlen.):

In Berlin hat es 261 Anklagen gegen 226 Beschuldigte im Bereich Justizunrecht mit 53 Verurteilten gegeben. In 72 Anklagen waren 101 MfS-Angehörige beschuldigt worden, was zu 33 Urteilen führte. In Brandenburg gab es 124 Beschuldigte, von denen 80 verurteilt worden sind, darunter 12 Bedienstete ehemaliger Haftanstalten wegen Körperverletzung und Freiheitsberaubung.

In Mecklenburg-Vorpommern wurden in 60 Anklagen 27 Beschuldigte verurteilt.

Sachsen hält mit 279 Anklagen gegen 305 Beschuldigte, von denen 90 verurteilt worden sind, den Rekord. Sachsen-Anhalt begnügte sich mit 79 Anklagen, davon 37 wegen "Tötungsdelikten an der innerdeutschen Grenze".

In Thüringen wurden 103 Anklagen erhoben, die zu 92 Urteilen führten. (In Thüringen führte fast jede Anklage zum Urteil.)

Zum Gegenstand der Anklagen und Urteile konnte Dr. Olizeg keine Angaben machen.

Nicht nur Bräutigam beschäftigte sich mit der "Rehabilitierung", sondern auch der Bundestag, allerdings nicht ganz freiwillig. Etwa 150 Bürger hatten eine Petition ausgearbeitet und unterstützt, in der der Bundestag gebeten wurde, "eine öffentliche Feststellung über den tatsächlichen Umfang des DDR-Unrechts zu treffen."(10)

Aber aus der Beschlussvorlage des Petitionsausschuss für den Bundestag ergibt sich:

- Eine Rechtspflicht für eine Bilanz "der Ergebnisse der strafrechtlichen Aufarbeitung des Staatlich begangenen Unrechts in der ehemaligen DDR gibt es nicht."

Heißt das, dass die riesigen materiellen, finanziellen und politischen Ressourcen, die in das Unternehmen "Rehabilitierung" gesteckt worden sind, für die Regierung und den Bundestag uninteressant sind und ohne die Petition gar nicht behandelt worden wäre?

- Der Petitionsausschuss hält es für untragbar, dem Ziel der Petenten zu folgen, unbewiesene Behauptungen über Folter, Zwangsadoptionen und Zwangseinweisungen in die Psychiatrie zu entkräften.

Heißt das, dass der Ausschuss es für "tragbar" hält, dass solche Lügen und Verleumdungen ungehindert weiter verbreitet werden?

Gebt es um Wahrheit und Lüge oder subjektives Ermessen?

- "Regimegegner" sollen "zumindest in Einzelfällen" Repressalien ausgesetzt worden sein.

Heißt die vage Antwort, dass es die behauptete Massenrepression nicht gab? Wen hat sie betroffen? Wie viele "Fälle" waren das?

- Der Ausschuss erklärt: "Die Gründe für die geringe Strafverfolgungsquote sind vielfältig und unbedingt im rechtshistorischen Zusammenhang zu sehen."

Wenn das für die "Rehabilitierung" stimmt, gilt es dann nicht auch für die Rechtsprechung in der DDR? Gibt es da keinen "rechtshistorischen Zusammenhang"? Am Verfolgungseifer der willigen Staatsanwälte kann die geringe "Verfolgungsquote" jedenfalls nicht gelegen haben.

- Im Beschluss des Bundestages wird behauptet, dass nach dem Einigungsvertrag vom seinerzeit geltenden Strafrecht der DDR ausgegangen worden sei. Nur bei den "Gewalttaten an der deutschdeutschen Grenze (sei) durch die Anwendung der Radbruchschen Formel" die Strafverfolgung von DDR-Bürgern möglich gemacht worden.

Beide Aussagen widersprechen den Tatsachen. In Dokumentationen der GRH wurde nachgewiesen, dass Richter und Staatsanwälte der DDR rechtswidrig und rückwirkend für ihre Rechtstreue gegenüber dem DDR-Recht bestraft wurden.(11)

Wenn Artikel 103 des Grundgesetzes, der in Übereinstimmung mit dem Völkerrecht rückwirkendes Strafrecht verbietet, eingehalten worden wäre, hätte es Strafprozesse gegen ins Reich "heimgeholte" DDR-Bürger (auch nicht über den Umweg der Mithilfe der Gauck-Behörde) nicht geben können, natürlich auch nicht gegen frühere DDR-Politiker wie Erich Honecker Egon Krenz und Hans Modrow. Nur der Völkerrechts- und Verfassungsbruch "erlaubte" die Siegerjustiz.

Was die Radbruchsche Formel anbetrifft, nach der die Ahndung von faschistischen Verbrechen nachträglich möglich gemacht werden sollte, ist ihre Anwendung durch die westdeutsche Justiz bei der Ratifizierung der entsprechenden Konventionen(12), ausdrücklich abgelehnt worden. Damit wurden Kriegsverbrecher geschützt.

- Zur "Bilanz", die der Petitionsausschuss dem Bundestag vorlegte, gehören neun "Fälle", bei denen "Kindesentziehung wegen Republikflucht aufgedeckt" wurden. Vermutlich handelt es sich um "Fälle", wie "Die Frau vom Checkpoint Charly".

Etwa zehn Millionen Fernsehzuschauer sollen den Film gesehen haben. (Ines Veith hatte das Thema schon vorher in zwei Büchern vermarktet: Gebt mir meine Kinder zurück. Zwangsadoption in der ehemaligen DDR, München 1991; Die Frau vom Checkpoint Charly. Der verzweifelte Kampf einer Mutter um ihre Töchter, München 2006.)

Nur: Die Herz zerreißende Story lügt. Die Mutter hat ihre Kinder in der DDR zurückgelassen. Der Vater und die DDR haben erfolgreich für die Mädchen gesorgt. Aber die Story war nützlich, um die DDR zu verleumden.

Liegen die anderen acht Fälle ähnlich?

Filme und Bücher von "Opfern der SED-Justiz" überschwemmten in den letzten Jahren den Markt. War es da nicht Pflicht der Bundesregierung, den "Tätern" in der DDR von damals nachzuspüren und die "Opfer" zu rehabilitieren und zu entschädigen? Nur die Bilanz fehlte bisher. Nun ist sie da, aber die wichtigsten Medien nahmen sie kaum zur Kenntnis.

Die Beschlussempfehlung (Drucksache 16/7493) des Petitionsausschusses, die den Titel trägt "Rehabilitierung von Bürgern der ehemaligen DDR", hat eine lange Vorgeschichte. Juristen wie Friedrich Wolff, Petenten vor allem aus Chemnitz und andere Interessierte hatten wissen wollen, wie die Bilanz der strafrechtlichen Verfolgung ist, der sich nach 1990 viele DDR-Bürger ausgesetzt sahen.

Antworten auf ihre Fragen: Wie viel und welche "Regimegegner" waren betroffen? Worin bestanden die "Repressalien"? fehlen.

Der Petitionsausschuss hält es für untragbar, dem Ziel der Petenten zu folgen, unbewiesene Behauptungen über Folter, Zwangsadoptionen und Zwangseinweisungen in die Psychiatrie zu entkräften.

Heißt das, dass der Ausschuss es für tragbar hält, dass solche Lügen und Verleumdungen weiter verbreitet werden? Geht es um Wahrheit und Lüge oder subjektives Ermessen? "Regimegegner" sollen "zumindest in Einzelfällen" Repressalien ausgesetzt worden sein. Genau um solche Fälle ging es den Petenten. Heißt die vage Antwort, dass es die behauptete Massenrepression nicht gab?

Der Ausschuss erklärt: "Die Gründe für die geringe Strafverfolgungsquote sind vielfältig und unbedingt im rechtshistorischen Zusammenhang zu betrachten."

Bedarf die geringe "Strafverfolgungsquote" einer Entschuldigung? Ist sie ein Makel? Gelten "rechtshistorische Zusammenhänge" nicht überall, für die BRD und die DDR gleichermaßen?

Im Beschluss 16/7493 wird behauptet, nach dem Einigungsvertrag sei vom seinerzeit geltenden Strafrecht der DDR ausgegangen worden. Nur bei den "Gewalttaten an der deutsch-deutschen Grenze (sei) durch die Anwendung der Radbruchschen Formel" die Strafverfolgung möglich gemacht worden.

Beide Aussagen widersprechen den Tatsachen. In Dokumentationen der GRH wurde nachgewiesen, dass Richter und Staatsanwälte der DDR rechtswidrig und rückwirkend für ihre Rechtstreue gegenüber dem DDR-Recht bestraft wurden.(11) Wenn Artikel 103 des GG, der rückwirkendes Strafrecht in Übereinstimmung mit dem Völkerrecht verbietet, angewendet worden wäre, hätte es natürlich keine Prozesse gegen Erich Honecker, Egon Krenz, Hans Modrow und andere geben dürfen. Nur der Völkerrechts- und Verfassungsbruch erlaubte die Siegerjustiz.

Zur "Bilanz" gehört, dass neun Fälle aufgedeckt wurden, in denen es um "Kindesentziehung wegen Republikflucht" geht. Vermutlich geht es um Fälle wie die bereits erwähnte "Frau vom Checkpoint Charly."

Wie wäre es mitfolgendem Vorschlag: Die Schicksale der neun Fälle von "Kindesentziehung" werden dargestellt. Zum Vergleich dazu wird mitgeteilt, wie die BRD - in wie vielen Fällen - mit Kindern verfährt, die von ihren Eltern im Stich gelassen wurden.

- Im Beschluss wird, ohne Zahlen und Fakten zu nennen, der Psychiatriemissbrauch behauptet: "Zweifel bestehen nur (?) dahingehend, ob Zwangseinweisungen in der ehemaligen DDR systematisch zur Verfolgung politischer Gegner eingesetzt wurden."

Wieso bestehen Zweifel? War das nicht einer der wichtigsten Vorwürfe gewesen? Steht der Kronzeuge der Medien, der frühere sächsische Innenminister Heinz Eggert ("Pfarrer Gnadenlos") nicht mehr zur Verfügung? Gibt es nicht gleichwertigen Ersatz?

Von den Behauptungen bleiben noch Folter und Übergriffe gegenüber Häftlingen. Über diese Delikte erfahren die Abgeordneten:

Die Existenz von Folter in der DDR sei durch die "Einschätzung (?) des Historikers und Experten für die Geschichte der Folter"(!) Robert Rogalla erwiesen. Allerdings: "Bislang stehen Dokumentationen der Folterhandlungen nicht in ausreichendem Maße zur Verfügung".

Bislang? Nach achtzehn Jahren "Aufarbeitung"? Welche "Folterfälle" sind "dokumentiert"? Und was schlug der Petitionsausschuss dem Bundestag vor? Die "weitere Erforschung" eines nicht existierenden Gegenstandes? Foltern und Folterer können nicht in der DDR gefunden werden.

- Am Ende des Beschlusses wird den Abgeordneten noch einmal erklärt, warum auch Generalstaatsanwalt Schaefgen ein so mageres Ergebnis der "strafrechtlichen Aufarbeitung des DDR-Unrechts" vorlegte. Das hat natürlich nicht damit zu tun, dass es das behauptete massenhafte "SED-Unrecht" nicht gab, sondern "mit dem Ablauf von Verjährungsfristen, den persönlichen und sächlichen Mitteln der Justiz, aber auch mit der Aufklärung weit in der Vergangenheit liegenden Sachverhalten zusammenhängt."

Das ist eine armselige und verlogene Erklärung, die im Bundestag nicht auf Widerstand stieß. Ehrlich und wahrheitsgemäß hätte gesagt werden können und müssen: Der Auftrag Kinkels, die DDR juristisch zu delegitimieren, war nicht erfüllbar.

In der DDR gab es einzelne bedauerliche Unrechtsurteile (wie überall in der Welt), aber kein staatlich verordnetes Unrecht. (Wie das in der BRD war, wird hier nicht dargestellt.)


Anmerkungen:

(1) Deutschland Archiv 6/2007, S. 1056

(2) Lothar Bisky, Uwe Jens Heuer, Michael Schumann (Hrsg.): "Unrechtsstaat? Politische Justiz und die Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit", Hamburg 1994

(3) Hansgeorg Bräutigam, Deutschland Archiv 6/2007, S. 1057

(4) Fricke über seinen "Widerstand" u. a. in: Karl Wilhelm Fricke / Roger Engelmann: "Konzentrierte Schläge", Staatssicherheitsaktionen und politische Prozesse in der DDR 1953-1956, S. 214 f.

(5) Deutschland Archiv 6/2007, S. 1061

(6) Artikel 1 des Str.RehaG

(7) Deutschland Archiv 6/2007, S. 1066

(8) Horst Schneider: "Der Fall Burianek", RotFuchs Mai 2007

(9) Bruno Kirsch: "Walter Linse 1903 - 1953 - 1996", Dresden 2007

(10) BT-Drucksache 16/7493, Pet. 4-16-07-35

(11) Ein besonders krasser Fall in Endrik Wilhelm: "Rechtsbeugung in der DDR. Die Sicht der Verteidigung", Berlin 2003

(12) "Menschenrechte. Dokumente und Deklarationen", 3. Aufl., Bonn 1999, S. 281 f.

Raute

Fakten und Meinungen

Lorenz Knorr

Antifaschismus - passé?

Reales oder neu interpretiertes Geschichtsbild?

Stabilisierung imperialistischer Herrschaft erfordert vielfältige Maßnahmen. Ein Sonderfall solcher Manipulationen sind die entsprechenden Praktiken derer, die vor 1945 als maßgebliche Helfer des faschistischen Terrorregimes wirkten und nachfolgend durch US-Hilfe in Westdeutschland beachtlichen Einfluss erreichten. Ihre nachwirkende Aktivität veränderte tief greifend, was vor und nach dem 8.5.1945 an historisch-politischer Konsequenzen gefordert wurde und notwendig blieb: "die Befreiung des deutschen Volkes von Faschismus und Krieg", wie es im Schwur von Buchenwald 19.4.1945 und im Potsdamer Abkommen vom 2.8.1945 sinngemäß heißt, verkehrten Hitlers Helfer in raffiniertester Weise ins Gegenteil - unter Wahrung formaldemokratischer Verhältnisse. Tatsächlich stellte man Schritt für Schritt jene machtpolitischen bzw. sozialstrukturellen Bedingungen wieder her, die zwei Weltkriege und den deutschen Faschismus hervorbrachten. Im folgenschweren blinden Machtstreben ignorierten die alten/neuen Finanzkapitalherren, Ex-NS-Obere und reaktivierte Spitzenmilitärs, was ihre eigene Praxis von 1933 bis 1945 hervorbrachte. Sie lernten vor allem eines: beim nächsten Krieg auf der Seite des Stärkeren dabei zu sein.(1)

Die US-Führung hätte ihre auf das Monopol des Besitzes der Atombombe gestützte und globale Hegemonie anvisierende neue Globalstrategie gegen die zur Weltmacht aufgestiegene UdSSR(2) mit deutschen Antifaschisten nicht zu realisieren vermocht; sie benötigten auf einem strategisch höchst wichtigen Terrain die "Ostexperten Hitlers". Diese instrumentalisierte man als willige Akteure(3) zur riskanten Konfrontation. Allerdings trugen diese ihren Teil dazu bei, dass der Kalte Krieg mit nuklearen Arsenalen eskalierte und alle westlichen Entspannungsversuche ebenso zunächst scheiterten wie die auf ein kollektives Sicherheitssystem in Europa gerichteten Vorschläge der UdSSR.(4) In Ökonomie, Staatspolitik, Justiz, Militär, Polizei, Bildungswesen und Medien setzten sich tradierte antikommunistische Praktiken und Ideen durch, die mit der totalen Kapitulation des faschistischen Deutschlands überwunden schienen. "Wir nahmen jeden Schweinehund; Hauptsache er war Antikommunist", so der leitende CIA-Agent Resitzke.(5) Eine auffallende Interessen-Identität zwischen den auf "Roll back" fixierten US-Führungskräften und den auf Revanchismus orientierten Westdeutschen zeichnete sich ab. Die Deutschen in Ost und West bezahlten nach der Erosion der Anti-Hitler-Koalition dafür!


Die "unentbehrlichen" Neu- bzw. Pseudodemokraten

In zweierlei Hinsicht gelang es den Nutznießern des NS-Regimes ihres Prädestiniertheit und spezielle "Eignung" für den demokratischen Neuaufbau in Führungsämtern zu "belegen": 1. Sie hätten "bis 1945 vor allem Deutschland treu gedient" bei betonter innerer Distanz zum Hitler-Staat; von Ungesetzlichkeiten hätte man nichts gewusst! 2. Wo sie nicht zu verschweigen waren, bagatellisierte man die Singularität faschistischer Gewaltverbrechen. Die Franzosen hätten auch ihren Napoleon und die Briten unterhielten einst in Südafrika KZs gegen die Buren! Den faschistischen Holocaust und Hitlers "Technik der Entvölkerung" in Osteuropa als unauslöschliche Unterschiede vertuschten diese Herren, auch um sich selbst zu entlasten.(6)

Neben versuchter personaler Weißwäsche vermittelte man ein den Realitäten widersprechendes Geschichtsbild, das seine Wirkung auf die Generation der Mitläufer nicht verfehlte: entschuldigte es doch zugleich das Untätigsein bzw. die billigende Hinnahme aller barbarischen Verbrechen der braunen Horden und auch der deutschen Wehrmacht. Die Repräsentanten von Kapitalinteressen bzw. der Dreieinigkeit von NS-Führung, Finanzkapital und Generalität brauchten ihr antikommunistisches und fortschrittsfeindliches Denken und Verhalten nicht zu verändern! Sie vermittelten es ihren Söhnen und sonstigen Nachkommen, damit es auch weiterhin die deutsche Gesellschaft und die Staatspolitik präge!(7)

Zuständige Personen der westlichen Besatzungsmächte durchschauten solche Umdeutungen. Man sah sich jedoch auf die Hilfe solcher Personen bzw. Gruppen angewiesen, wollte man die politische und soziale Herausforderung der UdSSR bestehen und in einen eigenen Erfolg verwandeln. Zudem: für die Menschen in den einst okkupiert westlichen Staaten war es eine Beruhigung, von der "Demokratisierung" in Westdeutschland zu erfahren!

Der 8. Mai 1945 hatte zwar einen tiefen Bruch in der staatsrechtlichen Entwicklung Deutschlands gebracht, in den Köpfen der Unzahl von Hitlers Gefolgsleuten, nun in Bonner Diensten, existierte aber keine tiefe Zäsur, von Ausnahmen abgesehen! Man hängte sich ein demokratisches Mäntelchen um, unter dem der alte Geist dominierte und die "neue demokratische Politik" beeinflusste. Ein autoritär und nur mit seinem "Küchenkabinett" und ohne Parlament agierender Kanzler Adenauer war das Ergebnis dieser Entwicklung.(8)


Welches Geschichtsbild der Deutschen dominiert?

Versuche der Neudemokraten, sich gleichberechtigt in die westliche Gemeinschaft einzuordnen, verlangten ein den Realitäten widersprechendes Geschichtsbild. Wenn nur diese schrecklichen Antifaschisten nicht dauernd konkrete Lehren aus der Vergangenheit einforderten: auch vor 1945 agierten sie als Staatsfeinde! WIR zogen die Konsequenzen.

SIE meinen, eine hoffnungsvolle Zukunft baue auf IHR Verständnis von der deutschen Geschichte! Diese kleine Minderheit wird man in unserer Demokratie zu isolieren wissen - oder völlig unschädlich machen! Deren Verweis auf den sogenannten "deutschen Sonderweg" ist absurd und eine Verdrängung der Größe unseres Vaterlandes! UNS anerkannten unsere amerikanischen Verbündeten! Nicht sie!(9)

Tatsächlich prägte der "deutsche Sonderweg" ab 1789 mit betonter und militärisch massiv verstärkter Gegnerschaft zu Volkssouveränität, Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit nicht nur die Deutschen(10), sondern reaktiv auch ihre traditionell demokratischen Nachbarn. Die in deutschen Landen übliche und zur massiven Abwehr progressiver Einflüsse verstärkte Obrigkeitsstaatlichkeit sowie militärische Gehorsams- und Unterordnungspflicht verbunden mit der zunehmenden kapitalistischen Expansionskraft und skrupelloser Unterdrückung des aufstrebenden Proletariats brachte eine politische Spezifik mit sich, die die Kluft zwischen dem monarchisch-klerikalen Deutschland und den bürgerlich-parlamentarischen Demokratien in Europa verstärken musste. Die privatwirtschaftliche Struktur blieb dieselbe, aber die an den politischen und militärischen Schalthebeln Tätigen unterschieden sich erheblich! In keinem von der Französischen Revolution von 1789 beeinflussten bürgerlich-demokratischen Staat wäre z. B. das Bismarcksche Sozialistengesetz von 1878 bis 1890(11) gegen die wachsende Arbeiterbewegung auch nur denkbar gewesen! Der Widerspruch zwischen den von der europäischen Aufklärung und vom Humanismus sowie von der Volkssouveränität geprägten Akteuren zu den von der autoritären, chauvinistischen und betont militaristischen Tradition beeinflussten deutsch Sprechenden in den mit mitteleuropäischen Kaiserreichen wirkte nachhaltig: zwischenstaatlich und auch innenpolitisch primär im Hohenzollern- und im Habsburger Staat.

Unversöhnlich standen sich diese antagonistischen Kräfte gegenüber! Dementsprechend vermittelte man Geschichte!(12)

Der 9.11.1918 in Deutschland schien zwar zu einer verspäteten Angleichung an die Verheißungen von 1789 und die demokratische Entwicklung zu führen: die Weimarer Republik wurde erkämpft, ein historisches Datum in der deutschen Geschichte! Weil man aber nur den Kaiser und nicht auch seine einflussreichen Wirtschaftsbosse und die Generale stürzte, war der Rückfall von 1933 in die Barbarei fahrlässig programmiert! Die Vergesellschaftung der Großwirtschaft und der Großagrartätigkeit war 1918 möglich: damit hätte man auch die "alten Eliten" entmachtet. Dies wurde versäumt! Verschiedene Interpretationen dieses Versagens täuschen nicht darüber hinweg!(13)

Die faschistische Bewegung in der Weimarer Republik, speziell ihr rapides Wachstum in der Weltwirtschaftskrise von 1929 bis 1932, wird unterschiedlich erklärt. Die Behauptung, die Revolution 1917 im damaligen Russland wäre die Ursache von Entstehung und Wachsen der NS-Partei mit Hitler, ist erwiesen falsch! Die Ursprünge der faschistischen Partei mit ihrer unmenschlichen Praxis und Ideologie sind im deutschen Kaiserreich zu finden; sie sind vom deutschen Sonderweg vorgeprägt! Judenhass und -verfolgung, Unterdrückung der Arbeiterbewegung und Zerstörung der Demokratie: all dies fußt auf historischen Vorbildern und Voraussetzungen! "Vernichtung des Marxismus!", Holocaust, als "Untermenschen" diffamierte Individuen anderer Völker haben eine lange Vorgeschichte.(14) Nur die Steigerung ins Extrem ist das Besondere der fatalen Entwicklung nach 1933. Es folgte die Steigerung des Krieges zum "Vernichtungskrieg" in Südost- und Osteuropa mit der "Technik der Entvölkerung", drastisch gesteigerte Risikobereitschaft mit hypertrophen Irrationalismus: solches existierte in westeuropäischen bürgerlichen Demokratien nicht!(15)

Gewiss brachte der 8. Mai 1945 einen tiefen Bruch in der Geschichte der Deutschen. Anfängliche demokratische Versuche konterkarierten wie bekannt jene, die schon zu Führers Zeiten gegen Aufklärung, Humanität und Volkssouveränität wirkten.(16) Die "Neu-Interpretation der deutschen Geschichte" kann darüber nicht hinwegtäuschen; "schwarze Flecken" in der Entwicklung in Mitteleuropa und der alte "furror teutonitcus" sind kaum wegzuretuschieren.


Begriff und Realität des Antifaschismus eliminieren?

Einflussreiche Akteure der BRD in Wirtschaft, Politik, Justiz, Medien, aber auch in der Wissenschaft, versuchen, den Begriff "Antifaschismus" zu tilgen, aus dem Bewusstsein der Menschen zu verdrängen!(17) Dieses Contra zum infernalischen Faschismus erinnert zu sehr an die Gewaltverbrechen der an Hitler orientierten Akteure im In- und Ausland. Diese Erinnerung erschwert nicht nur die gleichberechtigte Einordnung in westliche Gemeinschaften, sondern auch das Anstreben von Hegemonie, der ökonomischen Kapazität entsprechend zunächst in der EU, später in größerem Rahmen. Die 1945 verlorene Machtstellung der deutschen Führungskräfte soll wieder hergestellt werden. Wenn aber der mit satanischen Verbrechen verknüpfte Begriff "Faschismus" aus dem Gedächtnis von Menschen und Völkern verschwinden soll, muss folgerichtig auch der Gegenbegriff "Antifaschismus" gelöscht werden!

Manche deutsche Wissenschaftler - ob karrierebereit oder fahrlässig - begrenzen "aus streng wissenschaftlichen Erkenntnissen" den Begriff "Faschismus" auf Italien und wollen für Deutschland den aus ihrer Sicht genaueren (oder weniger Verdacht produzierenden?) Terminus "Nationalsozialismus" verwendet sehen. Damit gehen sie jedoch einem Propagandatrick bzw. einer gezielten Irreführung der faschistischen Führung in Berlin auf den Leim! Zunächst ist der Begriff "Nationalsozialismus" ein contratictio in adjecto, ein Widerspruch in sich, weil Sozialismus von Anfang an von internationalistischem Inhalt charakterisiert war ("Proletarier aller Länder vereinigt euch!"). Die Hitler und Goebbels raubten der historischen Arbeiterbewegung zwecks Durchsetzung einer inhumanen Praxis und Ideologie sowie zur Gewinnung von Arbeitern einiges: das Rot der Fahne, den 1. Mai und den Begriff "Sozialismus". Die prinzipielle Unvereinbarkeit von Emanzipation als Ziel und Unterwerfung von Mensch, Volk und Völkern blieb ausgeklammert! Manche Wissenschaftler ignorieren auch, dass ihr eigenes Urteil bei geisteswissenschaftlichen Disziplinen standortgebunden ist, von ihrer Stellung in Staat und Gesellschaft bedingt!

In der damaligen CSR verwies der Begriff Antifaschismus auf die erklärte und praktizierte konsequente Gegnerschaft zu den Anhängern Hitlers und Henleins, die maßgeblich an der Zerstörung einer funktionierenden parlamentarisch-bürgerlichen Demokratie mitwirkten. Soll auch dies verschleiert werden? Versucht man, das Täter/Opfer-Problem ins Gegenteil zu verkehren?(18)

Repräsentanten der Arbeiterbewegung unterschieden selbstverständlich zwischen deutschem und italienischem Faschismus: letzterer realisierte weder die Judenverfolgung noch die Abwertung der slawischen Völker als "Untermenschen". Man differenzierte noch weiter hinsichtlich der diktatorisch-faschistoiden Systeme in Spanien und Portugal, dem höchst unterschiedlichen Stand der Produktivkraftentwicklung sowie anderen historischen und sozialpsychologischen Voraussetzungen gemäß.

Der Begriff "Nationalsozialismus" fördert teils unterschwellig, teils bewusst das unwissenschaftliche Totalitarismus-Theorem: Faschismus als totale Unterwerfung von Menschen und Sozialgruppen oder anderen Völkern wird gleichgesetzt mit einer von Ausbeutung, Unterwerfung und Krieg befreiten Gesellschaft der Freien und Gleichen.(19)

Einige deutsche Wissenschaftler lehnen den Gebrauch des Begriffs "Antifaschismus" auch ab, weil er in einem Benes-Dekret von 1945 angeblich das erste Mal verwendet sei. Das ist falsch! Der Begriff ist älter. Bereits vor 1933 in Deutschland und auch in der CSR war er gebräuchlich!

Im Juli 1932 z.B. fand in Berlin der Reichskongress der Antifaschistischen Aktion statt.(20) Wie in der CSR vor 1938 war "Antifaschismus" die übergreifende Bezeichnung für Sozialdemokraten, Kommunisten und linksbürgerliche Akteure, die gemeinsam den politischen Kampf gegen die drohende faschistische Diktatur führten.

Manche Historiker stützen sich, wie obiges Beispiel zeigt, primär oder ausschließlich auf staatliche Dokumente und klammern die von gesellschaftlichen Kräften aus. Große historische Umwälzungen gingen jedoch meist vom Volk, also von gesellschaftlichen Kräften aus, was die Bedeutung von nichtstaatlichen Dokumenten belegt.(21)

Antifaschismus bezieht sich mit starker inhaltlicher Substanz auf faschistische Diktatur. "Widerstand" dagegen kann sich von ethisch und politisch höchst unterschiedlichen Kräften gegen vielfältige Gegner richten. Dieser Begriff ist also nicht scharf, er ist indifferent! Kommt es auf solche Beliebigkeit an, wenn versucht wird, den klaren Terminus "Antifaschismus" gegen den diffusen Begriff "Widerstand" auszutauschen? Ist das nur ein Anzeichen von wissenschaftlich unhaltbarer Ungenauigkeit oder steckt klares Kalkül dahinter?

Versuche, den aussagekräftigen Begriff "Antifaschismus" durch unklaren "Widerstand" zu ersetzen, stehen noch in einem anderen Zusammenhang. Sowohl praktisch-politische Erfahrungswerte als auch verifizierte theoretische Erkenntnisse belegen, dass Faschismus und Krieg ein voneinander unlösbares Phänomen bilden. Sollen auch die bekannten Schrecken, Zerstörungen und die gewaltigen Menschenopfer deutschen Strebens nach einem "Siegfrieden" für ein "Imperium Germanicum"(22) aus dem Gedächtnis gelöscht werden? "Denn heute gehört uns Deutschland, und morgen die ganze Welt!" Ist dieser Anspruch vergessen bzw. soll er ins Dunkel der Geschichte gedrängt werden?

Antifaschismus ist dagegen mit konsequenter Friedenspolitik mittels Abrüstung (zu Gunsten sozialer Investitionen) und mit Völkerverständigung verbunden contra "Zerstörung der Vernunft" und gesteigerten Irrationalismus, wie dem Faschismus eigen.

Versuche, den Begriff Antifaschismus zu tilgen, zielen auch auf die Zerstörung der Identität im Sinne von Selbstverständnis und gemeinsamer Ausdruckskraft der Streiter gegen faschistische Barbarei, auch wenn dieses Ziel bestritten wird. Die oft betonte Wissenschaftlichkeit der "Antifa"-Löscher führt keineswegs zu größerer Klarheit beim Bestreben, Realitäten zu erkennen und nutzbar zu gestalten für ein humanes Leben. Antifaschisten kapitulierten 1933 und 1938 nicht; sie werden auch in dieser Zeit nicht vor versuchter Begriffsverwirrung kapitulieren!


Quellennachweise und Anmerkungen:

(1) Vgl. U. Albrecht u. a., Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Köln 1979. R. Badstübner, Entstehung und Entwicklung der BRD, Köln 1972 (2). G. Füllbert, Geschichte der BRD in Quellen und Dokumenten, Köln 1982

(2) Vgl. L. L. Matthias, Die Kehrseite der USA, Hamburg 1964. B. Greiner, Auf dem Weg in den 3. Weltkrieg, Dokumentation, Köln 1980. F. Sternberg, Wer beherrscht die 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts?, Köln 1961

(3) In der "Historical Division" stellten die USA 1945 ca. 150 NS-Generale von der gebotenen Verfolgung und Bestrafung frei für eine Gegenleistung: ihre Erfahrungen mit den Ost- und Winterfeldzügen gegen die UdSSR zu notieren, auszuwerten und verfügbar zu machen! Vgl. auch L. Knorr, Rechtsextremismus in der Bundeswehr, Frankfurt/M. 1998. VVN, In Sachen Demokratie, Frankfurt/M. 1962

(4) E. Labor, 60 Jahre Kampf für Frieden und Sicherheit in Europa, Berlin 1977. "An Alle!", Sowjetische Vorschläge ..., Köln 1986

(5) L. Simpson, Der Bumerang, NS-Kriegsverbrecher im Sold der USA, Wien. 1988, S.74 ff. K. Jaspers, Wohin treibt die Bundesrepublik? München 1966

(6) Der Verfasser diskutierte des Öfteren mit alten/neuen "Führungsmenschen" der BRD derartige Fragen mit fast gleichen Ergebnissen.

(7) Vgl. H.W. Richter, Bestandsaufnahme, München 1962, bes. S. 135 ff., S. 221 ff., S. 373 ff. und S. 428 ff. K. Jaspers o.a.

(8) Vgl. W. Röhricht, Die Demokratie der Westdeutschen, München 1988, bes. S. 27 ff.

(9) Der Verfasser hörte ein solches Gespräch am Nebentisch eines Bonner Nobelrestaurants zwangsläufig mit, als er von einem Grafen des Friedensbündnisses zu einem Arbeitsgespräch eingeladen war.

(10) Vgl. R. Kühnl, Deutschland nach der Französischen Revolution, Heilbronn 1986

(11) Dokumentation Das Sozialistengesetz, Illustrierte Geschichte, Berlin 1980

(12) Vgl. E. Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme, München 1995, S. 186 ff.

(13) Der damalige Vorsitzende der SPD, F. Ebert, stellte sich resolut gegen die Revolution, weshalb Scheidemann am 9.11.1918 die demokratische Republik Deutschland ausrief (bei Beibehaltung der alten Wirtschaftsstruktur), während K. Liebknecht konform zum SPD-Programm die Sozialistische Republik proklamierte, also einschl. der Vergesellschaftung von Großwirtschaft und Großbanken

(14) Vgl. F. Fischer, Der Griff nach der Weltmacht, Düsseldorf 1961

(15) Zur "Technik der Entvölkerung", nach der 30 Millionen Slawen zu töten waren, vgl. IMT-Dokumentation und J. Heydecker/J. Leeb, Der Nürnberger Prozess, Frankfurt/M. 1961, S. 417 ff.

(16) Vgl. U. Mayer/G. Stuby, Die Entstehung des Grundgesetzes der BRD, Köln 1976. Dies., Das lädierte Grundgesetz, Köln 1977

(17) So in verschiedenen Ausgaben der FAZ und von Die Welt

(18) Vor allem BdV und SdL versuchten Jahrzehnte lang die tatsächliche Funktion der faschistischen Henlein-Partei SdP zu verschleiern und die Täter nur als Opfer erscheinen zu lassen. - Der Hinweis eines deutschen Wissenschaftlers, die Antifaschisten seien nur eine kleine Minderheit gewesen, kann Geringschätzung und Abwertung ausdrücken (entsprechend der ganzen Argumentationsweise); sie kann aber auch rein sachlichen Charakter haben. In diesem 2. Fall stellt sich die interessante Frage, ob historische bzw. zeitgeschichtliche Ereignisse nur nach ihrem quantitativen Gewicht zu beurteilen wären oder nach ihrer qualitativen Wirkungsweise!

(19) Vgl. M. Greiffenhagen u. a., Totalitarismus, München 1972. - Dieser Überrest des Kalten Krieges bzw. der militärischen Konfrontation sollte endlich einer sachlich-korrekten Betrachtungsweise weichen

(20) Auch die Bremer Arbeiter-Zeitung vom 15.2.1932 berichtete über "Alles für die Antifaschistische Einheitsfront". Bei vielen Diskussionen und Konferenzen zur "Volksfront" contra Faschismus erfolgten Bekenntnisse zur "Antifaschistischen Gemeinsamkeit"!

(21) Im Zeitalter des gesellschaftlichen Wirkens von NGOs (nongovernemental organisations - Nichtregierungs-Organisationen) sollte es selbstverständlich sein, Dokumente gesellschaftlicher Akteure der Historiografie angemessen zu berücksichtigen!

(22) Vgl. W. Goldenach/H. R. Mirnow, "Deutschland erwache!". Aus dem Innenleben des staatlichen Pangermanismus, Berlin 1994, S. 101, S. 104 ff. und S. 111. - Die inhaltliche und damit auch begriffliche "Entsorgung der deutschen Vergangenheit" ist nicht neu! Vor allem der sog. "Historikerstreit" von 1986/87 belegt, wie rechtskonservative und deutschnationale Politiker und Wissenschaftler versuchten, historische Realitäten umzufälschen oder zu verdrängen. Vgl. H.U. Wehler, Entsorgung der deutschen Vergangenheit, München 1988. R. Kühnl, Vergangenheit, die nicht vergeht! Köln 1987


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:
- Mieczyslaw Berman, Porträt, 1941. Fotomontage aus dem Zyklus Blut und Eisen, 67,5 x 50 cm

Raute

Fakten und Meinungen

Irene Edith Eckert

Gedanken wider den Zeitgeist

Sprache und Denken II

Mögen uns alle Widerstände Antrieb sein, das für recht Befundene dennoch zu wagen

"Lenin kam nur bis Lüdenscheid"(1) - wollen wir aber menschheitlich weiterkommen, so müssen wir tiefer schürfen, als es die vielleicht unterhaltsam-pfiffige 68er Doku vermag. Für jene, die Antworten auf die wirklichen Zeitfragen suchen, ist es nachgerade kontraproduktiv, die vermeintlich angestaubten Säulenheiligen einer verflossenen Ära vom Sockel zu schubsen und ihnen "Good-Bye"(2) hinterherzurufen. Zu fragen wäre vielmehr, warum diese einmal Generationen zu begeistern vermochten und unter welchen Umständen sie ihren Glanz verloren. Herauszufinden wäre also, wie denn so einer wie Lenin immerhin 1917 "In zehn Tagen die Welt erschüttern"(3) half und dafür geliebt und geachtet wurde. Kreative Geburtshelfer unserer nachrevolutionären, neonleuchtenden Geschichtsperiode vom "Congress for Cultural Freedom" etwa, wissen viel genauer als mancher scheinprogressive Kritiker, warum den Nachgeborenen ein tieferer Blick in die Welt Leninscher Begriffe ein für alle Mal madig gemacht werden muss. Es geht um die Waffe der Kritik, die unsere Oberen mehr fürchten als der Teufel das Weihwasser. Sie nämlich wurde mit dem Absetzen der alten Lehrer stumpf gemacht. Die theorie- und führungslos zurückgebliebenen Massen fügen sich seit dem Sturz der Giganten besser ins scheinbar Unvermeidliche. Wessen Mumie trotz alledem noch Lebendige anzieht, der wird eben medial geschickt verhöhnt, verharmlost oder verteufelt. So manchem Revolutionär wurde posthum das frische Gewand eines Massenmörders verpasst. Die Folgen für die Nachgeborenen waren in jedem Fall verheerend. "Den Sack schlägt man und den Esel meint man", so weiß es der Volksmund, aber er glaubt auch zu wissen, "dass da schon was dran sein wird", an dem Dreck, der aus allen Kanälen dringt. Gilt doch die "Bildzeitung" landesweit als "das Lügenblatt", tut aber dessen ungeachtet ihre Wirkung. Boulevardpresse und Sprichwort ersparen uns eben nicht die eigene gedankliche Anstrengung. Vor allem nicht, wenn die übrigen Medien mit Hilfe von begrifflicher Verwirrung ein Zerrbild der Gegenwartsgeschichte liefern. Unbefangenes Befassen mit dem bis zur Unkenntlichkeit verleumdeten Gegenstand wird so auch dem wissbegierigen Leser schier unmöglich. Uns überlebenswilligen Erdbewohnern gehen durch den verächtlichen Umgang mit den Klassikern wesentliche Einsichten verloren. Dabei waren revolutionäre Geister von Schiller an selten so aktuell wie heute. Ihre aus den Kämpfen der Jahrhunderte geborenen, durch Selbststudium und harte Lebenserfahrung entstandenen Texte geben wertvolle Antworten auf so drängende gesellschaftliche Fragen wie "Was tun?"(4) Ein weiter Blick zurück in Schillers "Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen" etwa vermag uns daher zu ermutigen, alle Widerstände als Antrieb aufzufassen, das für recht Befundene dennoch zu wagen.


Abschied von den alten Meistern und "revolutionäre" Moderne

Lenins produktiver Streit mit den Vertretern der sozialen Bewegung vor über hundert Jahren befähigt uns, die gravierendsten Fehler des heutigen "Führungspersonals" zu erkennen und entscheidend zu korrigieren. Seine Lehren ignorierend, sind wir als Gesellschaft in der Zeit um Epochen zurückgefallen. Während die alten Meister Wege aus der Gefahr wussten und auf die Umwälzung aller Verhältnisse orientierten, in denen der Mensch ein geknechtetes und erniedrigtes Wesen ist, gilt im Zeitalter der Begriffsverwirrung nurmehr das Formal-Experimentelle als revolutionär. So fühlen sich kluge und sich fortschrittlich wähnende Menschen des 21. Jahrhunderts frei von ethischen Bindungen. Damit scheinen sie ermächtigt, mit radikaler Geste jedes Tabu niederzuwalzen. Kein "Feuchtgebiet"(5) ist ihnen zu glitschig, kein "Elementarteilchen"(6) zu verstiegen, aber auch keine Schnulze zu honigsüß. Jeder weiß "sex sells" and "everything goes". Sprachlich Innovative werden als Artneulandbeschreiter(7) oder Bildneuschöpferin gefeiert. Als solche kreieren die Vorwärtsstürmer nie dagewesene "Environments", während die reale Umwelt unbewohnbar wird. Es regiert eingestandenermaßen der Profit oder doch der persönliche Vorteil.

In Anbetracht der zitierten Freizügigkeit bleibt vielen Menschen in der nördlichen Hemisphäre verborgen, dass für uns längst neue Götter ersonnen und neue Tabuzonen definiert wurden. Unmerklich beherrschen diese die Ton angebende Intelligenz der Industrienationen. Noch greifen deshalb die Zensurschnitte wirksam in unsere Hirne ein und verhindern Bewusstwerdungsprozesse über unser Verhaftetsein. Der, menschheitlich gesehen, unermessliche Schatz von zu echter Freiheit führendem Wissen ruht im Verborgenen. Solange es in allen G7/8-Staaten eine satte Schicht von Menschen gibt, die am Wohlstand partizipieren, wollen dort nur wenige wissen, dass dieses Reichenprivileg mit dem Blut erpresst wird, das noch immer aus den "offenen Adern"(8) des Südens fließt. Die veröffentlichte Meinung schläfert das Gewissen der Privilegierten ein. Die meisten stillen Teilhaber ignorieren bereitwillig, dass die kapitalismusbedingte Ausplünderung der Südhalbkugel bereits jetzt auch den Nordlichtem teuer zu stehen kommt: Die dafür erforderliche Repressionsmaschine gebietet nämlich zwingend die Plünderung öffentlicher Kassen. Ihr Rohstoffhunger bringt unsere gebeutelte Umwelt zum Fiebern.


Aufbruch zu neuen Horizonten?

Junge Menschen suchen nach neuen Horizonten. Sie reisen gerne und wollen die Welt erkunden. Nach erfolgreich absolvierter Schul- oder Berufsausbildung, nach Hochschul- und Graduiertenstudium und nach vielen, kaum oder gar nicht bezahlten Praktika strandet so mancher Weltenbummler an den Grenzen des Systems. Dort findet er prekäre Arbeitsverhältnisse oder Arbeitslosigkeit vor. Der Eintritt in den Wehrdienst, fern der Heimat, für eine Extraprämie oder eine Aufstiegschance mag so manchen Abenteuerlustigen als Ausweg locken.

Die Kreativsten "jungen Wilden" dürfen ihre Dienste dem Topmanagement großer Multis für Silberlinge zur Verfügung stellen. In den Chefetagen der Macht können sie dann die hässlichen Begleiterscheinungen der großen Unordnung eine Zeitlang noch kaschieren helfen. Bis auch sie an ihre Leistungsgrenzen gelangen und dann? Frisch, frei und flexibel braucht uns das Kapital, was aber wird aus den Ausgesonderten?

Die meisten jungen Menschen haben konstruktive, weitreichende Träume. Sie verstehen sich keinesfalls als Handlanger der Mächtigen. Ihre Sehnsucht richtet sich nicht aufs Geld. Sie spüren, dass unsere Existenzgrundlagen als Menschen weltweit in Gefahr sind. Umwelt- und andere Krisen sind schließlich fühlbar gegenwärtig.

Der Ausweg aber, der rettende, liegt ganz nah. Dazu muss allerdings der Bedrohungsfaktor in der herrschenden Gesellschaftsordnung dingfest gemacht werden. Das geht nicht ohne eine wissenschaftliche Theorie, die die Verhältnisse aus der Perspektive der überwältigenden Mehrheit der Menschen als veränderbar erscheinen lässt. Die alten Denkwerkzeuge, neu geschliffen, sind genau dazu in der Lage, Wunschträume von einer friedlichen und sozialen Weltordnung in die Wirklichkeit umsetzen zu helfen. Um diese Werkzeuge zu schleifen, müssen sie zunächst von der Patina gereinigt werden, die sie angesetzt haben.


Von der notwendigen Wiederentdeckung der Solidarität

Solidargemeinschaften der Entrechteten müssen wieder her. Die menschlichen Wracks, die unsere Wohlstandsgesellschaft täglich an Land spült, fordern uns Hilfe rufend auf, uns grenzüberschreitend zu verschwistern. Das Schicksal der Arbeitssklaven aus dem Süden ist mit dem unseren eng verknüpft. Der unersetzliche Wert von "Gewerkvereinen" ist wieder freizulegen. Nur durch sie setzen wir weltweit, aber zu Hause beginnend, Mindestlöhne, geregelte Arbeitszeiten und Arbeitschutzmaßnahmen durch. Aber das genügt nicht. Es gilt, vor allen Dingen durch politische Bildung die für uns zerrissenen Zusammenhänge wieder kenntlich zu machen. Wir brauchen Organismen, die aufklären und die Straßen dagegen füllen helfen, dass sich unser Land an der stetigen Ausweitung neokolonialer Kriege beteiligt. Wir brauchen Intellektuelle, die sich der Verballhornung von Bombeneinsätzen als "Schutzmaßnahmen gegen Menschenrechtsverletzungen" mit der Kraft ihrer Geisteswaffen entgegenstemmen. Wir brauchen Publikationen, die die unermesslichen Kosten etwa für den vertraglich vorgesehenen, konstanten Rüstungsausbau in Europa anprangern. Bestimmt wird die um sich greifende Verschlechterung der Lebensqualität durch Preiswucher dazu beitragen, dass bisher noch Kleinmütige sich hervorwagen. Schließlich kann der Zunahme der Massenarbeitslosigkeit und der nachfolgenden sozialen Verelendung durch die schleichende Militarisierung langfristig nicht alleine durch Repression begegnet werden. Es werden zweifellos mehr faschistoide Banden auf den Plan gerufen werden. Schon deswegen ist es erforderlich zu erkunden, wer diese finanziert und vor allem, warum - in Missachtung des Grundgesetzes - ihrem Treiben nicht juristisch Einhalt geboten wird.

Es ist leichter dem entgenzuwirken mit einer erprobten, neue Horizonte weisenden Theorie für soziales Handeln. Damit ausgestattet, werden junge Menschen nicht mehr so tatenlos ihrer Entrechtung zusehen. Zumindest die Gewieftesten unter ihnen, die wissenschaftlich Geschulten, jene, die den Begriff Ethos nicht mit Ethanol verwechseln, werden sich früher oder später auf die Suche nach konstruktiveren Auswegen begeben. Sie werden nach Auswegen jenseits von Drogen und New Age und endlosen Selbstverwirklichungstrips suchen. Der Sackgasse den Rücken kehrend brauchen sie Anleitung. Ohne Kenntnis der Theorie und Praxis der Arbeiterwegung steht ihnen aber die schier unlösliche Aufgabe bevor, mit fast bloßen Händen ein kontaminiertes Gelände freiräumen zu müssen. Wir in die Jahre Gekommenen, die wir die Verheerungen haben geschehen lassen, sind daher in der Pflicht. Wir müssen diesen jungen Pionieren für ihre unermessliche Aufgabe die geeigneten Denkwerkzeuge verfügbar machen. Dazu müssen lähmende Tabus beiseite geräumt werden. Wie alle von Menschen errichteten Tabus, haben diese Hemmschranken eine natürliche Schutzfunktion. Einmal beim Namen genannt und erkannt, müssen sie daraufhin befragt werden, wen sie und wovor sie die Betreffenden schützen sollen.


Die menschheitsrelevanten Tabus auflösen

Beginnen wir mit besonders niederdrückenden Denkvorlagen: "Das gescheiterte sozialistische Experiment", die "inhumane Seite des Sozialismus", "sozialistische Misswirtschaft" und last not least "Stasi", Massenmord, Terror, "Gulag". Alle dem Sozialismus zugeschriebenen Übel sind unter anderem "dokumentiert" im trotzkistisch-maoistischen "Schwarzbuch des Kommunismus"(9). Sie werden uns täglich und stündlich medial eingehämmert. Zeitzeugen und Historiker beschwören ihre Wirklichkeit. Drehen wir aber endlich, nach fast 20 Jahren, den Spieß und fragen, was seit dem Fall der Mauer, denn besser geworden ist. Proben wir den aufrechten Gang und fragen mit dem brasilianischen Befreiungstheologen Betto Frei, welche soziale Ordnung denn die gescheiterte ist. Angesichts der vier Milliarden Darbenden weltweit und in Anbetracht des jahrelang währenden Bombenterrors an den geostrategisch interessanten Brennpunkten dieser Erde, angesichts real existierender Folterlager mit Namen wie Guantanamo Bay oder Abu Ghraib, angesichts von Millionen heimatlos gemachter Flüchtlinge in immer neuen Kriegen dürfte eine Antwort kaum schwerfallen. Haken wir nach und fragen, warum derlei Verstöße gegen die universelle Charta der Menschenrechte (1948) nicht zur Verurteilung der beinahe allein und unumschränkt herrschenden und damit verantwortlichen Gesellschaftsordnung führen. Mit Stasigezeter und Stalinismuskeule lenken die Medien, Privateigentum der Damen und Herren, die die Welt regieren, von der entsprechenden Antwort ab. Wissen sie doch, solange wie über den bisherigen Versuchen der Menschheit, humanere Verhältnisse herbeizuführen, der böse Zauber der Negativzuschreibungen ruht, kann es kaum gelingen, das notwendige Neue aufzubauen. Mögen auch wir uns dieser Erkenntnis verschließen. Unsere Oberen wissen um die Wirkung unseres Nichtwissens. Damit ist die Herausforderung klar benannt.

Der böse Zauber muss - wie in Michael Endes "satanarchäolügenalkohöllischem Wunschpunsch" von 1989 - durch die "Umkehrformel" unwirksam gemacht werden. Das ist möglich, wenn wir die Angst überwinden und uns an das Tabu heranwagen. Das große Tabu nämlich, das die Mächtigen vor dem Zorn der Ohnmächtigen schützen soll, muss beseitigt werden, wenn wir nicht mit kollektiver Selbstzerstörung alles Lebendigen zahlen wollen.

Dazu ist es erforderlich, die nur scheinbar naive Wahrheit mit den Worten des Kindes auszudrücken und zu sagen, dass der Kaiser nackt dasteht. Der Herrscher aller Zeiten steht nackt und wehrlos da, sobald wir ihm die geschickt verpackten Lügen nicht mehr abnehmen. Denn auf der Zustimmung des Fußvolks, auf dem resignierenden "Ja und Amen und ich will meine Ruhe haben" der Satten basiert ihre Macht. So märchenhaft einfach ist die Wahrheit und so schwierig zugleich.

Revolutionäres Denken, das uns von den unsichtbaren und unfühlbaren Ketten zu befreien vermag, muss allerdings damit rechnen, mit allen denkbaren Mitteln verketzert zu werden. Weiß doch ein jeder unbewusst: Wer mit dem Strom schwimmt, kann es zu etwas bringen. Die dazugehörige Frage "zu was" wird gern ausgeblendet. Wer wider den Stachel löckt, kann allerdings ausgegrenzt und abgestoßen werden, aber auch wer mitschwimmt in der kontaminierten Brühe bleibt nicht unbedingt verschont.

Nach der beinahe weltweiten Niederlage der sozialistischen Umgestaltungsversuche ist es kaum leichter geworden, eine humanere Gesellschaftsordnung zum Erfolg zu führen. Ihre Gegner verfügen heute über noch machtvollere, noch raffiniertere und noch brutalere Mittel, die geeignet scheinen, jeden alternativen Entwurf zum Scheitern zu verurteilen. Die andauernde Handelsblockade gegenüber Cuba oder dessen Infiltration durch "NGOS" sind nur zwei der offensichtlichsten Methoden. Von außen gesteuerte Separatisten- oder "Autonomiebewegungen" wie im Bolivien der indigenen Reformversuche unter Evo Morales Ayma sind eine weitere Variante. Die bösartige Verleumdung Chinas als Menschrechtsverletzer und Unterdrücker ethnischer Minderheiten im Vorfeld der Olympiade setzt all der bisher stattgefunden medialen Gehirnwäsche die Krone auf. Allerdings bewies das bevölkerungsreichste Land der Erde am chinesischen Glückstag 08-08-08 mit der grandiosen Olympia-Eröffnungsfeier vor aller Welt, wozu ein kommunistisch regiertes Land trotz aller Widrigkeiten in der Lage ist. Die Alternative zum neoliberalen Herrschaftsmodell liegt jetzt viel einprägsamer auf der Hand als zu Zeiten der Begründer des "Wissenschaftlichen Sozialismus". Sie nicht zu wählen hieße ganz fraglos die Barbarei, das Ende der menschenmöglichen Zivilisation auf dem Planeten Erde. Deswegen ist aber Mutlosigkeit nicht angebracht. Die Wege sind sehr viel kürzer geworden, auch für fantasievolle Gegenbewegungen, die Nutzung der modernen Telekommunikationsmittel ist nicht mehr exklusiv. Die Jugend weiß sich diese dienstbar zu machen. Solidarität mit Nationen wie China und Cuba, ja mit fast ganz Lateinamerika ist in unserem Eigeninteresse dringend geboten. Vieles ist heute einfacher und schneller zu bewältigen als zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts, als der Sozialismus auf wissenschaftlicher Grundlage in der Sowjetunion zum ersten Mal aufgebaut wurde. Damals war er natürlich ein Erfolgsmodell, das die Jugend der Zeit auf allen Kontinenten mitriss.


Ohne fundiertes historisches Wissen geht es allerdings nicht

Das Wissen darum, dokumentiert in zeitgenössischen Schriften, ist noch zugänglich. Durchforsten wir die Bibliotheken und Antiquariate der Welt nach Texten aus der Zeit der ersten Hälfte des 20sten Jahrhunderts, sorgen wir für deren Verbreitung, bevor sie auf Grund des Digitalisierungszwangs womöglich für immer zerstört werden. Sagen wir es unseren Kindern und Kindeskindern so deutlich wie möglich:

Um eben dieses ursprüngliche Erfolgsmodell zu vernichten, "musste" einst der National"sozialismus" erfunden werden. Er war selbstredend keiner. Er verdiente weder den Namen Sozialismus noch das Attribut national. Mit brutaler Gewalt, mit List und Tücke zermalmten dessen Profiteure den Widerstand der Arbeiterbewegung zunächst in Deutschland. Aber auch anderswo waren sie rührig. Niemals legten sie die Hände in den Schoß. Auch heute ruhen sie nicht. Sie kopieren und verfälschen unsere Lieder. Sie bedienen sich der Ausdrucksformen der sozialen Bewegungen. Damals arbeiteten sie mit Fünfjahresplänen, um ihre Rüstungsindustrie auf Vordermann zu bringen. Sie wussten die erfolgreiche Planwirtschaft für sich gewinnbringend zu nutzen. Natürlich genossen sie damals wie heute die ungeteilte Sympathie ihrer Standesgenossen überall auf der Welt. Die "Kapitaleigner" sind sich begreiflicherweise immer einig, solange es gegen den gemeinsamen "Klassenfeind" geht. Diesen sahen und sehen sie verkörpert in den Sowjets, in der Rätedemokratie, aber auch in jeder nachfolgenden Form einer sozial ausgerichteten Alternative zu ihrer Vorstellung von Demokratie als Kapitalfreiheit. Erinnert sei nur an den demokratisch gewählten Salvadore Allende in Chile (1973) oder ganz aktuell an Simbabwe und die mörderischen Vorgehensweisen der neokolonialen Kräfte auf dem gesamten afrikanischen Kontinent. Einst bedienten sich die Herren des proletarisierten Elements, einer kaputten Kleinbürgerfigur und seiner Konsorten, die sie geschickt zu steuern vermochten. 40 Jahre später vertrat ein chilenischer General namens Augusto Pinochet ihre Interessen. Im Deutschland der dreißiger Jahre war ein Generalfeldmarschall nicht gut genug. Ein Prolet musste an die Spitze, um die Massen zu täuschen. Dem Volks-Ver-Führer folgte der Volksempfänger : Der zunächst noch propagandistische Krieg gegen die sozialistische Sowjetunion war für die Oberen das dringendste Gebot der Stunde, auch wenn der Angriff erst anderen galt. Die Nazis hatten überall auf der Welt Verbündete, denn das Klasseninteresse des Kapitals erforderte ein international koordiniertes Vorgehen. Wenn das nicht auf den ersten Blick erkennbar ist oder war, desto besser für die interessierte Seite.


Jenseits der Propangandküche: Fakten

Die Goebelsche Propagandamaschinerie erfand alle denkbaren Greuelmärchen um "das Sowjetparadies" zu verunglimpfen, nach dem Motto "die Menschen werden jede Lüge glauben, vorausgesetzt, sie ist groß genug"(10). Junge Widerstandskämpfer um Herbert Baum opferten 1942 ihr Leben, weil sie die Lügenmaschinerie durchschauten und dagegen wie einst David mit Goliath rangen. Andere - vor allem aber einige einflussreiche Intellektuelle - waren wie etwa Andre Gide oder wie selbst der Begründer der Roten Hilfe, Willi Münzenberg(11), am Ende weniger klarsichtig. Der tragische Tod des letzteren auf der Flucht vor den Nazi-Schergen in Südfrankreich 1940, das unrühmliche Ende des einst so bedeutenden kommunistischen Publizisten, wurde für eine neue Runde antikommunistischer Verleumdungen herangezogen.

Zunächst glaubte die kommunistische Weltbewegung derlei Bösartigkeiten kaum, zu offensichtlich war auch deren kriegstreibende Funktion. Das aus schierer Not und aus strategischer Klugheit geborene Militärabkommen zwischen der UdSSR und Hitlerdeutschland verwirrte wieder andere. Es waren Menschen, die nur in moralischen und nicht auch in geostrategischen Kategorien denken gelernt hatten. Es waren Menschen, denen die Erfahrung fehlte, dass das einfache Volk die Macht, wenn sie sie in den Händen hält, auch absichern muss. Diese Verwirrung machten sich jene, die sich damals als die Herren der Welt sahen, zunutze, wie es andere heute tun. Sie spielten schon immer die Menschenrechtsmelodie und kaschierten damit mühsam die eigenen flagranten Verletzungen des humanitären Völkerrechts.

Es kam dennoch, wie es kommen musste, trotz unbeschreiblicher Opfer:

Ein Drittel des sowjetischen Territoriums wurde mit seinen ökonomischen Ressourcen verwüstet, über 1700 Städte und 70.000 Dörfer wurden völlig zerstört, 31.800 Industriebetriebe demontiert, 27 Millionen sowjetische Menschen, davon nahezu 20 Millionen Zivilisten, umgebracht. Aber es siegte das überlegene Gesellschaftssystem, das alles daran gesetzt hatte, diesen mörderischen Krieg zu vermeiden. Begreiflicher Weise galt sein oberster Repräsentant am Ende des gewonnen Kampfes gegen die Barbarei nicht nur den Sowjetbürgern als Held.

Der Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki sollte aber bald zeigen, dass der Imperialismus seine Sprache und seine Haltung wieder gefunden hatte. Churchill war es vorbehalten festzustellen, dass man "das falsche Schwein geschlachtet" hatte. Die im Wiederaufbau befindliche Nation der Sowjetmenschen hatte bald ihre Schuldigkeit getan, ihr Blutzoll war entrichtet. Man wollte und konnte sie jetzt in die Schranken weisen. Anhand von einschlägigen Dokumenten ist der Nachweis erbracht, dass jene, die sich noch immer als die Herren der Welt sahen, um keinen Preis gewillt waren, die anschwellende Sympathiebewegung mit dem Kommunismus weltweit hinzunehmen. So versuchten die US-Amerikaner im Bunde mit dem eben besiegten Japan - nicht nur in China - der sozialistischen Bewegung den Garaus zu machen. Der Koreakrieg(12) war ein weiterer grauenvoller Meilenstein, beim Versuch den Kommunismus definitiv zu befrieden. Solange allerdings der Sozialismus als Wissenschaft aufgefasst wurde und Kommunisten sich als echte Internationalisten verstanden haben, solange war die Internationale der Arbeiter- und Befreiungsbewegungen nicht aufzuhalten. In China siegte 1949 mit sowjetischer Hilfe die Revolution. Chinesische Freiwillige unterstützten die Koreaner, die genauso tapfer, wie später die Vietnamesen, ihr Land gegen die Barbaren verteidigten. Die Bereitschaft der US-Amerikaner, nicht nur über Korea, sondern auch über der Sowjetunion, Atomwaffen einzusetzen, kann aus US-Dokumenten nachvollzogen werden. Bis 1953 schien angesichts solcher Ungeheuerlichkeiten und trotz der privat gesteuerten Massenmedien die Weltmeinung sich zur die Seite des Sozialismus zu neigen. Überall auf der Erde trauerten Millionen Menschen, als am 5. März des Jahres der Tod des sowjetischen Staatslenkers bekannt gegeben wurde. "Was soll nun werden?" fragten viele, vor allem in der Sowjetunion. Frankreich verkündete eine dreitägige Staatstrauer.

Fakten sind kontextabhängig und bedürfen der Deutung

Bald darauf gelangte das Staatsruder der ersten Sowjetmacht in andere Hände. Danach sprach Bert Brecht vom "verdienten Mörder des Volkes", von dem einst des so hoch geachteten Staatsmann, der in den USA freundlich, familiär Uncle Joe geheißen worden war.

In der Ferne hatten die Herren der Erde, um ihre Vormachtstellung bangend, eine neue Strategie zur Niederringung ihrer Gegner ersonnen, von der sich selbst größte Geister der Zeit blenden ließen. In offener Schlacht war der großen Ordnung nicht beizukommen. Deswegen gingen sie diesmal langfristig und planvoll strategisch und heimtückisch vor. Nach einem fast 40 Jahre währenden, destruktiven Prozess waren sie in ihrem Sinne erfolgreich. Die Widersprüche und den Widerstand, der ihr Terrorregime immer wieder provoziert, können sie nicht loswerden. Solange es ihnen aber gelingt, die besten Kämpfer, seien es Kommunisten oder sozial denkende Demokraten der Weltbewegung, erfolgreich zu Verbrechern zu stempeln, solange wird eine Bewegung gegen den Terror des Krieges, gegen die Verelendung von Millionen und gegen die Verheerung der ökologischen Grundlagen des Lebens nicht wirklich wachsen.

Ich höre den Einwurf: "Du leugnest und verharmlost reale Verbrechen". Hier ist nicht der Ort auf all die Ein- oder Anwürfe einzugehen. Das haben andere sachkundig schon getan. Nur eines soll bedacht werden und ist keineswegs zu verharmlosen: Auch das Ansehen unschuldiger, namenloser Opfer ist zu würdigen. Mit Kurt Gossweiler(13) möchte ich aber darauf bestehen, dass auch sie am Ende auf das Konto des Aggressors gehen. Angesichts der Schwere der Kämpfe und der entsetzlichen Opfer des unprovozierten Krieges, den unzählige Frauen wie Männer im Einsatz für eine humanere Welt mit dem Leben bezahlten, ist ihr Schicksal, wie das aller anderen zu beklagen.

Mit Bertolt Brecht, wäre zu bitten: Ihr, die ihr nach uns kommt, gedenkt unserer mit Nachsicht.


Anmerkungen:

(1) Dokumentarfilm, Regie: Andre Schäfer, 2008

(2) "Good bye Lenin", Spielfilm, Regie: Wolfgang Becker, 2003

(3) John Reed: "The Days That Shock The World", New York 1922n

(4) W.I. Lenin: "Was tun?" - Brennende Fragen unserer Bewegung (1908), Ausgabe Berlin 1945

(5) Charlotte Roche: "Feuchtgebiete", Erstlingsroman 2008

(6) Michel Houllebecq: "Les particules elementaires", deutsch Köln 1999. H. bezeichnete den Islam in einem Interview "als dümmste aller Religionen".

(7) Artneuland, Fotogalerie in Berlin-Mitte

(8) Eduardo Galeano: "Las venas abiertas de America Latina", München 1971

(9) Stephane Curtois: "Schwarzbuch des Kommunismus", 1997

(10) Der Satz wird Adolf Hitler zugeschrieben.

(11) Dazu Harald Wessel: "Münzenbergs Ende", Berlin 1991

(12) Dazu Allan Winnington: "Von London nach Peking" - Erinnerungen 1914-1960, Berlin 1989

(13) Kurt Gossweiler: "Taubenfußchronik", "Wider den Revisionismus" und Artikel in "offen-siv" und in "Streitbarer Materialismus"


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:
- Ralf-Alex Fichtner, 10. Jahrestag - schon vergessen? 2008. Fineliner, laviert

Raute

Fakten und Meinungen

Heidrun Hegewald

Sprache

Aus: "Land dreimal anderes"

"Ich bin, was mir geschieht, denn ich bin ja derjenige, welchem es geschieht."
Pierre de Marivaux


Bei Jonathan Franzen steht geschrieben: "Lesen ist eine ethnisch nicht zuzuordnende gesellschaftsskeptische Tätigkeit." Ich aber denke, im höchsten Maße dieses Sinnes ist das wohl das Schreiben. Franzen will so verstanden werden, wie er Flannery O'Connor zitiert. "Menschen ohne Hoffnung schreiben nicht nur keine Romane, sondern, und das trifft die Sache genauer, sie lesen auch keine ..." Ich denke, ihnen fehlt der Mut zur Erkenntnis. Erkenntnis, die Verzweiflungen bremsen könnte. Zu meiner Lebenserfahrung gehört, mir Mut anzulesen.

Franzen sorgt sich um seine Romane. Um Romane. Wie ich mir in einer werte- und normignoranten Zeit Sorge zubillige um Literatur, Kunst, Geisteskultur und ihre Bindung an das Vermittelnde, die Sprache. Die deutsche Sprache. Sprache, die es möglich macht, diskursiv aus der Tiefe des Begriffsreichtums Denkpräzisionen gesprochen dem Verständnis entgegenzuformen. Die deutsche Sprache ist dabei zu verschwinden. Was vermeldet dazu die akademische Linguistik? Nichts. Im Angesicht der "Anglomanie", der Ausbreitung des "Globish" ist der Verweis darauf, Sprache reguliere sich selbst, fahrlässig. Die Unaufmerksamkeit hat dort ein Ende, wo die semantische Differenzierung und die Sprachbereicherung ausbleiben. In der Geschichte lassen sich Sprachübernahmen erkennen, die ich hier nicht historisch aufzählen werde. Philologisch, semantisch und syntaktisch sind die historischen Überformungen Bestand. Jedoch als ein grammatisch integrierter. Das Deutsche hat überlebt, weil es sprachreicher wurde, intellektueller, philosophisch denkbarer, expressiv dichterischer und wissenschaftsfähiger! Dort liegt die Akzeptanz.

Wie elend wird ein Mensch, wenn er aus dem Regelwerk seiner Muttersprache in die fremde Sprache emigriert und wenn dann sein Wirken und Werken das eingreifende Denken war. Die Sprache als Indikator. Biographien erzählen von den Sprachverstoßenen. Der politischen Verteufelung der dann Sprachlosen. Im "dritten Reich". Das Hinterköpfige, die Zwischenzeile, Sarkasmus, Humor und Selbstironie gehen in der fremden Sprache verloren. Die Flüsterungen aus mental Geahntem, aus dem Wissen und den Überlieferungen, aus dem Kulturgut mütterlicher Sprache, der Elternsprache kommend, sind Aufbewahrtes, der Schlüssel für fortwährendes Verstehen.

Dichten, Gedanken verdichten, heißt auch mit der Sprache spielen. Differenzierend, Grenzen ertastend und - weit über das schlechthin Gesagte - gewagte Sprachräume öffnen, das kann nur der, der seine Sprache kennt - muttersprachlich kennt. Unsere deutsche Sprache ist eines der abendländischen Kulturdenkmale. Eine Schutzbefohlene. Sie benötigt Staatsschutz. Inschutznahme vor der erbarmungslosen Inszenierung ihrer Simplifizierung.

Sprache - literarisch verdichtete.
Sprache - in der Klarheit des philosophisch Gedachten.
Sprache - als Gleichnis aufgehoben in der Sinnlichkeit der Künste.

Bietet das nicht - über ein zu alarmierendes Sprachbewußtsein - Handlungsprivilegien gegen das Vandalentum eines weltgreifenden Kulturimperialismus?

Wenn die lebende Sprache - möglicherweise mit anderen europäischen - eine tote Sprache geworden ist, dann wohl würde sie ein überwältigendes philologisches Monument sein für dringenden Lehranlaß.

Für das Sprachsterben hat das Deutsche die größte Anwartschaft: Die Deutschen sind beim Sprachverrat die devotesten Arschkriecher. (Ich hätte es gern mit Goethe gehalten: "Mußt all' die harten Worte mindern, aus Scheißkerl Schurk', aus Arsch mach' Hintern." Aber das klingt nicht.)

Es heißt: "In Englisch sind wir dümmer." Es sind Deutsche, die transatlantische Perlengeschenke feilbieten. In ihrer Anbetung fürs Amerikanische importieren sie die Begriffe aus dem Wirtschaftskauderwelsch. Für dürftige Ware oder dürftigen Inhalt, weitschweifig und keiner sinngebenden Übersetzung zugänglich - auswendig zu lernende Kürzel für "die Marke". Sprachersetzend.

Der Sprachimport ist "Marketing". Das Unlautere des "Andrehens" basiert auf der Undeutlichkeit im globalen Sprachbetrug. Mit unübersetzbarer Sprachanleihe als werberische Dekoration. Eindringend in den anderen Sprachraum, wo Bekanntes zu Fremdem gemacht wird. Den anglistischen Anleihen widerfährt sinnentleerte Vernutzung. Die englischen Muttersprachler empört die Verletzung ihrer Sprachkultur. Parallelität der Beschädigung ergibt sich.

Für Politiker (die wenigen Frauen sind mitgemeint) und die Journaille ist Sprachschändung "Alltagsgeschäft". Mit Medienpolitik wird der Polittatbestand frisiert. Bis zur Entstellung. Sprache wird zum gemeinen Handwerk der Verlogenheit. Für die Zuhörenden wird der Gebrauch des sprachlichen Handwerks zur Gemeinheit. Trendgerede, das in der Unendlichkeit der Summe des Mißbrauchs, ohne Sinn zu geben, auftaucht, ist sehr bald in "der Politik" zu finden und etabliert sich in der "Medienspreche". Wo ein Gedanke ausbleibt oder absichtsvoll ausgelassen wird, nisten Versatzstücke sich ein: "In der Tat" "verstetigt sich" als ein "Urgestein", das "seit Lichtjahren"(!) nicht "zögerlich" "bezuschußt" wird; aber leider: "Nachhaltig" und "zeitgleich" "ab dem" "Millenium"(!) "verfristet" es nicht. Das ist "nicht wirklich" "hinnehmbar".

Diese Wichtigfühler ziehen ein eitles Gesicht auf und wähnen sich auf der Höhe der Zeitsprache, wenn sie diese ins Leere gewendeten Wörter summieren.

Und ich scheue mich, von einem Spaß, den ich hatte, zu erzählen, weil der inzwischen zum "Spasss" verkommen ist. Ein Wort, das eine ganz bestimmte Situation charakterisiert, muß plötzlich herhalten, um ein umfassendes Lebenskonzept zu beschreiben: "Ich will Spaß haben." Das sagt nicht einer oder eine, die sich dieses Ziel explizit gesetzt haben, sondern man sagt es so - und es sagt nichts mehr. Wobei das Umschreibungspotential der deutschen Sprache ein sehr reiches ist. In der Auslassung dieses Reichtums verdünnt und verdümmelt die Sprache - durch Leute, die jetzt "Milche" trinken und "Gebäcke" essen - obwohl ihre "Bedarfe" noch unerforscht sind - und Schuhe "lecker" finden - "in 2008" und später dann "an Weihnachten". Man muß nicht Karl Kraus zitieren, um zu sagen: "Sprechen und Denken sind eins."

Leerstellen durch Denkversagen lassen sich in modischem Redeverhalten auffüllen. Nicht zu übersehen, daß globanesisches Schrumpfenglisch eitler Selbstdarstellung dient und unter Muttersprachlern eine Kommunikationsstörung herstellt. Es ist eine Schande, welche kulturellen Opfergaben für die "Europäisierung" und zugleich für das Globalisieren - sprich Amerikanisieren - auf die wirtschaftspolitischen Altäre der Täuschung gelegt werden.

Im direkten und übertragenen Sinne ist das "powerpoint"-System eine absolute Sprach- und Denkreduktion. Gedankenbeziehungen sind vorsätzlich eliminiert. Ohne Unterschied zwischen Vortrag und illustrierender Begleitung wird der Inhalt des Vorgetragenen durch Foliengröße und gerade noch lesbaren Schriftgrad bestimmt. Individuelle Standpunkte, die sich im Diskurs bewähren müßten, gehen verloren.

Die USA beanspruchen auch in der Wissenschaft eine Vormachtstellung. Sie setzen eine unkritische Übernahme in powerpoint'scher Formelsprache voraus. Das globalisiert sich. Weltmächtiger Anspruch - und der Wissenschaftsgehalt wird ins Sekundäre verlegt. Wissenschaftlich Arbeitende müßten sich empören. Wissenschaft als schöpferischer Prozeß braucht das gesamte Regularium der menschlichen Denkfähigkeit: das Erinnern, das Wissen, das Zweifeln und das Ahnen. Die Sprache ist das Denkinstrument. "Powerpoint" ist ihr Gefängnis. In dieser Verkümmerung ist Sprache weder zum Denken noch zum Sprechen tauglich.

Die Älteren sind vom Sprachverständnis ausgeschlossen. Des Englischen nicht mächtig, vom Business-Anglismus verwirrt. Sie schämen sich der Hilflosigkeit, in die sie gesetzt sind, nehmen sie als Makel an, und ihre bewährte Intelligenz als entwertet. Die einfache Beschaffung von Nahrungsmitteln stellt sie vor unübersetzbare Rätsel. Das Wörterbuch ersetzt das Kochbuch. Das Angebot werbender Dienstleistungen kann nur über das bunte illustrative Drumherum erahnt werden. An die Sicherheit von Leib und Leben geht es, wenn Bedienungsknöpfe gedrückt werden müssen, für deren Bezeichnungen eine heimische Sprache nicht zugelassen ist. Der Handel verstört den Überbau. Der Kommerz die Kommunikation. Im "WC-Center", bei "park and ride", in der "home-zone" und mit der "Call-by-Call-Technik" der "Deutschen Telekom" und der "Deutschen Bahn".

Komik ist versprochen, wenn einsprachige Gebrauchsanleitung von chinesischen Übersetzungsprogrammen aus dem Chinesischen ins Globanesisch verdolmetscht wurde. Dabei ist der gute Wille, die Kirche wieder ins Dorf zu tragen, rührend.

Es entwickelt sich ein sehr verwirrendes Gefühl von fremd, wenn der Muttersprachler im Land seiner Zugehörigkeit sich von der Sprachorientierung ausgeschlossen sieht. Die natürliche Wortfindung der Bevölkerung wird paralysiert. Sprache bewegt und Akzente verschieben sich. Das eben wäre Sprachentwicklung.

Sprache ist ein politisches Machtmittel. Wessen Macht vermittelt hier der Staat?

Diese Globalisierung zerstört die Denkmale nationaler Kultur. Die unterschiedlich gewachsenen, in mentaler Eigenheit Zeugnis von Schönheit, Weisheit und Wahrheit gebend, bilden nebeneinander den Reichtum. Einen Reichtum, der im dialektischen Verhältnis der Teile erst erkennbar wird.

Kultur ist der unterschiedliche Entwicklungsweg der Völker. Emanzipationsspur der Menschheit. Charakteristisch und hochsensibel.

Kulturen - bestehend aus den einzelnen besonderen - sind gestaltetes Aufbewahren von Erinnerungen. Diese Andenken in Überlieferung dürften in ihrem lebendigen, sich erneuernden Ablauf nicht gestört werden. Wollte man sie erhalten.

MULTIKULTUR ist ein großes Wort. Es läßt sich nur nicht in den Schlacken zerstörter Kultur-Identitäten beheimaten:

US-AMERIKANISMUS versus multikulturelle Zukunftsvisionen.

In Deutschland ist die Resistenz gegen das Virus zerstört, der Amerikanismus bis in die Alltags-Äfferei umgreifend.

Die autonomen Teile, der KULTUREIGENWILLE, die einzel-nationale Kultur-EIGNUNG sind die multikulturellen Werte. Einfluß aufeinander wäre zu wünschen als Trennung ins Besondere. Im Schutz der Traditionen. ABER: Kultur als DOLMETSCH. UND: Sie eröffnet VORSTELLUNGEN.

Bei Georges Arthur Goldschmidt, einem deutschen Juden, 1928 in Hamburg geboren, mit elf Jahren mit seinem vier Jahre älteren Bruder von den Eltern in einen Zug nach Frankreich gesetzt. Goldschmidt ist bilingual. Seine etymologischen Betrachtungen und Gegenüberstellungen bewegen sich zwischen der deutschen und der französischen Sprache. Er ist Schriftsteller, essayistischer, und Übersetzer wichtiger Literatur. Ein berauschendes Werk ist sein Buch "Als Freud das Meer sah". Man erfährt, daß das Übertragen der Sprachen, der fremden, die hohe Kunst des Möglichen ist. Dabei genau wissend, daß die starke semantische Kluft das Unmögliche nicht überwinden kann. Über die deutsche Sprachgeschichte in ihren Wandlungen und über ihre Wortgewalt zu lesen war etwas, wovon ich beim neuerlichen Lesen überrascht wurde: Heute, im Angesicht der deutschen Sprachruine. Ich habe eine neue Innigkeit erlebt. Durch Goldschmidt.

Besonders beschäftigt mich, was er mich erleben macht beim Übergehen vom Französischen ins Deutsche und umgekehrt. Bedenke ich, daß Deutsch und Deutsch, ostisch und westisch, in gewissem - in einem besonders anderen als schlechthin fremdsprachlichen - Grade gerade fremdsprachlich ist. Vierzig Jahre haben an den zwei deutschen Sprachen gearbeitet. Sie verändert. Die Brücke wäre die hohe Schule des Zuhörens - unterstellungsfrei, in Akzeptanz wahrhaftiger Inhalte. Die Nachlässigkeit diesem Ansatz gegenüber ist eine westdeutsche Siegereigenart. Kolonialisierend, böswillig politisierend. Arme Sprache. Die Sprache verarmt auch in diesem Prozeß. Ich erinnere an Marivaux, denn "ich bin, was mir geschieht...". Mit Goldschmidt will ich den Gedanken unterstützen: "... jede Sprache hat ihre eigene Landschaft, sie bewegt sich gewissermaßen in einer bestimmten Atmosphäre." Jede Landschaft wird Strukturen tragen, historisch gebildet, jeweils mit ihren besonderen kulturellen Malen.

Erinnern.
Erinnertes bedenken ist das kostbare Gut für Selbstbehauptung.
Denken.
Denken ist das Schweben einer Ahnung, die Halt auf Wörtern sucht.
Diese Wörter haben eine Herkunft. Und diese Herkunft braucht die Erinnerungen zu ihrer Beweiskraft.

Nun wird in diesem versäumten deutschen Einigungsprozeß als Ersatzhandlung die Erinnerung von siebzehn Millionen Menschen ausgepeitscht. Unter Bann gestellt. Als Nostalgie exorziert. Unter politisch dienstbarem verlogenen Sperrfeuer. Als immerwährender tätlicher Sieg der Sieger. Ich denke, je stärker Erinnerungen der Unglaubwürdigkeit bezichtigt werden, desto häufiger sucht der sich Erinnernde sie auf. Er festigt sie. Und das sicherlich nicht ohne Gefahr.

Neurowissenschaftler sagen, daß Erinnerungen Erinnerungen von Erinnerungen sind. Gespeichert, rufe ich sie immer wieder ab. Und sie festigen sich zu einem neuronalen Netzwerk. Anzunehmen ist, daß ich, abrufend, festigend, der Festplatte der Erinnerung meine betrachtenden Informationen hinzufüge. Erinnerungen sind verdichtet. Gestreckt oder gekürzt. Literarisches Material. Oder aber: Für historische Überlieferungen Präzisionsarbeit des Gedächtnisses. Mit Angewiesenheit aufs Dokumentarische.

Das Denken ist der stete Fluß darüber, sich aus der Tiefe nährend. Die Denkbereitschaft, auf ein Ziel gerichtet, ist eine Stimmgabel, die dem Dunkel des gespeicherten Reichtums Töne entreißt. Denkgetextete Bilder. Denkfluß, der nicht inne hält, vermeintlich erst im Tode. Auf Denken sich einlassen - es steht uns nicht so frei. Denken ist ein perpetuum mobile. Aber Gedanken inspirieren verheißt die Lust des Denkens! Dort, im erinnert Gedachten, ist auch die Wiege des Aufbruchs - des Widerstands.

Kunst formen und Schreiben sind eine Form persönlicher Freiheit - gestaltgebende persönliche Freiheit. Dazu gehört für mich eine anekdotische Erinnerung, die zu vielen gehört, die ich als deutsch-deutsches Nichtverstehen erfahren habe. 1993 war es. Es endete mit Sprachlosigkeit. Eine Dame und ein Herr führten mit mir ein Gespräch. Ein Eignungsgespräch. In einer Westberliner Bibliothek sollte ich vor Publikum lesen dürfen. Texte aus "Frau K. Die zwei Arten zu erbleichen." Ein abermaliges Erbleichen war mir ein Leichtes. Beide in orthodoxer Haltung starr. Durch ihr Erleben westdeutscher Geschichte geprägt. Den Zweifel gegen ihre Rechthaberei nicht einmal als dialektische Runzel auf der Stirn. Sie fühlten sich ermächtigt zu haltloser Unterstellung wider das Wissen aus authentischer Erfahrung. Wir führten eine Grundsatzdebatte, die auf meiner Beschränkung fußte, welche mir das Gültige nahm. Die mir vorenthaltene Freiheit hatte mich zu einer ehemaligen Unfreien gemacht. Ich, die mit der Gesamtheit der DDR-Bevölkerung unter schwerer Heimsuchung für Körper und Geist "Die Gedanken sind frei" nicht denken und das Liedgut nicht mal textlos summen durfte. Wußten sie. Frei-lich, ich kam doch aus total verordneten Werk- und Feiertagen, die sich zu vierzig Jahren in meinen Jahren ausgebreitet hatten. Dame und Herr wollten mir meine erlittene Unfreiheit erklären, an der ich nicht gelitten hatte. Sie wollten vom Unrechtsstaat die Unkunst ableiten. Und gaben mir einen gründlichen Zweifel ins Gewissen. Darauf hofften sie. Um mit betonter Sachkenntnis darauf zu verweisen: Kunst ist nicht Kunst, wenn sie nicht in Freiheit entsteht. Von Freiheit als Einsicht in Notwendigkeit wollten sie noch nichts gehört haben. Ich hätte gern eine Einigung erwirkt, Freiheit selektieren zu dürfen. Ins Gängigste: Reisefreiheit - Marktfreiheit, und danach wird's schon eng. Aber nein, es handelte sich um eine Glocke mit dem Klang aller Seelen - in Freiheit vereint. Unter die hätte ich, ohne viel zu fragen, endlich zu schlüpfen. Und Freiheit hätte ich einfach zu fühlen. Jetzt. Ob gewährt oder nicht. Was zählt das bei der verordneten Festlegung fürs Ganze? Es gehe nicht darum, eine Aufzählung zu bemühen von Gewünschtem und Tatsächlichem. Freiheit ist! In diesem demokratischen Deutschland. Rechtsstaat - den "Unrechtsstaat" nicht bereit zu begnadigen. Freiheit für alle? Für alle! Ich hatte das Bedürfnis, das Deutsche ins Deutsche zu übertragen. Herr und Dame konnten nur deutsch. Dennoch, ich konnte nicht ablassen, rotköpfiges Schütteln zu erzeugen. Ich ahnte, daß für den Begriff Freiheit noch ein überwältigender Schock des Unsagbaren zu erwarten war. Ich tastete mich heran, erzählte von meiner Lebenserfahrung als Kulturarbeiterin in einem Land, das nicht aus seinem Inneren seine Grenzen auflöste, sondern das seine Grenzen auflöste, um das Innere zu demokratischer Entfaltung zu bringen: Wir sind das Volk! Aber mit: "Wir sind ein Volk." wurde dieser Prozeß gestoppt. Es gab in dem begrenzten Land eine Staatsgrenze, Welt-Mächte-Grenze, die Grenze zwischen den Bündnissen NATO und Warschauer Vertrag. Eine Grenze - strukturiert mit sichernden Regularien, die aus politischen Verhandlungs- und Bündniszwängen entstanden - eben die Kalt-Krieg-Grenze.

Um an Franzens Satz am Anfang dieses Textes zu erinnern: Dort, in diesem Land, gab es keine Angst um den Roman. Nicht um seine Existenz in geistiger, gesellschaftlich-brauchbarer Wirkung. "Druckkapazitäten" ließen zu, von heißen oder unbequemen Büchern weniger zu drucken oder gar nicht. Das Jagdfieber ging um. Wir waren Beschaffungsexperten. Grenzgängig schleusten wir auch ein. Vereinzelt wurde weniger gedruckt als gelesen. An der Schnittstelle des Weiterreichens entstand geistiger Austausch. Die DDR war wirklich ein Leseland.

Es ist nur vermeintlich unverfänglicher ein Manuskript abzulehnen, weil es sich nicht verkauft, im Vergleich zur Ablehnung, weil es politisch stört. Es gibt verschiedene Gesichter für ein und denselben Kopf. Wir Ostdeutschen sprachen weniger übers Geld. Wir pflegten kulturwertenden Kontakt. Wir waren politisch. Und das ist eine sehr normale menschliche Eigenschaft. Ein hinterköpfiges Publikum praktizierte die theoretische Vorstellung vom dialogischen Prinzip bei der Verwertung marktfreier Künste. Über die Kultur demokratisierte sich Wirklichkeitsumgang. Gewünscht und gefürchtet. Sehnsüchtig rückblickend: Künstler hatten eine unglaublich einmalige Würde, weil sie gefürchtet waren. Wegen ihrer Fähigkeit zu moralischer Instanzbildung. Dieses Verhältnis zwischen Kulturpolitik und dem freiwilligen Kunstschaffen, verbunden mit erlittenen Beschädigungen, war avantgardistisch. Die Kultur in der DDR war ein Gesamtkunstwerk, an dem die gesamte Gesellschaft teilhatte. Nicht über den Erwerb von Ware, sondern in der Teilhabe an geistigen Kulturprozessen. Die Freiheit für die Künste lag nicht im Innovationszwang für Erfindungen unter der Peitsche des Kommerz, sondern sie lag darin, in aller Freiheit das Verständlichmachen dieser geistigen Bedürfnisse zu suchen. Der Anspruch war hoch. Geprägt durch die feinen Nuancen der Zwischenzeile! Das beherrschte Handwerk war Grundkonsens. Der Inhalt mußte verantwortet werden. Das war nicht selten politischer Nahkampf. Ungebildete als Vor- oder Vorvorsitzende sind ängstlich. Realismus war eine Mission - das Kritische inhärent als beizende Essenz. So war es Vergnügen. Man stand in Verlockung.

Können Sie sich jetzt die Brechtsche Weite und Vielfalt vorstellen? Deren Kerngedanke ist - wie so vieles - kulturpolitisch der schönsten Gewalt zum Opfer gefallen. Aber eben nur deshalb, weil sie abwesend war: die Sprachgewalt. Weichend der Redegewalt, die dem Denken keine so hohe Entsprechung bieten muß.

Direkte Ansprache an die beiden entsetzten stummen Protestler: Wollen Sie jetzt Kunst neu denken? Als Systemart. Hier wie damals? Nein. Warum nein? Nun kam's: Kunst ist Freiheit. (Originalton)

Meine dialektische Reizbarkeit nahm Ausdruck an: Ich war der Angst ausgesetzt, daß mein Denken zum Stillstand kommt. Ich konnte diesen Satz nicht denken. Kann es bis heute nicht. Mein Flehentliches: Was heißt das? machte aus der Behauptung eine Wiederholung. Es schaukelte ein blasses innovationsgeiles Phänomen in den Weiten raumloser, bindungsfreier, zweckfreier Absichtslosigkeit. Wertfreiheit in Preisbindung.

Ein kleiner Seufzer zeigte meinen Abschied an. Er artikulierte sich so: Ich habe, wir haben, wer es so wollte, in unseren Arbeiten, Freiheit thematisiert! Herr und Dame konnten mir nicht folgen. Ich verließ den Raum allein.

Ich nehme einen Gedanken auf: Kunst formen oder Schreiben sind eine Form persönlicher Freiheit - sind gestaltgebende persönliche Freiheit. Freiheit, die ich mir nehme!


Heidrun Hegewald, Kapitel 15 aus: Land - dreimal anderes. Erzählte Bilder. Hegewald liest Hegewald veröffentlicht als Hörbuch bei ARTE-MISIA-PRESS 2008, ISBN: 978-3-9812216-0-2


Weitere Informationen unter:
http://www.arte-misia-press.de
http://www.hhegewald.de

Raute

Fakten und Meinungen

Concluding Observations

In dieser Ausgabe veröffentlichen wir die Concluding Observations des CERD-Ausschusses, die er im Ergebnis der Behandlung des 16.-18. Berichtes der Bundesregierung über die Umsetzung des Internationalen Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form von rassistischer Diskriminierung am 13.08.2008 in Genf angenommen hat. Dr. Jürgen Zenker hat in ICARUS 4/2008 zur UN-Kritik an der Bundesregierung wegen unzureichender Umsetzung des Anti-Rassismus-Übereinkommens berichtet.


Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Das in der Printausgabe des Icarus veröffentlichte Dokument kann im Internet von den Seiten des Bundesministeriums der Justiz heruntergeladen werden unter:
www.bmj.de/files/-/3452/Concluding%20Observations%20_dt.%20redigiert%20final_.pdf

Raute

Fakten und Meinungen

Siegfried Forberger

Das DDR-Menschenrechtskomitee

Ein Rückblick

In Geschichtspublikationen zur deutschen Zweistaatlichkeit sucht man vergeblich wahrheitsgemäße Angaben über das gesellschaftliche DDR-Komitee für Menschenrechte. Es konstituierte sich auf Beschluss der SED-Führung vor 50 Jahren, exakt am 21. Mai 1959, um Opfern des KPD-Verbotes und der westdeutschen Gesinnungsjustiz zu helfen. Zu den Gründungsmitgliedern gehörten antifaschistische Widerstandskämpfer wie Friedel Malter, zugleich Komiteevorsitzende, FDGB-Bundesvorstandsmitglied Gotthard Feist und Rechtsanwalt Prof. Dr. Friedrich Karl Kaul.

Die anfangs 20, später ca. 60 ehrenamtlichen Komiteemitglieder setzten sich zunächst für die mehr als 3000 DDR-Bürger ein, die zwischen 1956 und 1966 im Auftrage der Gewerkschaften und anderer gesellschaftlicher Organisationen zu politischen Gesprächen in die BRD gereist und dort infolge Kriminalisierung gesamtdeutscher Kontakte in die Fänge der politischen Polizei, des Geheimdienstes und der politischen Sonderjustiz geraten waren. Über 400 wurden wegen angeblicher Staatsgefährdung mit oder ohne Gerichtsurteil bis zu 3 ½ Jahren der Freiheit beraubt. Grundsatzurteile des BGH erklärten SED, FDGB, FDJ, DSF u. a. zu verfassungsfeindlichen Organisationen, ergo auch ihre Mitglieder zu Verfassungsfeinden.

Das Komitee trat ebenso für die Freiheit westdeutscher KPD-Mitglieder und anderer Friedenskräfte ein, die politische Sondergerichte - zum Teil mit schuldbeladenen Nazijuristen besetzt - wegen legitimer Opposition gegen die damalige Bonner Remilitarisierungs- und Revanchepolitik zu langjährigen Zuchthaus- oder Gefängnisstrafen verurteilt hatten. Unter ihnen befanden sich Antihitlerkämpfer, die bereits in faschistischen KZ und Zuchthäusern eingekerkert waren.

In mehreren Memoranden an die UNO-Menschenrechtskommission informierte das Komitee über die Verfolgung von Antifaschisten in der BRD, über das ungehinderte Treiben der neonazistischen NPD und die unterbliebene Bestrafung schuldbeladener faschistischer Kriegs- und Menschlichkeitsverbrecher in der Bonner Republik. Des Weiteren half es mit Erfolg zahlreichen Müttern bzw. Eltern, deren Kinder nach Westdeutschland entführt wurden.

Die vielfältigen Aktionen des Komitees waren Teil der nationalen und internationalen Solidarität mit westdeutschen Linken, die dazu führte, dass am 29. Mai 1968 der Bonner Bundestag mit dem 8. Strafrechtsänderungsgesetz die gröbsten Auswüchse des Gesinnungsstrafrechts beseitigen und eine teilweise Amnestie beschließen musste.

Übte aber das Komitee auch Solidarität mit unschuldigen Opfern politischer Justiz der DDR? Als es ins Leben trat, saßen Walter Janka, Herbert Crüger, Heinrich Saar, Wolfgang Harich, Winfried Schröder und andere integre Sozialisten in Bautzen II. Über das ihnen zugefügte Unrecht schwieg das Komitee - damals, wie in vielen anderen Fällen der folgenden Jahre. Welche Rechtfertigungsgründe auch immer genannt werden, dies bleibt ein beschämendes Kapitel, und zwar nicht nur der Komiteegeschichte.

Ende der 60er Jahre widerstand das Komitee mehreren, vom zentralen SED-Apparat unternommenen Auflösungsversuchen. Es nutzte für seinen Fortbestand die reale Alternative, auslandspropagandistisch den legitimen, von Bonn bislang hintertriebenen Anspruch der DDR auf gleichberechtigte UNO-Mitgliedschaft zu unterstützen.

In dieser Zeit traten die international renommierten Professoren Bernhard Graefrath und Hermann Klenner dem Komitee bei. Beide Rechtswissenschaftler, 1958 auf der Babelsberger SED-Konferenz als "Revisionisten" verurteilt und mit zwei Jahren Berufsverbot als Hochschullehrer belegt, Hermann Klenner 10 Jahre später gar als "Wiederholungstäter" vor dem SED-Zentralkomitee angeklagt, hatten grundlegende marxistische Arbeiten über Menschenrechte verfasst.

Dank ihrer selbstlosen und schöpferischen Mitwirkung - sie wurden bald ins Komiteepräsidium, später der unvergessene Bernhard Graefrath als stellvertretender Vorsitzender gewählt - leistete das Komitee nach Aufnahme der DDR in die UNO eine beachtliche Arbeit. Es trug dazu bei, die UNO-Menschenrechtskonzeption gegen die interventionistische Politik der Westmächte zu verteidigen und auszubauen. Sie beruht auf wechselseitigem Verhältnis von Friedenssicherung durch alle Staaten und innerstaatlicher Verwirklichung der Menschenrechte, auf Achtung des Selbstbestimmungsrechts der Völker und internationaler Kooperation zur Förderung der Menschenrechte in ihrer Einheit von politischen und sozialen Rechten. Letzteres war weder in der DDR noch ist es heute in der BRD eine Realität.

Das Komitee nahm aktiv am Kampf der Vereinten Nationen gegen rassistische Unterdrückung, neokoloniale Ausbeutung, militärfaschistischen Terror und andere massenhafte Menschenrechtsverletzungen teil. Während die BRD in UNO-Dokumenten als Komplice des südafrikanischen Apartheidregimes bezeichnet wurde, genoss die DDR in der UNO wegen ihres antirassistischen Engagements hohe Wertschätzung. Bewusst und wirkungsvoll leistete das Komitee seinen Beitrag zu UNO-Tagesordnungspunkten, die sich mit der Gleichberechtigung und Förderung der Frauen befassten.

Zu den Verdiensten des Komitees gehören seine in Deutsch und Englisch herausgegebenen 15 Jahrgänge der "Schriften und Informationen", die in einer Auflage von 4000 Exemplaren pro Ausgabe von Persönlichkeiten und Institutionen im UNO-System und über 100 Ländern größtenteils auf Bestellung bezogen wurden. Die Leser erhielten von Komiteemitgliedern aus erster Hand Berichte und Kommentare über Aufgaben, Ergebnisse und Probleme von UNO-Tagungen sowie über die Realisierung von UNO-Menschenrechtskonventionen, die auch die DDR verpflichteten.

Keine westdeutsche Organisation hat eine so umfangreiche und anerkannte Informationstätigkeit über die UNO-Menschenrechtsarbeit geleistet wie das DDR-Menschenrechtskomitee. Leider scheint die westdeutsche Seite kein Interesse an einer objektiven Geschichtsaufzeichnung der 17-jährigen UNO-Mitgliedschaft beider deutscher Staaten zu haben.

In den Komiteepublikationen traten die Autoren auch jenen westlichen Demagogen entgegen, die sich noch heute als Gralshüter von angeblich übergeschichtlichen, Armen wie Reichen gleichermaßen zustehenden Menschenrechten ausgeben und sie als Fassade kapitalistischer Profitwirtschaft mächtiger Konzerne und Finanzoligarchen missbrauchen, eines Systems, in dem die Ausbeutung von Menschen und Völkern als Freiheit verstanden wird und die Arbeitslosigkeit als unvermeidbares Schicksal gilt.

Ausführlich begründeten die Autoren die Philosophie des Komitees, dass die Menschenrechte weder angeboren noch aus sich selbst erklärbar, weder gesellschaftsneutral noch ewig gleich bleibend sind, sondern in den materiellen Verhältnissen, speziell den Eigentumsverhältnissen wurzeln.

Angesichts beginnender internationaler Isolierung entschloss sich die Komiteeleitung im Dezember 1988, das dem Komitee seit 1959 auferlegte Verbot innenpolitischer Betätigung nicht länger zu befolgen. Auf der Grundlage eines Statuts wollte es künftig an der Aufklärung und Verhinderung von Menschenrechtsverletzungen in der DDR sowie am Ausbau der juristischen Garantien dieser Rechte mitwirken. Noch konnten orthodoxe Kräfte im ZK-Apparat dieses Vorhaben verhindern. Erst ab Januar 1990 gelang die Umwandlung des Komitees in eine demokratische Menschenrechtsliga. Deren gewählter Vorstand erwies sich allerdings als unfähig, die beschlossene innen- und außenpolitische Aufgabenstellung zu verwirklichen. Er vollzog noch im gleichen Jahr einen unrühmlichen Abgang. Spätere Versuche, die Liga wieder zu beleben, scheiterten ebenfalls.

Die Gründer und Mitglieder der ein Jahr später entstandenen Gesellschaft zum Schutz von Bürgerrecht und Menschenwürde erwiesen sich hingegen als erfolgreich. Seither ist die GBM eine unverzichtbare gesellschaftliche Kraft gegen die Einschränkung politischer und die massenhafte Missachtung sozialer und kultureller Rechte in diesem Land.


Die Geschichtsaufzeichnungen über das DDR-Komitee für Menschenrechte befinden sich u. a. im Bundesarchiv, Abt. DDR, in den Universitätsbibliotheken Berlin (HUB und FU), Halle, Leipzig, Rostock, Jena und Dresden, in der Rosa-Luxemburg-Stiftung Berlin, im Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam oder können beim Autor dieses Beitrages bestellt werden.


Die Geschichte zeigt, dass Strafen Menschen, die ihrem Gewissen folgen, nicht zurückhalten können.
(Nelson Mandela)

Raute

Fakten und Meinungen

Klaus Eichner

Für einiges muss ich mich schämen

Angeregt von vielen Überlegungen, die Kurt Zeiseweis in einem Beitrag "Ich soll mich entschuldigen" (Zwie-Gespräch Nr. 27) aufgeschrieben hat, habe ich das Bedürfnis, seine Sicht zu ergänzen. Auch ich möchte weder meine Entscheidung als 18-jähriger für eine Tätigkeit als Berufsoffizier im MfS noch die 33 Jahre meiner Tätigkeit in diesem Ministerium generell in Frage stellen. Ich kann auch heute noch nicht Gedanken der Befriedigung unterdrücken, wenn ich zurückdenke, wie es uns gelungen ist, die Spionageangriffe der traditionsreichen, materiell und personell gut ausgestatteten Geheimdienste der westlichen Hauptstaaten gegen die DDR unter Kontrolle zu halten und weitgehend zu paralysieren.

Aber gleichzeitig kamen seit der "Wende" immer mehr die zum Teil verdrängten, ohne Konsequenzen beiseite geschobenen Zweifel und Überlegungen zu grundsätzlichen Problemen der Politik in den realsozialistischen Gesellschaften sowie zu Entwicklungen und Handlungen im MfS an die Oberfläche und verlangten nach Antworten.

Zu diesen Antworten gehört, dass es nicht wenige Dinge in unserer Gesellschaft, die in ihrem Grundanspruch für mich immer noch die erstrebenswertere Variante gesellschaftlicher Entwicklung ist, gab, die mich zunehmend betroffen machen, ja, für die ich mich heute schämen muss.

Dazu gehört in erster Linie, dass ich eine Politik bis zuletzt mit Überzeugung mitgetragen und mit gesichert habe (Ich glaube, ohne unsere Tätigkeit hätte sie nicht so lange Bestand gehabt.), die vom Misstrauen gegen das "Eigene" - gegen das eigene Volk, gegen die kritischen Geister in den Reihen der eigenen Partei, gegen die Mitarbeiter des eigenen Sicherheitsorgans - geprägt war, wodurch in der gesamten Geschichte dieses Systems politisch und staatliche Repressivmaßnahmen gegen "Abweichler" als normal betrachtet wurden. Dass wir in der DDR eine relativ milde Variante dieser Repressionen gegen alle echte oder eingebildete Opposition, ohne Massenmorde und Gulags, erleben konnten, macht diese Einsicht nicht leichter.

Es macht mich heute betroffen, dass ich zu vielen Gelegenheiten mit religiöser Gläubigkeit viele Dogmen vertreten habe, die ich bei ernsthafter wissenschaftlicher Betrachtung auch aus eigener Anschauung hätte in Zweifel ziehen können - und nach den Forderungen der vielzitierten Klassiker -, auch in Zweifel hätte ziehen müssen. Mich bedrückt mein Opportunismus als Mitglied der SED, die ständige Verletzung des Statuts, das von uns allen eine schonungslos kritische Haltung als Grundlage des Wirkens forderte, und ich schäme mich dafür, dass ich dieses Statut nicht den Parteifunktionären um die Ohren geschlagen habe, die von mir eine angepasste, duckmäuserische Haltung erwarteten, und mir selbst, der ich diese Haltung viel zu oft wider besseres Wissen eingenommen habe.

Welche Motive - Angst vor Sanktionen, Karrieredenken, Unterordnung unter eine falsch verstandene Partei- und Staatsdisziplin? - haben mich immer wieder bewogen, die vielen Fragen zu unterdrücken oder zumindest nur sehr leise, im kleinen Kreise anklingen zu lassen, statt sie hinauszuschreien und nach Veränderungen zu verlangen?

Mir bereitet heute noch Schwierigkeiten, meine Haltung und Denkweise als Mitarbeiter eines sozialistischen Geheimdienstes zu begreifen. Meine Arbeit in Abwehr und Aufklärung habe ich immer als politischen Auftrag für eine Gesellschaft mit humanistischem und emanzipatorischem Anspruch verstanden, auch im bewussten Gegensatz zum oft reinen Jobdenken der Mitarbeiter westlicher Dienste, von dem ich wusste.Aber ich begreife heute immer besser, dass diese politische Grundposition doch eigentlich in Widerspruch geraten musste mit der Akzeptanz und mit der Gewöhnung an den immer extensiveren Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel und Methoden im Inneren der DDR. Auch und gerade in dem Wissen, dass die westlichen Nachrichtendienste, Abwehrapparate und die politische Polizei in ihren Gesellschaften ein Gleiches und oft viel Schlimmeres tun.

Wie konnte ich meine politische Überzeugung in Übereinstimmung bringen mit dem erkennbaren Widerspruch in die Unverhältnismäßigkeit des Einsatzes des Sicherheitsapparates gegen oppositionelle politische Entwicklungen in der DDR, die mir zugleich fremd und auch nah waren? Ich nenne hier nur als Beispiel die Bewegung "Schwerter zu Pflugscharen", die sich mit Recht auf ein Denkmal eines sowjetischen Bildhauers berufen konnte, der damit für alle Völker die große Friedenssehnsucht zum Ausdruck brachte. Eine Bewegung, die sich in meinen Augen aber auch zugleich bewusst in Widerspruch zu Elementen der Politik der DDR setzte (z. B. Verteidigungspolitik), die ich glaubte, schützen zu müssen. Und doch entsprach es damals schon die ich glaubte, schützen zu müssen. Und doch entsprach es damals schon viel mehr meiner Denkweise, mit diesen Menschen politisch zu diskutieren, als ihnen auf der Straße dieses Symbol von der Kleidung zu reißen.

In unseren Diskussionen wird häufig kritisiert, dass der Sozialismus keine seiner Gesellschaftsauffassung adäquaten Mittel der Herrschaftssicherung, der Geheimdienstarbeit entwickelt und angewandt hat. Das gehört auch zu den Punkten, die zumindest ein kritisches Nachdenken erfordern. Den ersten Gedanken - zur Herrschaftssicherung - kann ich unterstützen. Bei der Verknüpfung von Sicherung der sozialistischen Gesellschaft mit dem Einsatz von geheimdienstlichen Mitteln und Methoden, die dieser Ordnung gemäß gewesen wären, habe ich zunehmend Zweifel, ob eine solche Forderung überhaupt realistisch gewesen wäre und heute noch ist.

Wenn wir berechtigt sagen, dass eines der Grunddefizite des Realsozialismus das Auseinanderklaffen von Sozialismus und Demokratie war, dann kann ich den Sozialismus nicht mit Mitteln schützen wollen, die prinzipiell demokratiefeindlich, zumindest deformierend auf demokratische Verhältnisse in allen Gesellschaftsordnungen wirken, auch in unserer heutigen. Deshalb finde ich noch keine Antwort darauf, ob wir bessere, "sozialistische" geheime Mittel und Methoden hätten finden müssen oder ob es überhaupt richtig ist, eine sozialistisch orientierte Staats- und Gesellschaftsordnung mit einem Geheimdienst zu schützen.

Ich neige dazu zu sagen, dass das schon in den Wurzeln ein unlösbarer Widerspruch ist, nach meiner Überzeugung eine akute Bedrohung von Demokratie und verfassungsmäßiger Ordnung darstellt.

Aber es wird auch immer wieder Situationen geben, in denen sich diese Ordnung gegen existenzgefährdende Angriffe schützen muss. Braucht sie dazu auch ein System, das ihr sozusagen vorbeugend mögliche Angriffe signalisiert?

Die aktuellen Erscheinungen der Erweiterung nachrichtendienstlicher Befugnisse (z. B. für den BND) und ihrer extensiven Übertragung auch auf die Polizei - unter dem Vorwand der Bekämpfung einer organisierten Kriminalität, oder aktuell ergänzt: des Terrorismus - beweisen mir, wie schnell Willkür in diesem Bereich bestimmen kann. Ich gewinne auch immer mehr die Überzeugung, dass unser berechtigtes Anliegen im MfS, durch unsere Arbeit vorbeugend Staatsverbrechen gegen die DDR zu verhindern, besonders in den 80er Jahren partiell, aber zunehmend zum politischen Missbrauch geführt hat. Wenn wir im früheren MfS in dieser Richtung nachgedacht und diskutiert und wenn möglich sogar entsprechende Konzepte entwickelt hätten, dann könnte ich heute etwas freier atmen und hätte zumindest einen Punkt, bei dem ich keinen roten Kopf bekommen müsste. Also, Kurt Zeiseweis und viele andere Mitstreiter - früher und heute -, lasst uns bei aller berechtigten Verteidigung von Handlungen und Verhaltensweisen, diese andere Seite unserer politischen Verantwortung - das kritische Nachdenken und auch das daraus resultierende Betroffensein nicht vergessen. Für mich persönlich ist es in einigen Punkten auch ganz nachdrücklich mit Scham verbunden. Ich sehe eine Menge Gründe, vieles für mich früher Selbstverständliche in Frage zu stellen, abzulehnen und gründlich Lehren zu ziehen, aber mit erhobenem Kopf, trotz und wegen meiner 33 Jahre im MfS.


Der vorstehende Beitrag entstand im Mai 1995 im Rahmen einer von der evangelischen Kirche in Berlin-Lichtenberg unter der Moderation von Oberkonsistorialrat Dr. Ulrich Schröter initiierten und moderierten Gesprächsreihe unter dem beziebungsreichen Titel "Zwie-Gespräche", die von Anfang 1991 bis Anfang 1996 regelmäßig in den Räumen der Kirche in Lichtenberg durchgeführt wurde. Dort trafen sich ehemalige hauptamtliche Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) der DDR, Vertreter der Bürgerbewegung und Betroffene (heute generalisierend als "Opfer" bezeichnet) der Maßnahmen des MfS. Sie saßen sich erst einmal gegenüber, konnten in die Gesichter der anderen schauen und diskutierten meist auf gleicher Augenhöhe eine Vielzahl von gegenseitig interessierenden Fragen.

Der Text wurde angeregt durch einen Beitrag des früheren verantwortlichen Mitarbeiters des MfS Kurt Zeiseweis, der sich mit der Forderung an die ehemaligen Mitarbeiter des MfS und an speziell an seine Person auseinander setzte, sie müssten sich für ihre Tätigkeit entschuldigen.


*


Auslandsaufklärer

Jochen Päßler, von 1969 bis 1989 Auslandsaufklärer, der für einige Jahre in Südamerika eingesetzt war, hat ein Buch geschrieben. Anders als der Autor des vorstehenden Beitrags legt er keine dokumentarische, sondern eine literarische Arbeit vor.

Sein "Vor dem Tode ... und danach" ist ein Roman, "ein anderer Spionageroman". Seine Wahrheit liegt nicht so sehr in der Realität eines Frieder Gänsekiel, seiner Romanfigur, als in der nicht erfundenen Welt des Kalten Krieges, in der sich der Kundschafter seinen Aufgaben stellt. ICARUS wird in Heft 2/2009 das Buch aus dem Verlag Wiljo Heinen rezensieren. Es vorher zu lesen, geht natürlich auch.

K.P.

Raute

Freundeskreis "Kunst aus der DDR"

Norbert Rogalski

Karl-Marx-Relief auf DHfK-Boden

Im Heft 1/2007 dieser Zeitschrift ist ein Redaktionsgespräch mit den Schöpfern des Karl-Marx-Reliefs "Aufbruch" Rolf Kurth, Klaus Schwabe und Frank Ruddigkeit, veröffentlicht. Zum Zeitpunkt des Gesprächs war ihr Kunstwerk, das von 1974 bis 2006 über dem Haupteingang der Universität Leipzig angebracht gewesen ist, bereits demontiert. Aus Anlass der Demontage des Reliefs begann am 8.6.2007 eine Ausstellung für die drei Künstler, deren Eröffnungsrede im Heft 3/2007 ebenfalls abgedruckt wurde. In diesen Publikationen ist über den Umgang mit bedeutenden Kunstwerken aus der DDR-Zeit und deren überwiegender Beseitigung berichtet worden. Eine Entscheidung über den Verbleib des Marx-Reliefs war aber noch nicht gefallen. Die Schöpfer sprachen sich in jedem Fall für eine Wiederaufstellung aus und favorisierten einen Ort in der Nähe der neu zu erbauenden Universität am Augustusplatz, unmittelbar an der Moritzbastei. Es kam zwar zur Wiederaufstellung, aber an einem anderen Standort. Bis das Monument am neuen Ort wieder errichtet worden war, kam es zwischen den Entscheidungsträgern und den Gegnern des Marx-Reliefs zu tiefgreifenden Meinungsverschiedenheiten über die Rolle der Kunst in der Gesellschaft. Anknüpfend an den Inhalt in den o. g. Beiträgen und zum neuen Standort stellt der Autor seine Auffassung dar.

Als am 3.10.1990 der Anschluss der DDR an die BRD vollzogen war, vergingen nur wenige Monate und die neuen politischen Kräfte der Stadt und des Senats der Universität verfolgten das Ziel, Karl Marx möglichst schnell aus dem Gedächtnis der Bevölkerung zu streichen. Aus der Karl-Marx-Universität wurde flugs wieder eine namenlose Universität, die Universität Leipzig, und der Karl-Marx-Platz, an dem die Universität ihren Hauptstandort hat, hieß wieder Augustusplatz. Das 33 Tonnen schwere Marx-Relief hing aber nach wie vor am Hauptgebäude und konnte nicht in einer Nacht- und Nebelaktion beseitigt werden. Außerdem wollte die Sächsische Staatsregierung die 300.000 Euro Demontagekosten nicht zur Verfügung stellen. Erst im Zuge des geplanten Universitäts-Neubaus und dem damit verbundenen Abriss der bisherigen Gebäude konnte und musste das Marx-Relief entfernt werden. Antimarxistischen Hardlinern, besonders aus der CDU, aber auch aus Kreisen der SPD, der Kirchen und der sogenannten Bürgerrechtler, war die Präsenz des Monuments stets ein Dorn im Auge. Als der Abriss feststand, ergab sich für die Leitung der Universität die Frage: Was soll aus diesem gewaltigen Bronze-Relief werden? Der genannte Personenkreis hegte nun die Hoffnung, das Marx-Relief endgültig aus dem Bewusstsein der Menschen in Leipzig verbannen zu können und plädierte für ein Einschmelzen. Der Senat der Universität, der sich berechtigt als Eigentümer des Reliefs verstand, spielte aber bei dieser extremen Forderung nicht mit und wollte eine andere Lösung. Die Gegner der Wiederaufstellung, die man berechtigt Bilderstürmer nennen konnte, führten gegen die Leitung der Universität, besonders gegen den Rektor, einen unsachlichen, öffentlich in der Leipziger Volkszeitung (LVZ) und im Internet ausgetragenen Meinungsstreit. Obwohl in der Minderheit provozierten die "Einschmelzer" mit ihren Verlautbarungen politisch-ideologische Feindbilder, die keine tragfähige Basis für einen korrekten Umgang mit der Geschichte darstellten.

Vorreiter zur Vernichtung des Marx-Reliefs war Erich Loest, Leipzigs Ehrenbürger, der vor allem vom Ex-Pfarrer der Nikolaikirche, Christian Führer, dem Thomaskirchenpfarrer, Christian Wolff, dem CDU-Chef Leipzigs, Herrmann Winkler, und den sächsischen SPD-Bundestagsabgeordneten Weißgerber und Fornahl sowie vom Oberbürgermeister der Stadt, Burkhard Jung (SPD), assistiert wurde. In der LVZ vom 25.2.2008 teilte Wolff mit, um ein Beispiel von ähnlichen Aussagen zu zitieren, dass es sich bei dem Relief "um ein monströses Kampfinstrument des SED-Staates" handele. Sinngemäß hieß es von anderen Relief-Gegnern weiter, es sei eingesetzt worden, um Diktatur und Bevormundung gegen die Freiheit des Wortes und der Kirche durchzusetzen. Nicht von ungefähr sei deshalb das Relief an der Stelle des Ostgiebels der 1968 auf Befehl Ulbrichts gesprengten Universitätskirche installiert worden. Es gebe nur einen sinnvollen Ort für die Ablagerung, das sei die Etzoldsche Sandgrube, die mit den Trümmern der zerstörten Universitätskirche gefüllt ist.

Die Mehrheit der Bürger Leipzigs aus allen Schichten der Bevölkerung sprach sich für einen objektiven Umgang mit der Geschichte aus und forderte, sich respektvoll gegenüber Marx und dem Kunstwerk zu verhalten. In einer repräsentativen Befragung votierten 62 Prozent gegen ein Einschmelzen des Reliefs. Dazu zählten auch Wissenschaftler verschiedenster Fachgebiete, die nicht in jedem Fall Vertreter einer sozialistischen Gesellschaftsordnung waren. So trat zum Beispiel der Professor für Kunstgeschichte der Universität Leipzig, Frank Zöllner, prinzipiell für den Erhalt des Monuments ein und bezeichnete das Relief als bedeutendes Denkmal der Zeitgeschichte. Gegen alle verbalen Attacken blieben der aus den alten Bundesländern gekommene Rektor Prof. Dr. Häuser und auch die meisten Senatoren standhaft und beschlossen, das Marx-Relief wieder auf dem Gelände der Universität aufzustellen. Rückendeckung bekamen Rektor und Senat von der Wissenschaftsministerin Sachsens Eva-Maria Stange und dem Studentenrat der Uni.

Da keine Mehrheiten für einen Standort in der Innenstadt in der Nähe des neuen Universitätskomplexes zu erreichen waren, fiel die Entscheidung durch den Senat der Universität, das Relief auf dem Gelände der 1990/91 abgewickelten Deutschen Hochschule für Körperkultur zu platzieren, der jetzigen Fakultät für Sportwissenschaft, das nun Uni-Campus oder Sport-Campus an der Jahnallee genannt wird. Das war für ehemalige Mitarbeiter, aber auch für Leipziger Bürger und Sportfreunde, die sich mit dieser Hochschule auch im Rückblick eng verbunden fühlen, eine gewisse Überraschung. Kaum war dieser Standort in der Öffentlichkeit publik, kamen neue, aber auch altbekannte Kräfte mit ihren Verleumdungen wieder aus der Deckung, wiederholten die Kampagne gegen das Relief und brachten es jetzt mit der DHfK und dem DDR-Sport in Verbindung. Nach ihrer Meinung wäre der Sport-Campus für die Aufstellung des Reliefs überhaupt nicht geeignet. Einige wenige Zitate:

"Das neue Domizil des bronzenen Kommunismus-Erfinders ist allerdings historisch auch nicht ohne: Die Hochschule für Körperkultur war in der DDR - die Zentrale des staatlichen Dopingsystems - ein weiteres Beispiel also für systematisches Unrecht in der ostdeutschen Diktatur." Noch deutlicher und feindseliger gegen den Sport in der DDR gerichtet, hieß es an anderer Stelle:

"Im Wettstreit der Gesellschaftsordnungen (ist) ein lückenloses System für sozialistische Leistungsmanipulation entwickelt (worden). In deren Mittelpunkt stand zum Beispiel auch die Deutsche Hochschule für Körperkultur."

Über diese Einrichtung wurden damit wiederum bewusst Unwahrheiten in die Welt gesetzt und Verleumdungen verbreitet. Die gleichen lügenhaften Erfindungen über waren schon in den Wendejahren 1990/91 zu lesen und zu hören, was auch den Sächsischen Landtag mit dazu veranlasste, einen Beschluss zur Abwicklung der DHfK zu fassen. Was den Senat mit dem Rektor an der Spitze bewogen haben mag, gerade diesen Standort für die Aufstellung des Reliefs auszuwählen, ist dem Autor nicht bekannt. Die Entscheidung der Führungsspitze der Uni war die Voraussetzung, dass das Marx-Relief nicht völlig aus der Öffentlichkeit verbannt wurde. Einen Kompromiss musste sie aber noch eingehen, um das Vorhaben nicht scheitern zu lassen. Dem Relief wurden einige Sätze als nähere Erläuterungen und eine Bildfolge gesondert vorangestellt. In dem Text heißt es an einer Stelle: "Die Neuaufstellung als historisches Zeugnis. (...) dokumentiert durch räumliche Distanz zum ursprünglichen Kontext Verantwortung und Abstand zugleich: Verantwortung gegenüber und Abstand zu jenem Teil der deutschen Geschichte, der mit dem SED-Regime und dem Namen Karl-Marx-Universität verbunden ist."

Am 17.10.2008 wurde das Monument auf dem Sport-Campus u. a. mit den Worten von Prof. Dr. Häuser übergeben:

"Die Universität bekennt sich zu ihrer Geschichte und stellt das Marx-Relief wieder auf. (...) Das Kunstwerk ist ein zeitgeschichtliches Zeugnis, mit dem man sich aktiv auseinander setzen muss."

In Anerkennung und Würdigung der großen theoretischen Leistungen von Marx hätte man sich einen würdigeren Platz für das Relief in Leipzig gewünscht, davon sind auch seine Schöpfer berechtigt ausgegangen, wie sie in dem eingangs genannten Gespräch betonten. Da für einen anderen Standort entsprechend der politischen Wetterlage in der Stadt keine Mehrheit zu erreichen war, ist das Gelände der ehemaligen DHfK auch nicht als abwegig zu betrachten. Warum? Marx hat einen nicht unwesentlichen Beitrag für die Erarbeitung theoretischer Grundlagen einer fortschrittlichen, sozialistischen Körperkultur geleistet, wie sie auch in der DDR konzipiert und praktisch umgesetzt wurde. Er hatte sich nicht vordergründig zu diesen Fragen geäußert, aber doch in bestimmten Publikationen recht prinzipiell und überzeugend. Er stellte eine allseitig denkende und schöpferisch handelnde Persönlichkeit in den Mittelpunkt seiner Gesellschaftstheorie. In dem Zusammenhang benannte Marx auch den notwendigen Anteil der bewussten körperlichen Bewegungen, was er als Leibeserziehung oder Gymnastik bezeichnete. Die wohl bekannteste Aussage von Marx zu dieser Problematik lautet:

"Die Verbindung der produktiven Arbeit mit Unterricht und Gymnastik ist nicht nur eine Methode der gesellschaftliche Produktion, sondern als einzige Methode zur Produktion vollseitiger entwickelter Menschen."(1) Für die sportwissenschaftlichen Institutionen der DDR sind seine Geschichtsauffassung und die Anwendung der dialektisch-materialistischen Methode auch eine Grundlage der wissenschaftlichen Arbeit auf allen Gebieten der Sportwissenschaft gewesen. So hat sich z. B. auch Prof. Dr. Kurt Meinel, der als Sportpädagoge in Leipzig an der DHFK tätig war, bei der Ausarbeitung der theoretischen Grundlagen seiner Bewegungslehre bereits in den 50er Jahren auf Feststellungen von Marx beziehen können, die in der 1. Ausgabe des vielbeachteten Buches "Bewegungslehre" nachzulesen sind. Leider haben seine Nachfolger in mehreren Nachauflagen den Bezug auf Marx weggelassen. In den 60er Jahren erschienen in Publikationsorganen der Sportwissenschaft der DDR längere Beiträge zum Thema "Karl Marx und die Körperkultur". In der von der DHfK herausgegebenen "Enzyklopädie Körperkultur und Sport" sind die Ideen von Marx zur körperlichen Ausbildung in Verbindung mit geistiger und polytechnischer Bildung und Erziehung im Sinne dieses Zitats dargestellt worden. Generationen von Wissenschaftlern und Studenten der Hochschule konnten sich berechtigt in ihren Arbeiten auch auf Marx berufen. Insofern gibt es für den jetzigen Standort auch eine inhaltliche Beziehung.

In einer Leserzuschrift in der LVZ vom 8./9.3.2008 hieß es: "Die Stadt Trier kann ganz wunderbar damit leben, dass sich Touristen vor dem Geburtshaus von Marx fotografieren lassen und das Marx-Museum besuchen." So ist nicht auszuschließen, dass das Marx-Relief auf dem Gelände der ehemaligen DHfK, dem heutigen Sport-Campus, auch zu einer Gedenkstätte in Leipzig wird, wie zentrale Plätze in anderen Städten Deutschlands ebenfalls. Ehemalige Mitarbeiter, Absolventen und Sympathisanten dieser Hochschule können, wie die Bürger von Trier, auch gut damit leben. Der Autor geht davon aus, dass die Schöpfer des Reliefs dieser Auffassung nicht grundsätzlich widersprechen werden. Es könnte von Besuchern noch die Frage gestellt werden: "Was war das eigentlich früher für ein Gelände?" Es befremdet außerordentlich, wenn sich Leipziger SPD-Funktionäre für ein Einschmelzen des Marx-Reliefs ausgesprochen hatten, da ihnen bekannt gewesen sein müsste, dass das Marx-Museum in Trier von der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung und damit letztlich von der SPD-Zentrale finanziert wird. Viele Straßen in Deutschland tragen nach wie vor den Namen Karl Marx, so auch in dem nur 3 km von Leipzig entfernten Markranstädt. Im Berliner Marx-Engels-Forum ist die Skulptur von Marx und Engels eine beliebte Fotokulisse für Touristen. Und die Bürger von Chemnitz sehen bis heute den 11 m großen Karl-Marx-Kopf, auf einem gewaltigen Sockel im Stadtzentrum stehend, als das Wahrzeichen ihrer Stadt an und nennen sie deshalb oft "Stadt mit Köpfchen". Die Aufzählung derartiger Gedenkstätten ist keineswegs vollständig.

In mehreren Gebäuden der ehemaligen DHfK sind seit Mitte der 90er Jahre die private Handelshochschule und die Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät der Uni untergebracht. Als Elite-Hochschuleinrichtungen bilden sie den Nachwuchs des so genannten Topmanagement für die großen Wirtschafts- und Finanzunternehmen aus. Gegenstand ihrer Ausbildung ist mit Sicherheit auch, wie man im kapitalistischen Wirtschaftssystem maximalen Profit erzielt, sprich Kapital auf Kosten breiter Bevölkerungsschichten anhäufen kann. Nur ca. 30 m von der Mensa entfernt steht jetzt das Marx-Relief.

Dem Lehrkörper und den Studierenden wird es gewiss auch nicht schaden, wenn sie an Marx und an sein "Kapital" erinnert werden. Pflichtlektüre oder Lehrgegenstand wird das "Kapital" von Marx wahrscheinlich nicht werden. Oder später einmal doch? Als diese Zeilen geschrieben wurden, hatte die weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise wahrscheinlich ihren Höhepunkt noch nicht erreicht. Das zwingt geradezu auch im Zusammenhang mit dem Marx-Relief, auf die Analyse und Kritik der kapitalistischen Ökonomie von Marx hinzuweisen. Zwei grundverschiedene Standpunkte gesellschaftlicher Praxis und theoretische Ansätze stehen sich nunmehr auf engstem Raum im Sport-Campus praktisch sinnbildlich gegenüber: Marx und die studentischen Ausbildungsprogramme. Ab November 2009 soll die Mensa wegen Bauarbeiten längere Zeit geschlossen werden. Der Geschäftsführer des Studentenwerkes teilte schon vorsorglich mit: "In dieser Zeit findet die Essenausgabe in einem beheizten Zelt statt, das neben dem Marx-Relief stehen wird." Mitarbeiter und Studierende der Handelshochschule und der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät werden dann jeden Tag auf dem Weg in das Zelt an Marx vorbei müssen, ob es ihnen gefällt oder nicht. So erfährt der gewählte Standort eine weitere Aufwertung.

Als ich 1954 an der Arbeiter-und-Bauern-Fakultät der DHfK immatrikuliert wurde, vorher hatte ich einen handwerklichen Beruf erlernt und auch im Bergwerk gearbeitet, bekam ich das erste Mal mit den Ideen von Marx in Kontakt. Im anschließenden Sportstudium an der DHfK erfolgte dann die systematische Aneignung wesentlicher Bestandteile des historischen und dialektischen Materialismus. Wenn nun das Marx-Relief im Jahre 2008 wieder auf dem Boden meiner ehemaligen Hochschule als Student und meiner späteren langjährigen Arbeitsstelle als Hochschullehrer aufgestellt wurde, schloss sich für mich nach 54 Jahren der Kreis der Beschäftigung mit Marx in einer nicht zu erwartenden, aber doch wohltuenden Art und Weise.


Anmerkung:
(1) Marx/Engels: "Werke", Band 23, Berlin 1971

Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:
Das Marx-Relief am neuen Standort auf dem DHfK-Gelände

Raute

Freundeskreis "Kunst aus der DDR"

Peter Arlt

Atelier 2008

Rede zur Eröffnung der Ausstellung von Malerei und Zeichnungen Peter Hoppes in der GBM-Galerie am 7. November 2008

Es zeugt von lebendigem Künstlertum, dass Peter Hoppe, so wie er atmet, isst und trinkt, in täglicher Gewohnheit zeichnet und malt. Dabei liebt er es, die künstlerische, stilistische und thematische Stelle, auf der er sich eine Zeitlang befand, zu verlassen und sich einer neuen zuzuwenden. Doch in den Gegensätzen und der Wandlung bleibt Peter Hoppe erkennbar. Es ist ein Wandel in der Identität, eine "Kontinuität in der Ambivalenz".

Ein Wandel in der Kontinuität zeigt sich auch in der Vita des Künstlers:

Der Städter Peter Hoppe wurde in Chemnitz geboren, im Jahre 1938. Seine schnell zu errechnenden 70 Jahre vollendet er am 27. November. Hoppe erlernte den Beruf eines Baumalers, studierte 1956-59 an der Fachschule für Angewandte Kunst Berlin/Potsdam und im Anschluss an der Kunsthochschule in Berlin-Weißensee bei den Professoren Ernst Rudolf Vogenauer, Fritz Dähn, Arno Mohr und Walter Womacka. Das Diplom für Malerei erhielt er 1965, und es folgte ein einjährige Aspirantur. Seit 1967 ist Hoppe freiberuflich in Berlin tätig. Ihn zeichnet eine vielseitige Kreativität aus: Als Grafiker ist er auf den Gebieten der Radierung, Aquatinta und Lithographie zu Hause, er bemalt keramische Teller, versucht sich an der Skulptur und hat oftmals Theaterausstattungen für Schauspiel und Ballett, insbesondere in seiner Geburtsstadt, übernommen. Vor allem aber ist Peter Hoppe mit Leib und Seele ein exzellenter Zeichner und Maler.

Bekannt geworden ist Peter Hoppe Mitte der 70er Jahre mit eher veristischen Bildern des Nature morte und den herausragenden Porträts von Herbert Sandberg. Einen künstlerischen Übergang von diesen zu einer malerischeren Bildform bezeichnet sein "autoritratto quattro" von 1985. Mit diesen Selbstporträts nach Passbildern von einem Fotoautomaten in Paris spielt Hoppe auf der mimischen Ausdrucksklaviatur zwischen skeptischem Warten und Hochmut, brüllendem Schmerz und überschäumender Freude. Seine sinnlich-konkreten Konterfeis demonstrieren mit hintergründigem Witz das Relative von Allgemeinem und Einzelnem, Notwendigem und Zufälligem, von Wesen und Erscheinung; Kategorien, von denen in der Kunsttheorie jener Zeit viel Aufhebens gemacht wurde.

Höhepunkte seines Schaffens sind Wandbilder in Berlin, namentlich das Mosaik "Der Mensch im Kreislauf der Natur" am Helene-Weigel-Platz, das im vorigen Jahr bei der Wärmedämmung des Hauses überkleidet wurde. Unter der Dämmung: Ikarus. Ein Fall für den "ICARUS" der GBM. Sein Marzahner Plafond von 1991 markiert eine Zäsur, denn hier entwickelte er die betont malerische Bildform mit schwelgenden Farbräumen, in denen er die innere Geste und psychische Verfassung umsetzt. Figuratives und Nonfiguratives durchdringen sich; das Nonfigurative besitzt oft eine gleichnishafte Figurbezogenheit.

Zeichnungen und Gouachen zur "Schönen Neuen Welt" schuf Peter Hoppe 1990. Den Titel im gesellschaftlichen Kontext allein als ironischen Zeitreflex zu verstehen, verengte jedoch die Sicht auf die "SNW". Denn den Titel hat Hoppe von Aldous Huxleys satirischem Buch "Brave New World" entlehnt. Nicht zu übersehen ist freilich, dass Zeitgeschichte ins Leibhaftige und Zeichenhafte übersetzt ist. Exemplarisch zeigen das die Blätter "fragil" oder "bewerbung". Auch in "gebeugt", "überangebot" und "bewerbung" argumentiert Hoppe leibbezogen, findet im Nacktmachen und Sich-Prostituieren Metaphern für die Preisgabe des Ehrgefühls in der allgegenwärtigen Überprüfung persönlichster Verhältnisse. Zugleich führt der Künstler in freier und frivoler Weise unterschiedliche Aspekte der sexuellen Geschlechterbeziehungen bis zu ihrer perversen Umkehrung vor Augen. Wir erleben eine reich differenzierte Ausdrucksskala einer Gebärdensprache der inneren Befindlichkeit mit Eitelkeiten, Sehnsüchten, Leidenschaften und Spannungen, die den Rahmen sozialer Interpretation weit sprengen.

Peter Hoppes Bilder besitzen in den zeitlich zusammenhängend entstehenden Gruppen von Arbeiten oder Suiten einen spezifischen Charakter, eine besondere Temperatur. Das formale und thematische Spektrum ist weitgespannt und pendelt abwechslungsreich zwischen einer Farbbrillanz und strenger Farbreduktion, die ihre stilistischen Endpunkte in den Grisaillen wie in den konstruktiven Formen aus Kreisen, Ellipsen, Rechtecken gefunden haben. In den Gruppen gibt es formale und gedankliche Zusammenhänge, klingen die Variationen wie in einer Satzfolge zusammen. Das ist in den neuen Gemälden der Serie "Atelier" ebenso zu erleben wie in den "oktoberlandschaften" von 2000. Folgt man in diesen Bildern den Pinselspuren in ihrer Bewegung und farbigen Entfaltung, so verwandeln sich die Bilder in zeitliche Kunstwerke, in Gefüge optischer Modi, die als Metaphern der Musik synästhetisch beschrieben werden können. Die "Musik" in den "oktoberlandschaften" könnte in solchen Modulationen klingen: Erhaben, maestoso, liegen ruhige größere Farbflächen im hellen Braun und Grau, spielen zusammen ein legato im getragenen Zeitmaß des sostenuto. Ein kräftiges Grün steigt langsam, lento, zu einem zarten Blau. Dann gibt es ein Grau, dessen Ton im crescendo anschwillt. Von den größeren Farbflächen umfangen, treiben kleinere in melancholischer Repetition über das Blatt.

In der Serie "Apoll und Daphne", Gouachen von 2001, Hoppe hat erneut den Mythos als im Zeitgeschehen liegende Anregung aufgenommen und als tiefgründige Verbindung mit dem Eros, der der Kreativität Peter Hoppes Flügel verleiht. Die dionysische Welt lebt in den Bildern Peter Hoppes in vollen Zügen, wie wir sehen, selbst beim mythischen Gegenspieler Apollon.

"Atelier 08" zeigt uns Maler und Bilder im schöpferischen Raum der Bildentstehung. Die bemalten Leinwände bilden labyrinthische Binnenräume und bieten Gefahr wie Gelegenheit sich zu verlieren. Die leeren Leinwände umstellen ihn fordernd. Graue Flächen, die für das Unbestimmte, das Ungeformte stehen, das erst Form, Farbe und Leben gewinnen will. So wie es die Gestalt des Künstlers im Bild "Atelier 11a", auf dem Titelbild dieser Ausstellung, mit komplementärem Grün und Rot, mit Orange und Violett und mit menschlichen Ausdrucksgebärden gewonnen hat.

Die Gestalt des Malers bekam ihr Leben vom Künstler, der sie schuf und den sie spiegelt in seiner Gemütslage, seiner schöpferischen Melancholie, mit der er über seine Kreation nachsinnt. Dieser immateriellen linearen Gestalt, die ihn überragt, neigt sich im Orpheus-Topos sein Haupt zu. Ist es ein Abschied von ihr, die sie auf der Leinwand eigenes Leben gewann? Ist es der Abschied des Vergänglichen vom erhofft Unvergänglichen? Ist es der Abschied des Künstlers von seinem Werk, das ihn verlässt oder wahrscheinlicher noch in den Orkus des anscheinend Unbenötigten hinuntersinkt? Und wie der Nachsinnende den Nachsinnenden gegenüber dessen Werk, das im doppeltem Sinne sein eigenes ist, uns und sich zeigt, legt er uns und sich selbst auseinander, was ihn bewegen mag. In mehrfacher Reflexion tritt sich der Künstler gegenüber, stellt sich selbst als Fremdes vor Augen. Er wird zugleich als Person anschaubar wie als deren Produkt. Im Kunstwerk, der naturgemäßen werktätigen Verdoppelung des Künstlers, repräsentiert das Motiv des Künstlers sein Alter Ego und ein Bild im Bild ein fiktives Produkt, ob als Selbstzitat, ob als Antizipation, ein Durchspielen von Formen des Wahrscheinlichen wie Möglichen. Die unregelmäßig sich im oberen Bildraum wie Vanitasblasen ausbreitenden hellen grauen und grünen Scheiben sind Teil des konstruktiven Rasters, das sich aus helleren und dunkleren grauen Flächen und dem schweren schwarzen Balken bildet. Hier ist der Kontrast zur farbigen Figur des Künstlers noch im selben Bild zu finden. Doch schon haben sich im Atelier die Stiltendenzen in eigenen Bildserien getrennt, als konkrete Kunst in "Geometries" und als gestische und figürliche Malerei. In den Stilkontrasten lebt er gegensätzliche Denk- und Fühlaspekte aus, die in der Persönlichkeit ihr Kontrastprogramm austragen. So durchlebt der Künstler Metamorphosen und seine Katharsis. Eine Reinigung, in der der Künstler einen Abstand gewinnt von bisherigen Bildformulierungen und sich - wie er zu den Arbeiten "Katharsis" sagt - in "ursprünglichster Gestik" auszudrücken sucht.

Peter Hoppes Geschöpfe sind oft absichtlich undefiniert gehaltene Figuren, die, wie in "Seraphim" von 2006, suggestive Formbewegungen aufweisen, mit denen die Bildgedanken des Betrachters ins ikonographisch Offene transzendieren. So gewinnt Seraphim jenseits seiner im Alten Testament beschriebenen Rolle als Lichtfigur ein visionäres Wesen, das als guter Geist schützend eine menschliche Gestalt umfließt, als eine mythopoetische Figuration kontemplativer Welterfassung und innerer Hoffnung. Als Kunstgestalt geleitet sie uns wie auf einen Parnassos - zum Traum von einer Kunst, die als Kastalia-Quelle unsere Phantasie erfrischt und reinigt.


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:
- Peter Hoppe, Streit der Göttinnen Hera, Aphrodite und Athene, 1985. Kohle, 44,5 x 72 cm

Raute

Freundeskreis "Kunst aus der DDR"

Peter Michel

Unsere Utopie lebt

Rede zur Eröffnung der Ausstellung "Willi Sitte - Bilder gegen den Krieg" am 23. Januar 2009 in der GBM-Galerie in der Berliner Weitlingstraße

"Schmerz und Wut erfüllen uns in diesen Tagen besonders wegen der gnadenlosen Bombardements und der am Boden operierenden Panzer und Artillerie der israelischen Armee.... Überaus übel, verwerflich, ein Schandmal." Diese Worte sprach unser Freund Klaus Höpcke anlässlich der Enthüllung eines Zweitgusses der Rosa-Luxemburg-Plastik von Rolf Biebl am 11. Januar 2009 - und er fuhr fort: "Die Hamas-Raketen dienen ihnen wie auch der deutschen Kanzlerin als Instrument der Verkehrung von Ursache und Wirkung. Diese Verkehrung ist nicht ganz und gar identisch mit Bushs Lügen über Massenvernichtungswaffen im Irak; identisch aber sind die damals wie jetzt zutage tretende Verlogenheitsstruktur, Menschenverachtung und Besatzerwillkür."(1)

Als Willi Sitte 1999 sein Gemälde "Der Tod fliegt mit" malte, das im Zentrum unserer Ausstellung steht, klagte er den Überfall der NATO auf Jugoslawien an. Er schuf eine zeichenhafte, apokalyptische Metapher, ein unheimliches Gebilde, das sich gierig - der Blickrichtung des Betrachters entgegen - Feuer speiend nach unten stürzt. Gabriele Senft hat die schrecklichen Wirkungen solchen Verbrechens in Fotos z. B. von der zerstörten Brücke von Varvarin und von Angehörigen ermordeter friedlicher Menschen festgehalten. Heute - zehn Jahre nach seinem Entstehen - ist Willi Sittes Bild noch immer aktuell. Es wirkt auch als Menetekel gegen die Kriege der USA und ihrer Verbündeten in Afghanistan und im Irak - und es klagt nun die Verbrechen gegen das palästinensische Volk an.

Das ist eine der wesentlichen Aufgaben von Kunst: dass sie über den Tag hinauswirkt, dass sie inhaltliche und Formbezüge schafft, die eine Botschaft durch Jahrzehnte und Jahrhunderte weitertragen, dass sie über den aktuellen Anlass hinaus Humanität einfordert. Das gilt für die Radierungen der Folge "Misères de la guerre" von Jacques Callot aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges, für Goyas Erschießungsbild oder seinen Zyklus "Los Desastres de la Guerra", für die Schreckensbilder Werestschagins, vor allem für seine "Apotheose des Krieges" von 1872, für die Kunst der Käthe Kollwitz, eines Otto Dix, eines George Grosz, für die blutenden, aufgerissenen Himmel in den Gemälden Ernst Radziwills, für die herausfordernden, formgewaltigen Bild-Erfindungen Picassos und für viele, viele andere.

Die Anklage des Krieges war ein Grundanliegen zahlreicher Künstler in der DDR; das entsprach der Politik dieses Landes. Die Wegbereiter und Akteure dieser Epoche deutscher Kunstgeschichte warnten - geeint im Friedenswillen in einer langen Periode des Kalten Krieges, doch jeder auf seine ganz eigene Weise - nach dem menschen- und wertevernichtenden Chaos des Zweiten Weltkrieges vor einer Wiederholung, vor einem Atomkrieg, vor allen Arten des Krieges als Fortsetzung von Politik mit anderen Mitteln. Hans und Lea Grundig, Heinrich Ehmsen, Wilhelm Rudolph, John Heartfield, Eugen Hoffmann, Fritz Cremer, Wilhelm Lachnit, Theo Balden, Walter Womacka - sie alle reihten sich in diese Phalanx ein. Bernhard Heisig verarbeitete immer wieder seine traumatischen Erlebnisse in der "Festung Breslau". Heidrun Hegewald schuf mit ihrem Kreuzigungsbild, ihren "Esther"-Illustrationen, ihren Pietà-Darstellungen und Kassandrarufen eindringliche Sinnbilder. Bis in die jüngere Künstlergeneration hinein ließe sich diese Serie mühelos fortsetzen. Wen man nicht nennt, dem tut man Unrecht.

Und Du, lieber Willi, stehst in dieser Reihe ganz vorn. Seitdem Du künstlerisch tätig bist, hast Du Dich immer wieder mit dem Krieg als Menschheitsverbrechen auseinandergesetzt. Wenn ich einige Werke nenne, so ist mir auch hier die Unvollständigkeit bewusst. Die Folge von Zeichnungen zum "Totentanz des Dritten Reiches" entstand schon 1944, als Du unter Lebensgefahr in Italien Kontakte zu den Partisanen aufbautest. In den Fünfzigerjahren, als der Koreakrieg tobte, als sich das algerische Volk gegen die französische Kolonialmacht erhob und sich u. a. das faschistische Massaker von Lidice zum zehnten Male jährte, entstanden Deine Gemälde "Unter Trümmern", "Mörder von Koye", "Massaker" und Deine Arbeiten zu Lidice, von denen das Hauptwerk, das im Museum des neu errichteten Dorfes seinen Platz finden sollte, bis heute verschwunden ist. Die Sechzigerjahre waren durch solche großartigen Werke wie "Die Überlebenden", "Memento Stalingrad", "Nicht schießen!", "Höllensturz in Vietnam", "Mensch, Ritter, Tod und Teufel" und "Son My" (1970) geprägt. 1972 maltest Du Dein Triptychon "Jeder Mensch hat das Recht auf Leben und Freiheit", das ein Programmbild unserer Menschenrechtsorganisation sein kann. In den Achtzigerjahren setztest Du Dich intensiv mit dem Thema "Neofaschismus" auseinander, eine Aufgabe, die für uns alle heute aktuell geblieben ist, um zu verhindern, dass unter dem Deckmantel der Demokratie aus diesem noch fruchtbaren Schoß neue Vernichtung kriecht. Dein CEuvre, lieber Willi, ist so groß und vielgestaltig, dass man allein mit "Bildern gegen den Krieg" ein ganzes Museum füllen könnte.

Umso bescheidener ist unsere kleine Ausstellung, für die wir Dir, Deiner Frau Ingrid und der Willi-Sitte-Stiftung Merseburg äußerst dankbar sind. "Der Tod fliegt mit" - diese große Bildtafel wird begleitet von fünf in der künstlerischen Formgebung spannungsvoll unterschiedlichen Gemälden. "Schatten, die bleiben", Schatten auf der Seele, Schatten der Qual in den Foltergefängnissen von Abu Graib oder Guantanamo, in denen Menschen wie Vieh behandelt und ihrer Würde beraubt werden. Ein einzelner "Plünderer" steht für eine Massenerscheinung: das Ausrauben z. B. der Museen in Bagdad und anderen Städten, von Zeugnissen ältester Menschheitskultur; die US-Armee brachte in den Irak nicht nur Tod und Vernichtung, sondern auch eine Entwertung der Werte im Namen von Freiheit und Demokratie. Und wer denkt nicht angesichts des Gemäldes "Im Namen Gottes" an die irrwitzigen Eingebungen George W. Bushs, der sich, um seine Kriege in Afghanistan und im Irak zu rechtfertigen - wie weiland Adolf Hitler auf die Vorsehung - im Juni 2003 öffentlich auf einen persönlichen Auftrag Gottes berief. Schon einmal hattest Du, lieber Willi, 1979 in Deinem Gemälde "Straflektion" mit wenigen Figuren ein brutales Abschlachten dargestellt; 1995 führtest Du diesen Topos in seiner Allgemeingültigkeit konsequent weiter.

Die Graphiken - fast alle Zinkographien - sind hier bis auf wenige Ausnahmen nach Werkgruppen ausgestellt. Ein graphisches Triptychon entstand 1973 anlässlich des Militärputsches in Chile. Es ist umgeben von Blättern der Solidarität und des Kampfes gegen den Revanchismus. Eine weitere Werkgruppe zeigt vier Blätter Deiner Hommagen, jenen Großen der Kunstgeschichte gewidmet, die Dir in Deiner Arbeit Impulse gaben und Dich künstlerisch herausforderten. Immer wieder fesseln uns Deine Bilder vom "Herrn Mittelmaß", ein Themenkreis, der Dein Schaffen nicht erst seit der so genannten "Wende" durchzieht: die Auseinandersetzung mit menschlichen Schwächen, Charakterlosigkeiten, Egoismen und Dummheiten. Diese von einer literarischen Figur Ossietzkys angeregten bildnerischen Satiren zeigen Verhaltensweisen, die nach 1989 typisch wurden: das berechnende Austauschen der politischen Gesinnung, die Kompetenz, die den Unbedarften auch nach der "Wende" mit dem richtigen Parteibuch zuwächst usw.

Leider reicht die Zeit nicht, um darauf näher einzugehen. Doch jedes Bild, jedes Blatt - auch wenn es sich nicht ausdrücklich mit dem Antikriegsthema beschäftigt, wenn es z. B. die Schönheit des Menschen feiert - zwingt uns zu der Erkenntnis, dass solche Kunst einen humanistischen Auftrag hat, dass ihr Menschen- und Friedensliebe innewohnen, dass schließlich ein "Liebespaar" ebenso ein Bild gegen den Krieg ist wie andere.

Lieber Willi, wir kennen uns nun schon mehr als dreißig Jahre. Es gibt eine Graphik in unserer Ausstellung, die mich immer wieder besonders bewegt, weil sie so genau unser gemeinsames Denken und Handeln nach 1989 erfasst. Deshalb zum Schluss dazu ein paar Sätze, die ich schon einmal für den Katalog der im Jahr 2000 geplanten und schließlich verbotenen Nürnberger Ausstellung formuliert hatte. Es geht um das Blatt "Selbstbefragung" - eine Grafik "voller Anspielungen und Symbole, die Konfrontation mit dem Schatten der eigenen Vergangenheit, das kritische Befragen bisher gelebten Lebens. Wer bin ich? Woher komme ich? Wohin gehe ich? Solche Fragen stellten sich viele Künstler nicht nur in Zeiten gesellschaftlicher Umbrüche, sondern immer auch in Bezug auf das eigene Werk. Bin ich kopflos geworden? ... Wie stehe ich zu meiner Biografie? ... Finde ich in dieser 'neuen', alten Welt zu einer erneuerten Übereinstimmung mit mir selbst - oder: Stand dieses Einssein je in Frage? Ist mit dem schmählichen Untergang eines für soziale Gerechtigkeit stehenden Staates die Utopie einer menschlichen Gemeinschaft ebenso in der Geschichte versunken? ... Die Schmerzhaftigkeit solcher schonungslosen Selbstanalyse ... ist in der 1992 entstandenen Graphik überzeugend erfasst. Und sie ist so angelegt, ... das sie diese Fragen an jeden Betrachter stellt, der sich darauf einlässt."(2) Nein, unsere Utopie von einer gerechten, friedlichen Welt ist nicht gestorben. Wir haben heute bei aller Kritik dessen, was hinter uns liegt, wieder - auch dank Deiner Kunst - ein Selbstbewusstsein, das uns trägt und in die Gemeinschaft von Gleichgesinnten hineinwirkt. Dafür, lieber Willi, danken wir Dir.


Anmerkungen:

(1) Rolf Biebl und Klaus Höpcke: Eines Sinnes mit Rosa. In: junge Welt vom 13. Januar 2009, S. 10
(2) Peter Michel: Zeitsprünge - und ein Kontinuum. Gedanken zum Politischen im Werk Willi Sittes. In: ICARUS 1/2001, S. 23


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:
- Willi Sitte am 23. Januar in der GBM-Galerie
- Willi Sitte, Der Tod fliegt mit, 1999. Öl/Hartfaser, 175 x 125 cm, Leihgabe der Willi-Sitte-Stiftung Merseburg

Raute

Freundeskreis "Kunst aus der DDR"

Peter H. Feist

Kein weißer Fleck auf der Landkarte der Weltkunst

Vorwort für das Lexikon "Künstler in der DDR", das im Herbst 2009 im Verlag Neues Leben erscheinen wird

Ernsthafte Meinungsbildung setzt gründliche Kenntnis der Tatsachen voraus. Die Beurteilung der bildenden und angewandten Kunst, die zwischen 1945 und 1990 in der Sowjetischen Besatzungszone des zu Recht besiegten Deutschland und danach in der 1949 gegründeten Deutschen Demokratischen Republik geschaffen wurde, kann durch das hier vorgelegte Künstlerlexikon wesentlich genauer werden.

Dietmar Eisolds jahrzehntelange Dokumentation und in jüngster Zeit die Recherchen mehrerer Wissenschaftler sowie Informationen durch die Kunstschaffenden selbst ergeben einen Grundstock von biografischen und bibliografischen Angaben über etwa 7000 Personen, die in dem genannten Territorium als Maler, Grafiker, Zeichner, Illustratoren Bildhauer, Kunsthandwerker, Industrieformgestalter (Designer), Fotografen, Bühnenbildner, Gebrauchsgrafiker (Graphic Designer), Karikaturisten, Buchgestalter etc. tätig waren und ihre Arbeiten in der Regel auch über Ausstellungen öffentlich wirken ließen. Erfasst werden Personen, die diese Tätigkeit als ihren Beruf ansahen und auszuüben suchten, was in der DDR ein entsprechendes Studium und dann die Mitgliedschaft im Verband Bildender Künstler voraussetzte. In anderen Berufen tätige Laienkünstler (Volkskunstschaffende), die gleichfalls Ausstellungsmöglichkeiten hatten und in einigen Fällen sehr beachtliche Werke schufen, bleiben weitgehend unberücksichtigt, obgleich die Kunstpolitik eine Zeit lang ihre Unterscheidung von den Berufskünstlern abschaffen wollte, weil sie sich davon einen Zustrom an Lebensnähe für die Kunst erhoffte.

Zu den im Lexikon Verzeichneten zählen Künstler und Künstlerinnen, die bei dem kulturellen Neubeginn nach der Zerschlagung der NS-Diktatur schon die Erfahrungen eines längeren Schaffens hinter sich hatten, ebenso wie solche, die erst kurz vor 1990 die Kunstszene betraten. Unter ihnen sind auch Ausländer, die zeitweilig oder dauernd ihren Wohn- und Arbeitsplatz in Ostdeutschland nahmen, weil sie von den dortigen Verhältnissen angezogen wurden, und andererseits Künstler, die zu irgendeinem Zeitpunkt unzufrieden die DDR verließen. Weitere Entwicklungen des Schaffens, das sich nach 1990 unter grundlegend veränderten gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen vollziehen musste, können lediglich angedeutet werden, vor allem,was später erschienene Fachliteratur z. B. Werkverzeichnisse, betrifft.

Das Lexikon benennt gleichermaßen Künstlerinnen und Künstler, deren Biografien und Arbeiten ihre bewusste Parteinahme für die von der herrschenden Politik angestrebte gesellschaftliche Entwicklung zum Sozialismus erkennen lassen, wie solche, die dieser gleichgültig oder ablehnend gegenüber standen. Das entspricht methodisch einer Geschichtsschreibung, die der Vielfalt und den Konflikten unterschiedlicher bis gegensätzlicher sozialer Kräfte und ideeller Positionen, wie sie zu jedem Zeitpunkt in einem Staat, einer Gesellschaft anzutreffen sind, wesentlich mehr Beachtung schenkt, als es bisher üblich war. Die Vorstellung vom Gesamtprozess der Entwicklung wird damit reicher, farbiger und differenzierter. In gleicher Weise werden die jeweiligen persönlichen Gestaltungsweisen, die nur ganz knapp charakterisiert werden können, behandelt. Sie sind stets in unterschiedlichem Grade ein Teil von übergreifenden künstlerischen Strömungen, Richtungen, Tendenzen, die im 20. Jahrhundert fast alle international verbreitet waren und hart miteinander konkurrierten.

Die Geschichte dieser Bewegungen und Auseinandersetzungen und ihre ästhetische und ethische Beurteilung, gegebenenfalls auch Verurteilung, oder die Gewichtung und Bewertung des Anteils, den ein einzelner Künstler oder eine Künstlerin am Gesamtverlauf hatten, bleibt der Forschung vorbehalten. Ein Künstlerlexikon kann dazu wertvolle Vorarbeit leisten.

Die Produktion von bildender und angewandter Kunst in allen ihren Sparten in SBZ und DDR war ein Teil der Kunstgeschichte in Deutschland. Infolge langer historischer und kultureller Traditionen gab es gemeinsame Eigenarten trotz der politischen Trennung und tiefen Gegensätze. Die DDR verstand sich als das neue Deutschland, das zunächst nur auf einem Teil des Territoriums entstehen konnte. Beide deutsche Staaten waren dabei auch künstlerisch mit europa- und weltweiten Vorgängen verflochten.

Die Fülle und Vielgestaltigkeit der im Osten Deutschlands entstandenen und rezipierten Kunst kann ebenso wenig als ein weißer Fleck auf der Landkarte der Weltkunst im 20. Jahrhundert behandelt werden, wie der soziale und politische Versuch, der hier unternommen wurde, zu einer bloßen Fußnote der Geschichte entwürdigt werden sollte. Das belegen schon die kurz gefassten Informationen, die diesem Lexikon entnommen werden können.

Raute

Personalia

Siegfried Wege

Ein Dankeschön für Peter Michel

Mit dem ICARUS-Heft 4/2008 hat Dr. Peter Michel die redaktionelle Verantwortung für unsere Publikation abgegeben. In vielen Zuschriften bedankten sich Leser und Autoren bei ihm für erfolgreiche und für vertrauensvolle Zusammenarbeit. Diesem Dank möchten wir uns anschließen.

Peter Michel ist es gelungen, uns mit der Zeitschrift eine besondere moralische Unterstützung für Selbstverständigung, Motivierung und Aktivität im politischen Alltag anzubieten. Dabei hat er die publizistischen Beiträge mit einer wirkungsvollen, bildhaft anschaulichen Gestaltung verbunden. So wurden viele vorhandene und neu geschaffene Kunstwerke zum Thema Ikarus mit entsprechenden Texten von Künstlern auf dem Rücktitel der Zeitschrift veröffentlicht unter dem Anspruch: "Trotz alledem!"

Peter Michels produktiver Umgang mit seinen eigenen Lebenserfahrungen ermöglichte ihm, der Zeitschrift gemäß dem Charakter der GBM auch ein besonderes moralisches Profil zu geben. Am 14.10.1938 in Freyburg (Unstrut) in der DDR geboren, war er nach seinem Berufsweg als Kunstpädagoge dann 1970-1974 am Institut für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED Aspirant und promovierte dort. In den VBK-DDR wurde er 1974 aufgenommen und als Mitglied des Zentralvorstandes gewählt. Der Künstlerverband hatte in der DDR ein bedeutendes sozialpolitisches Ansehen, denn die Belange der Kunst wurden vor allem durch seinen Präsidenten Prof. Willi Sitte und den 1. Verbandssekretärs Dr. Horst Kolodziej zur Sache ihrer Schöpfer selbst. Seit Beginn der 70er Jahre hatte der Berufsverband durch die breite demokratische Mitwirkung seiner Mitglieder eine besondere gesellschaftlichen Ausstrahlung, was in anderen Bereichen der DDR weniger ausgeprägt war.

1974 erhielt Peter Michel vom VBK-DDR die Aufgabe, die Zeitschrift "Bildende Kunst" als Chefredakteur zu leiten. Er gab der Zeitschrift eine höhere wissenschaftliche Qualität, ein deutliches demokratisches Profil und bewirkte eine moderne Gestaltung. Während seiner Tätigkeit für den VBK-DDR entwickelten sich persönliche Freundschaften zu vielen Künstlern und Kollegen der Kunstwissenschaft, die bis heute lebendig sind und später seine Arbeit für unseren ICARUS produktiv bereicherten. Mehr als zwölf Jahre arbeitete Peter Michel als Chefredakteur der "Bildenden Kunst" und erreichte für diese DDR-Kunstzeitschrift nationale und internationale Anerkennung. Auch mit seinen Kinderbüchern "Die Staffelei im Hühnerhof" (1981) und "Buchbilder" (1989) trat er erfolgreich für einen als Buchautor hervor.

1987-1989 wirkte Peter Michel hauptamtlich als geschäftsführender Sekretär VBK der DDR und war u. a. mitverantwortlich für die X. Kunstausstellung der DDR. Mit der politischen Veränderung in Deutschland 1989 verlor auch er - wie viele ostdeutsche Intellektuelle - durch "Abwicklung" seine Arbeit. 1990 arbeitete er noch kurze Zeit im Kinderbuchverlag Berlin als künstlerisch-technischer Leiter. Nach der Auflösung des Verlages und nach längerer Arbeitslosigkeit arbeiteten er und seine Frau Maria als freie Mitarbeiter im Münchener pb-Verlag.

Seit 1992 ist Peter Michel ein geachtetes Mitglied der GBM; seit 2003 gehört er ihrem Bundesvorstand an. Mit Aufrichtigkeit und Prinzipienfestigkeit wendet er sich gegen anhaltende Verfälschungen der DDR-Geschichte und gegen die Diffamierung ihrer Künstler. Unermüdlich prangert er die Beschädigungen und Vernichtungen von DDR-Kunstwerken als Kunstvandalismus öffentlich an. 2004 übernahm er die GBM-Verbandszeitschrift ICARUS als Chefredakteur und leistete bis zu seinem Ausscheiden aus diesem Ehrenamt qualitätsvolle Arbeit, die weit über die Tätigkeit des Kunstwissenschaftlers hinausging. Mit hohem Einsatz stellte er sich den Herausforderungen, schuf schnell ein Vertrauensverhältnis zu den Autoren und sorgte so dafür, dass diese Zeitschrift ihre gewachsenen Traditionen weiterführen und mit neuen Ideen bereichern konnte. Der ICARUS hat seine Aufgaben als Zeitschrift für soziale Theorie, Menschenrechte und Kultur konsequent weitergeführt. Die einzelnen Hefte haben zum wachsenden Ansehen der GBM beigetragen. Dabei positionierte sich Peter Michel mit anspruchsvollen eigenen Beiträgen. Auch künftig wird er sich publizistisch für die Würdigung der in der DDR entstandenen Kunst einsetzen. Seine gegenwärtigen Bemühungen als Redakteur des Lexikons "Künstler in der DDR", das 2009 erscheinen wird, gehören dazu. Mit Umsicht und vertauensvollem Kollektivbewusstsein trägt Peter Michel in der Arbeitsgruppe "Kultur" und im Freundeskreis "Kunst aus der DDR" der GBM immer wieder zur schöpferischen Arbeitsatmosphäre bei. Die Ausstellungen der GBM-Galerie mit Werken von Künstlern, die in der DDR ihren Weg begonnen haben, sowie die kulturellen Veranstaltungen der GBM werden weiterhin durch sein persönliches Wirken mitgeprägt sein.


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:
- Nils Burwitz, Porträt Peter Michel, 1988. Bleistift, 32 x 24 cm

Raute

Personalia

Stefan Bollinger

Ein unverbesserlicher Sozialist

"Wir Linken wollen es noch nicht so ganz glauben, aber wir müssen aufwachen und uns eingestehen, was heute weithin in der Welt gilt - nicht nur für den Kommunismus: Der Sozialismus ist zu einem Haufen kalter Asche geworden." Fritz Vilmar ist sich bis heute treu geblieben. Selbst fatale Analysen ändern nichts an der Notwendigkeit zu kritisieren, zu ändern, zu kämpfen. Wenn auch die Chance zum Aufrütteln und Mobilisieren schlechter geworden ist, Altersweisheit und Abgeklärtheit ist sein Ding nicht. Immer noch jugendlich ungeduldig will er Änderungen sehen, will Betroffenen Mut machen sich selber einmischen, sich zu wehren. Der christlich erzogene, vom NS-Regime abgestoßene junge Mann fand nach dem Krieg recht früh zur Arbeiterbewegung, wurde engagierter Gewerkschafter und wollte zeitgemäße politische Bildung. Die Auseinandersetzungen der 1960er Jahre, die Studentenbewegung, die Erfolge der Gewerkschaften und nicht zuletzt die sozialliberale Koalition ließen hoffen, dass Demokratie gewagt werden konnte. Beeinflusst durch Ernst Blochs konkrete Utopie wollte Vilmar immer wieder, im Unterschied zu jenen, die behaupten, eine Demokratisierung von Staat und Gesellschaft über die vorhandenen Strukturen des parlamentarischen Repräsentativsystems hinaus sei unzulässige Ausweitung dieses Prinzips auf Bereiche, die nicht "demokratisierbar" seien, zeigen, dass die Idee der Demokratie überhaupt nur als ein sich historisch weiterentwickelnder Prozess volle Realität erlangen kann.

In jedem seiner akademischen Jahrzehnte hat sich Vilmar einem charakteristischen Thema dieser notwendigen Demokratisierung zugewandt. In den 1970er Jahren war er Vorreiter einer heute immer mehr in Vergessenheit und ins Abseits gedrängten Demokratisierung der Arbeitswelt, einer konsequenten Wirtschaftsdemokratie, mit der auf dem Boden des Grundgesetzes doch ein radikaler Systemwandel erreicht werden sollte. In den 1980er Jahren entdeckte Vilmar die ökologische Frage als notwendigen Teil eines Öko-Sozialismus für sich ebenso wie die neuen sozialen Bewegungen. Als Mitglied der SPD-Programmkommission hatte er Anteil am Berliner Parteiprogramm, musste aber alsbald spüren, dass Linke auch in seiner Partei immer mehr an den Rand gedrängt wurden. Der späte Bruch mit der SPD und der Einsatz für eine neue Linke war Jahre später folgerichtig.

Von Gorbatschow begeistert, entdeckte der vehemente Gegner des dogmatischen ML und seiner politischen Ableger auch in Westdeutschland 1989/90 die nun untergehende, aber doch versucht erneuerte DDR für sich. Als einer der wenigen Westprofessoren wollte er mit gemeinsamem Lernen und Lehren an der Humboldt-Universität ernst machen und erlebte die massive Abwicklung jeden eigenständigen DDR- wie linken Denkens. Als Mitglied der Leibniz-Sozietät, als GBM-Präsidiumsmitglied wie als Wissenschaftler wandte er sich strikt gegen die soziale Liquidierung der ostdeutschen Intelligenz. In seiner kritischen Forschung zur Vereinigungspolitik führte er einen wissenschaftlichen Begriff der Kolonialisierung für die Übernahme des Ostens durch die westdeutsche politische Klasse und Wirtschaft ein, der ihm im Westen Ablehnung und bei nicht wenigen ostdeutschen Kollegen Abneigung einbrachte. Er mauserte sich immer mehr zum Kenner der DDR, ihrer Errungenschaften wie ihrer Deformationen, der weiß: Die DDR war anders. Als kritische Linke haben Vilmar und ich in diesem Buch pointiert: "Es geht hier nicht um eine Rechtfertigung des Realsozialismus in den Farben der DDR, nach dem Motto: Der Sozialismus war im Grunde gut, nur die Realisierung war fehlerhaft. Nein: Das gesamte System war nicht sozialistisch. Denn Sozialismus und Diktatur schließen sich aus!" Aber "Obwohl die sowjetisch geprägte SED-Diktatur in der DDR das Entstehen eines sozialistischen Gesellschaftssystems vereitelt hat, ist dieses Sozialsystem mit dem Etikett SED-Diktatur nicht ausreichend beschrieben; denn es gab darin trotz der Diktatur eine beachtliche Anzahl humaner sozial-kultureller Einrichtungen und Leistungen, die diese Gesellschaft mitgeprägt haben, oft sogar gegen die Absichten der SED-Führung. Und in diese Einrichtungen haben Millionen aktiver Bürger der DDR ihre Lebenskraft investiert."

Für Vilmar sind letztlich die Basisbewegungen, die unmittelbare demokratische Organisation von Arbeit und Leben, seien es Kibbuz, LPG oder attac, gerade das von ihm initiierte Projekt ÖkoLeA (Ökologisch Leben und Arbeiten) in Klosterdorf, die bleibende Hoffnung. Der Sozialismus, wie wir ihn und Ost wie West kennen gelernt haben, ist erledigt. Aber Vilmar erinnert an den mythischen Vogel Phönix, der sich aus einem Haufen Asche zu neuem Leben erhoben hat. Dieser Vogel könnte für ihn den neuen Namen commune tragen. Nur gemeinsam sind wir existenzfähig. Solidarität nicht als Luxus, sondern als Überlebensprinzip vor Ort.

Am 27. November 2008 nahm Fritz Vilmar den Menschenrechtspreis der GBM entgegen.


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:
- Prof. Dr. Fritz Vilmar

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Personalia

Friedrich Möbius

Bernhard Wächter zum Gedenken

"Eigentlich war ich ein leidenschaftlicher Pädagoge und eine poetische Natur"

Im Januar 2009, wenige Tage vor seinem 85. Geburtstag, starb der Kunsthistoriker Bernhard Wächter. Aus einer hochgebildeten, bürgerlichen Familie stammend, musikalisch begabt (Er besaß das absolute Gehör und spielte mehrere Instrumente.), künstlerisch vielseitig interessiert, wurde er in den knapp 30 Jahren seiner Lehrtätigkeit an der Jenaer Universität zu einem begnadeten Interpreten der Geschichte der Kunst und ihrer großen Persönlichkeiten. In seinen sich über zwei Jahrzehnte hinziehenden Vorlesungen für Hörer aller Fakultäten saßen seit dem Ende der 1960er Jahre regelmäßig 250-400 Studierende vor allem aus den Naturwissenschaften (der Physik und Medizin) und ließen sich von ihm in Welten führen, die in den Fachstudienplänen nicht vorgesehen waren. Ein rednerisches Urtalent - er sprach anderthalbstündig frei, ohne Manuskript - und begabt mit Sensibilität und Einfühlungskraft, faszinierte er sein Publikum auf ungewöhnliche Art. Er handelte semesterweise von Dürer, Leonardo, Rembrandt, Rubens, Goya, Picasso, Käthe Kollwitz, Hans Grundig und absolvierte damit einen Grundkurs der europäischen Malerei, der allen, die ihn erlebt haben, unvergesslich geblieben ist.

"Kunstgeschichte zu vermitteln im Wissen um die Probleme derer, die im Publikum sitzen", wie er einmal in einem Zeitungsinterview sagte, war das Geheimnis seiner Erfolge. In den Zeiten normierender und disziplinierender Persönlichkeitstheorien (und ihrer Anwendung auch an den Universitäten) erfuhren seine studentischen Zuhörer vom Glück der Selbstverwirklichung, das sich schöpferische Individuen erkämpften: vom Spielraum der Freiheit und des Wagens von Neuem. Es war das Jahrzehnt der Studentenunruhen, in dem Bernhard Wächter seine Vorlesungen entwickelte - nicht vordergründig agitatorisch, sondern von den Gegenständen her auf die Chancen und Verpflichtungen eigenständigen Handelns verweisend. Seinen zweiten großen Wirkungskreis schuf er sich in den Kulturpraktika der Jenaer Universität. Das waren obligatorische Lehrgänge zur ästhetischen Erziehung, in denen die Studierenden - wiederum aller Fachrichtungen - an schöpferisches Gestalten herangeführt wurden, gleichsam an ein Reich individueller und beglückender Freiheit. Noch heute rühmen Absolventen der Universität diese Praktika als menschliche Oasen im alltäglichen Studium.

Bernhard Wächter, spiritus rector und Leiter aller Kulturpraktika, glaubte vom Anthroposophen Rudolf Steiner her um die belebende und heilende Wirkung des Umgangs mit Formen, Lauten, Farben und Tönen zu wissen. Eurhythmie, Sprechen, Bewegung, Gebärde, Gesang würden zur geistdurchdrungenen Kommunikation, in der Kunst und Leben eine Ehe eingingen. Alle, die das praktisch erfuhren, verehren ihn noch heute als ihren Lehrer im Umgang mit geistig-sinnlichen Werten.

Die besondere Situation des Faches Kunstgeschichte in Jena - es gab keine Hauptfachstudenten mehr - hatte bei Bernhard Wächter schöpferische Potenzen auch noch auf einem anderen Feld freigesetzt. Die bildenden Künstler des Bezirkes Gera lernten ihn kennen als feinsinnigen Interpreten und Förderer ihrer Werke, als Autor von Katalogtexten, Eröffner und Führer ihrer Ausstellungen, nicht zuletzt als Verteidiger gegen unangemessene Anforderungen. Mein Kollege Bernhard Wächter, neben dem ich ein ganzes Berufsleben verbracht habe, erwies sich auch hier als ein Kulturpolitiker von Rang, der die offene Auseinandersetzung mit den Instanzen nicht scheute. In einem Interview von 2005, das der Historiker Matthias Steinbach mit ihm führte, ist nachzulesen, welche peinlichen Vorgänge sich beim Bau des Jenaer Universitätshochhauses, des Turms, abspielten und welche Position bei der Verhinderung des Allerschlimmsten dabei der Kunsthistoriker einnahm. Im gefährlichen Widerstand gegen den eigenen Rektor wurde er buchstäblich zum Retter des Collegium Jenense, des ältesten architektonischen Denkmals der Jenaer Universitätsgeschichte.

Das schon genannte Interview von 2005, das er nach einer langwierigen Gehirnoperation und bereits von Parkinson gequält gab, ist in seiner geistigen Frische und Klarsichtigkeit das wohl bewegendste schriftliche Dokument seines Lebens. Er wird im lebendigen Gedächtnis aller derer bleiben, die seinen Lebensweg begleiten durften.


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:
- Prof. Dr. Bernhard Wächter 25.01.1924 - 21.01.2009

Raute

In eigener Sache

Leserbriefe? Es gibt in dieser ICARUS-Ausgabe keinen. Dabei lagen ja welche im Posteingang. Aber ist es sinnvoll, einen Brief vom Januar, in dem ein Termin in der Mitte des März angekündigt wird, noch zu veröffentlichen?

Oder ein Brief, der ebenfalls im Januar kam: Er war im Februar dann schon im ND zu lesen. ICARUS erscheint vierteljährlich. Das macht schnelles Reagieren unmöglich.

Aber Leserbriefe hätten wir trotzdem gern. Trotz alledem.

K.P.

Raute

Rezensionen

Gerhard Fischer

Gab es das? Die verpasste Chance?

Siegfried Prokop (Hrsg.): "Der versäumte Paradigmenwechsel. 'Spiegel-Manifest' und 'Erster Deutscher im All' - die DDR im Jahr 1978" (Schriften der Rosa-Luxemburg-Stiftung Brandenburg e.V., Band 2). Schkeuditzer Buchverlag, 2008. 456 S., brosch., ISBN 978-3-935530-73-6, 20,00 €

1978 war das Jahr, in dem für die DDR ein Paradigmenwechsel in Politik und Gesellschaft angezeigt war; der jedoch wurde versäumt. Diese Hypothese stand 30 Jahre später am Beginn eines zweitägigen Kolloquiums der Potsdamer Rosa-Luxemburg-Stiftung (jetzt erschien der Protokollband); denn 1978 "war das letzte Jahr" - so Siegfried Prokop, ihr Vorsitzender, in seinem einleitenden Referat -, "das durch eine Vorwärtsentwicklung gekennzeichnet war. Ab 1979 lebte die DDR auf Kosten der Substanz." Alternativen zum "autoritären Sozialismus", so führte er unter Hinweis auf das ab 1978 praktizierte Modell einer "sozialistischen Marktwirtschaft" in der VR China aus, hätten darin bestanden, das Neue Ökonomische System der Planung und Leitung wieder aufzunehmen und "im Feld der Politik an die Reformkonzepte von 1956 (Janka, Just und Harich) bis 1977/78 (Bahro, von Berg und Behrens)" anzuknüpfen.

Vor allem Hermann von Bergs "Demokratischer Kommunismus" - umrisshaft zu entschlüsseln aus seinem "Manifest", das Anfang 1978 ein vorgeblicher "Bund Demokratischer Kommunisten Deutschlands" im Hamburger "Spiegel" publizierte - geriet zeitweise ins Zentrum der Debatten auf der Potsdamer Tagung. Das dortige Auftreten Prof. von Bergs und sein nachträglich eingereichtes Statement trugen, wie mir scheint, nicht so sehr viel Neues und Erhellendes über Wesen und Ziel seines Bestrebens bei. Nicht ganz grundlos nannte die Moderatorin Ingrid Zwerenz sein Referat "eine geballte Ladung, die hier auf uns niederprasselte", und er selber räumte ein, sein "Manifest" als "Erklärung des Bundes - den es im organisatorisch geläufigen Sinne nicht gab - sei nichts weiter als ein agitatorischer, bis zum Pasquill getriebener Paukenschlag" gewesen. Ludwig Elm, einer der Korreferenten, hatte wohl nicht Unrecht, wenn er das Papier und das Echo, das es seinerzeit hüben und drüben auslöste, eine "skurrile deutsch-deutsche Episode" nannte.

Gemessen am Umfang des Diskussion darüber trat das andere Ereignis, an dem der Untertitel der Konferenz den Platz jenes Jahres in der DDR-Geschichte markieren wollte, nämlich Sigmund Jähns Teilnahme an einem sowjetischen Weltraumflug, im Verlauf des Symposiums merklich zurück. Stattdessen aber erfährt der Leser des gedruckten Tagungsberichts aus sachkundigem Mund viel Interessantes etwa über DDR-Parteien, so von Werner Wünschmann über die CDU, von Wilfriede Otto über die SED, von Manfred Bogisch über die LDPD, oder über Teilbereiche des damaligen gesellschaftlichen Lebens in der DDR: von Leonore Krenzlin über die Literatur, von Peter Arlt über die bildende Kunst, von Jörg Roesler über die Industrie, von Edith Ockel über das Gesundheits- und Sozialwesen, von Siegfried Kuntsche über die Landwirtschaft, von Reinhard Brühl über die Landesverteidigung. Das sind Mosaiksteine für eine künftige, dem Gegentand gemäße DDR-Geschichte. Bemerkenswert auch, wie Detlef Nakath das Auf und Ab in den deutsch-deutschen Beziehungen während jener Phase nachzeichnet.

Zurück zum Grundthema des Meinungsaustausches in Potsdam: Nicht so recht einig waren sich die Referenten darüber, was eigentlich die Kriterien für einen "Paradigmenwechsel" sind. Die anspruchsvollste Definition lieferte Hans-Christoph Rauh, der Philosoph: "ein weltgeschichtlich-neuzeitlich wirklich epochaler Einschnitt und Umbruch, fast alles auf den Kopf stehender Wechsel". Bescheidener die Moderatorin Regina General: "Veränderung bestimmender Parameter einer Gesellschaft ... bei unveränderter Beibehaltung der Ziele, die die regierende Partei verfolgt", es gehe also "um eine andere Methodik, eine andere Laufgeschwindigkeit, einen anderen Umgang mit den Problemen einer Gesellschaft". Kuntsche wiederum gebraucht offenbar lieber die Vokabel "Kurswechsel", die dem allgemeinen Sprachgebrauch auch eher entspricht. Mit dem altgriechischen "paradeigma" hat ja, nebenbei bemerkt, das Modewort "Paradigma" in der Bedeutung nur noch wenig gemein. Wichtiger ist da wohl die Frage, ob in der DDR des Jahres 1978 ein "Paradigmenwechsel" überhaupt möglich gewesen wäre. Reinhard Brühl, der General a. D., gibt in seinem Beitrag eine militärisch bündige Antwort: "Für die DDR allein" - sprich: ohne die "Bruderländer", gar gegen die Sowjetunion - "hätte deren Führung einen solchen Wechsel überhaupt nicht bewerkstelligen können." Was bleibt dem noch hinzuzufügen?


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Rezensionen

Hans Dahlke

Frieden und Freiheit für das Volk von Palästina

Felicia Langer "Um Hoffnung kämpfen". Was die Alternative Nobelpreisträgerin bewegt, Lamuv-Verlag, Taschenbuch 345, Göttingen 2008, ISBN 978-3-88977-688-4, 144 Seiten, 9,90 €

Das nunmehr 13. Buch von Felicia Langer ist von besonderer Faszination. Es ist ein scheinbar loses Nebeneinander von Reden, Interviews, Ehrungen, Berichten über Protestaktionen, Auftritten, durchgestandenen Hetzkampagnen, anrührenden Schilderungen vom Zusammensein in der Familie und mit Freunden. Daraus entsteht jedoch ein komplexes Bild vom Kampf des palästinensischen Volkes um Gerechtigkeit und Freiheit in seiner historischen und aktuellen Dimension. Darin eingebettet ist der jahrzehntelange Kampf der Felicia Langer für die Rechte des palästinensischen Volkes. Als erste israelische Anwältin verteidigte sie angeklagte Palästinenser gegen Israels Justiz, setzte sich damit großen Anfeindungen aus.

Allen Rückschlägen und schlechten Erfahrungen zum Trotz verlor sie nicht den "Traum vom wirklich großen Frieden". Das ist für sie ein Frieden, in dem die Palästinenser frei und unabhängig in einer sicheren Heimat leben, indem sie mit den Israelis freundschaftlich verbunden sind, und die Kinder keine Angst mehr vor Kriegsgefahren und militärischer Gewalt haben müssen. So utopisch dieses Ziel gerade im Zusammenhang mit den aktuellen Ereignissen des Gaza-Krieges klingt, Felicia Langer hat durch ihr Leben und ihre Haltung den Schlüssel für die Erreichung dieses Ziels gezeigt. Obwohl sie selbst und ihr Mann schlimmstes Unrecht bei den deutschen Faschisten erleiden mussten, ist ihre Schlussfolgerung nicht dauernder Hass, sondern Kampf gegen neues Unrecht. Sie prangert ihren eigenen Staat Israel wegen seiner jahrzehntelangen Besatzungs-, Unterdrückungs- und barbarischen Kriegspolitik gegenüber dem palästinensischen Volk an. Sie verteidigt die Besiegten, Vertriebenen, Enteigneten und Gequälten. Ihre Menschenliebe lässt sie für Menschenwürde und Menschenrechte tätig sein. Dabei bleibt sie nicht einseitig in ihrem Urteil. Sie verurteilt ebenso die Untaten einzelner Palästinenser, auch den Beschuss israelischer Städte und Wohngebiete durch Kassamraketen. Sie nennt jeden Angriff auf Zivilisten völkerrechtswidrig. Dabei darf nicht vergessen werden, dass jahrzehntelang andauernde Gewalt, Repression und Unterdrückung Verzweiflungstaten hervorrufen.

(Diese objektive Position unterscheidet sich diametral von der der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel, die nach Beginn des Krieges gegen Gaza einseitig Schuld und Verantwortung der Hamas zusprach.)

Der Einsatz von Felicia Langer für universelle Menschenrechte - gerade in dem umstrittenen Nahost-Konflikt - war ausreichend Anlass für öffentliche Anerkennung und Ehrungen. So erhielt Felicia Langer 1990 den Alternativen Nobelpreis, 1991 den Bruno-Kreisky-Preis, 2005 den Erich-Mühsam-Preis und andere Ehrungen. Auch die Gesellschaft zum Schutz von Bürgerrecht und Menschenwürde (GBM) trug ihr ihren Menschenrechtspreis an, der seit 1996 jährlich zum Tag der Menschenrechte am 10. Dezember an Personen verliehen wird, die sich um Menschenrechte und Frieden verdient gemacht haben. Felicia Langer nahm den Preis gern von einer Organisation an, in der sie Verbündete und Gleichgesinnte im Kampf um Menschenrechte und Frieden sah. Professor Wolfgang Richter, Bundesvorsitzender der GBM, nannte sie bei der Verleihungsveranstaltung am 11.12.2006 eine Große an Menschlichkeit, Engagement und Charakter, die mit ihren Büchern, Artikeln und Reden weltweit die Wahrheit über die Lage der Palästinenser verbreitet hat. Für die GBM war die Annahme ihres Menschenrechtspreises durch Felicia Langer eine große Ehre.

Die Frage, woher diese kämpferische Frau, die sich der Vollendung des achten Lebensjahrzehnts nähert, ihre Kraft und Motivation für ihre öffentlichen Aktivitäten nimmt, wird in dem vorliegenden Buch überzeugend beantwortet. Ihr selbst erlittenes Unrecht, ihre Empörung über das Schicksal der Palästinenser sind ein starkes Motiv ihres Kampfes. Zugleich wird sie durch die Einbindung in andere Friedenskampforganisationen (Kasseler Friedensratschlag, Attac, Pax Christi) gestärkt, auch durch die Solidarität Gleichgesinnter, wie eben der GBM.

Vor allem wird aber in dem Buch auf rührende Weise deutlich, welch unerschöpflicher Kraftquell Familie und Freunde in Tübingen, wo sie seit 1990 lebt, für sie bedeuten. Da sind die Feiern mit Blumen, gutem Essen, Freundlichkeit und Humor; da ist die Liebe zu ihrem Mann Mieciu (nun schon länger als 50 Jahre), die liebevolle Hinwendung zu Sohn, Schwiegertochter und Enkeln. Immer wird aber auch deutlich, wie der persönliche Kreis sich nicht selbst genügt, sondern mit dem öffentlichen Wirken für Gerechtigkeit und Menschenwürde untrennbar verbunden ist. Noch ist kein Frieden. "Ich werde es nicht mehr erleben", sagt Felicia Langer. Aber sie mahnt uns: "Um Hoffnung kämpfen". Und sie macht uns das Kämpfen vor.

Es gibt gute Gründe, dieses Buch zu lesen.


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Rezensionen

Siegfried Prokop

Mein Leben. Mein Chef Ulbricht

Meine Sicht der Dinge. Erinnerungen

Herbert Graf Berlin 2008, edition ost

Herbert Graf arbeitete von 1954 bis 1971 mit und für Walter Ulbricht. Diese Zeit, die zugleich die Zeit des Aufstiegs und der Blüte der DDR war, rückt der Verfasser in den Mittelpunkt seiner Berichterstattung. Sein Leben davor und danach wird nicht ausgespart. Von allgemeinem Interesse dürfte sein, dass Graf in den 70er und 80er Jahren als Lehrstuhlinhaber für Staatsrecht junger Nationalstaaten an der Akademie für Staat und Recht in Potsdam-Babelsberg und als Regierungsberater in Mocambique, Angola, Äthiopien und anderen Staaten auf drei Kontinenten arbeitete. Seine Erinnerungen sind durch Archivquellen und durch die kritische Kenntnisnahme der zeitgeschichtlichen Literatur gestützt. Seine Aussagen zu wichtigen Zäsuren der DDR-Geschichte erhalten nicht nur dadurch Gewicht, dass sie von einem exklusiven Zeitzeugen stammen, sondern auch durch quellengestützte historisch-kritische Verarbeitung. Die Krise des 17. Juni 1953 erlebte er noch als Student der Hochschule für Ökonomie in Berlin. Graf polemisiert gegen die häufig aufgestellte Behauptung, diese Krise sei "hausgemacht" gewesen. Er wendet dagegen ein, dass die heute verfügbaren Dokumente beweisen, dass die Sowjetische Kontrollkommission die Führungsorgane der DDR zu den einschneidenden Maßnahmen im Vorfeld des 17. Juni veranlasst hätten. Auch meint er genügend Dokumente zu kennen, die den Widerstand von Wilhelm Pieck, Walter Ulbricht und Otto Grotewohl gegen überzogene Forderungen der sowjetischen Seite belegen. Er hätte ferner darauf hinweisen können, dass in der Volksrepublik Polen auf sowjetischen Druck es sogar zu einer administrativen Normerhöhung von 20 % kam (in der DDR waren es 10 %) und ein "Neuer Kurs" auf sowjetische Veranlassung auch in der CSR begonnen werden musste. Einen anderen Aspekt sieht Graf in der sowjetischen Bereitschaft, im Mai/Juni 1953 bezüglich der deutschen Einheit mit den Westmächten zu einem Handel zu kommen. In dieser Hinsicht bleibt er noch zu sehr der Chruschtschowschen Sicht eines "Berija-Plans" verhaftet. In der Tat hatten die Nachfolger Jossif W. Stalins (und keineswegs Berija allein) als Antwort auf Winston Churchills Rede vom 11. Mai 1953 eindeutige Signale für ein Einlenken in der deutschen Frage gegeben:

- Die Auflösung der SSK und die Einsetzung des Hochkommissars (auch in der Bundesrepublik waren die Alliierten durch Hochkommissare vertreten) Waldimir S. Semjonow Ende Mai.

- Die Anweisung von Anfang Juni, den Aufbau des Sozialismus in der DDR zurückzunehmen.

- Die von der sowjetischen Botschaft organisierte Demonstration der Bauarbeiter vom Strausberger Platz zum Haus der Ministerien am 16. Juni, die den Sturz der Regierung Grotewohl auslösen und die Etablierung einer bürgerlichen DDR-Regierung unter Hermann Kastner ermöglichen sollte.

Dieses Vorhaben gelang nicht. Die Bauarbeiter-Demonstration konnte nicht mit der Mitteilung Fritz Selbmanns, die administrative Normerhöhung sei zurück genommen worden, beendet werden. Im Gegenteil, die Arbeiterproteste waren nicht mehr zu besänftigen. Die Szenerie lief vollends aus dem Ruder. Die DDR war dem Westen plötzlich keinen "Kaufpreis" mehr wert. Graf nennt zutreffend den ins Auge gefassten Betrag von 10. Mrd. $. In Moskau kam es in der Nacht zum 17. Juni zum erbitterten Machtkampf unter den Nachfolgern Stalins. Mit der Verhängung des Ausnahmezustands am 17. Juni war in Moskau eine Entscheidung gegen den Verkauf der DDR gefallen. Nach der Verhaftung Lavrentij P. Berijas am 26. Juni 1953 wurde diesem die ganze Schuld für die misslungene Deutschland-Politik vom Mai/Juni 1953 in die Schuhe geschoben. Richtig ist die Beobachtung Grafs, dass es sich bei Kastner um einen Agenten des Gehlen-Dienstes der Bundesrepublik handelte. Kastner war zwar 1950 aus der LDP ausgeschlossen worden, weil er Wahlen auf der Basis von Einheitslisten ablehnte, konnte aber nach kurzer Unterbrechung seine Karriere als Vorsitzender des Förderungsausschusses für die deutsche Intelligenz fortsetzen. Mitglied der LDP, wie Graf behauptet, war er aber nicht wieder geworden.

Graf kam nach dem Studium im Alter von 24 Jahren in die Regierungskanzlei. Gleich zu Beginn seiner Tätigkeit lernte er einen der löblichen Charakterzüge Walter Ulbrichts kennen. Am 7. Oktober 1954 war dieser mit dem Vaterländischen Verdienstorden in Gold ausgezeichnet worden. Den mit der Auszeichnung verbundenen Geldbetrag in Höhe von 10.000,00 Mark stellte er einem sozialen Zweck zur Verfügung. In einem Frauenbetrieb sollte ein Kindergarten eingerichtet werden. Graf fand mit der Schuhfabrik "Banner des Friedens" in Weißenfels einen geeigneten Betrieb. Jahre danach erhielt Graf einen ähnlichen Auftrag im Zusammenhang mit einer Auszeichnung Ulbrichts. Dieses Mal fiel die Wahl für einen neuen Dorfkindergarten auf die LPG Halenbeck im Kreis Pritzwalk. Da Ulbrichts Zeit sehr bemessen war, nahm Graf an der "Oktoberfeier" zur Einweihung des Kindergartens teil.

Ausgiebig beschäftigt wurde Graf mit Eingaben der Bürger und Fragen der Umsiedler und der Übersiedler. Als besonders kompliziert erwiesen sich für ihn all die Bürgeranliegen im Zusammenhang mit Verhaftungen durch sowjetische Besatzungsorgane. Über Jahre hinweg seien sowjetische Behörden nicht bereit gewesen, über derartige Angelegenheiten Auskunft zu geben. Ulbricht habe deshalb einen Brief an das ZK der KPdSU geschrieben. Die Intervention hatte Erfolg.

Ein sowjetisches Tabu wurde gebrochen, und vielen Familien konnte geholfen werden. Auf die Frage, warum Ulbricht diese Initiative nie publik machte, antwortet Graf: "Publizität hätte künftige Lösungen erschwert, wenn nicht gar ausgeschlossen. Ulbrichts Politikverständnis war gestaltungsorientiert." Ein interessantes Detail, das allgemein in Vergessenheit geriet, hält Graf zur Erinnerung an die DDR-Bürger fest, die bis zum Mauerbau in den Westen geflüchtet waren. Sie durften 1963 an der Volkskammerwahl der DDR teilnehmen. Trotz zahlreicher Fehl- und Falschinformationen aus Bonn beteiligten sich 28.119 in der Bundesrepublik lebende DDR-Bürger an den Volkskammerwahlen. Ein Höhepunkt für Grafs Tätigkeit an der Seite Walter Ulbrichts war der Volksentscheid im Jahre 1968, in dem jeder Bürger mit einem Ja oder Nein votieren musste. 94,6 % der wahlberechtigten Bürger gaben der neuen Verfassung ihre Zustimmung.

Ulbrichts Hochschätzung für die Volkskammer kam darin zum Ausdruck, dass er viele seiner Grundsatzreden im Plenum hielt. Erich Honecker hat dagegen in den etwa 20 Jahren seiner Amtszeit nur eine kurze Erklärung zur Verfassungsänderung im September 1974 und im Oktober 1976 die Eidesformel zur Wahl als Staatsratsvorsitzender in der Volkskammer gesprochen. Honecker habe in zunehmendem Maße alle Entscheidungen im SED-Politbüro konzentriert. Die führende Rolle der Partei sei durch Bevormundung ersetzt worden.

Abschließend sei auf eine These hingewiesen, die der weiteren Diskussion bedarf. Graf sieht die Krise 1989 nicht in erster Linie als das Resultat der führenden Rolle der SED an. Vielmehr scheint ihm die Schwäche der SED - ihre nicht mehr gegebene Fähigkeit, die Führungsrolle wahrzunehmen - das Problem zu sein.


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Rezensionen

Georg Grasnick

Als Zeitzeugen erlebt

Horst Jäkel (Hrsg.): "DDR - unauslöschbar", 467 Seiten, Hardcover, GNN Verlag 2008, ISBN 978-3-89819-283-5, 20,00 €

74 Prozent der Ostdeutschen halten den Sozialismus für eine gute Idee, konstatiert der "Datenreport 2008" des Statistischen Bundesamtes.

Der Sozialbericht der Bundesregierung registriert das Ansteigen der Armutsquote in Ostdeutschlandvon 2001 bis 2006 von 15,3 auf 22,7 Prozent.

An deutschen Unis konstituieren sich weitere Lesekreise, um "Das Kapital" von Marx zu studieren. Drei Nachrichten an einem Tag. Für die CDU-Zentrale noch mehr Grund, angesichts der sich vertiefenden Systemkrise des Kapitalismus und mit Blick auf die bevorstehenden Bundestagswahlen sowie der Gedenktage der Jahre 2009 und 2010 (Gründung der DDR vor 60 Jahren, "Maueröffnung" vor 20 Jahren, Anschluss der DDR vor 20 Jahren), zum Kreuzzug gegen die Idee des Sozialismus zu blasen und die vergangene DDR in einer regelrechten Delegitimierungsflut endgültig untergehen zu lassen. In einem 1180 Zeilen umfassenden Rahmenplan der CDU werden alle Errungenschaften der Werktätigen der DDR, die auf den verschiedenen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens erzielt wurden, diskreditiert bzw. in Frage gestellt. Die DDR soll, wie das CDU-Papier fordert, nicht nur als ein "Regime" verketzert werden, das in einer "dramatischen Verschuldung" versank, "1,4 Millionen Arbeitslose" versteckte und Leistungen der Sozialpolitik im wesentlichen nur durch "Schulden im westlichen Ausland" habe ermöglichen können. Es seien vor allem "Millionen Menschen schikaniert, kriminalisiert oder sogar getötet" worden! Entsprechend der Totalitarismus-Doktrin sollen mit der Gleichsetzung von Hitlerfaschismus und "SED-Diktatur" stärker noch als bisher die Verbrechen des Faschismus relativiert, ja verdrängt werden.

Das CDU-Konzept soll "zentraler Inhalt des Schulunterrichts in ganz Deutschland" werden. "Mehr Gewicht in den Medien für die Aufarbeitung der DDR-Geschichte" wird erwartet. Zynischerweise ist dieser Kreuzzugsplan mit den Worten überschrieben "Geteilt. Vereint. Gemeinsam. Perspektiven für den Osten Deutschlands"!

Angesichts solcher geschichtsverfälschenden Delegitimierungswut ist es nicht hoch genug einzuschätzen, dass Horst Jäkel im Auftrag der Unabhängigen Autorengemeinschaft "Als Zeitzeugen erlebt" ein weiteres, das vierte Buch in dieser Reihe herausgegeben hat. Der Band "DDR - unauslöschbar" erfüllt, wie seine Vorläufer, die verpflichtende Aufgabe, die historische Wahrheit über den ersten sozialistischen Staat in der deutschen Geschichte zu verbreiten.

Die herrschenden Kreise in der BRD und ihre politischen Repräsentanten können nicht verwinden, dass es den Konzernen vier Jahrzehnte lang auf dem Gebiet der DDR verwehrt war, sich am Schaffen der arbeitenden Menschen gesundzustoßen. Weil die DDR, wie Dr. Kurt Gossweiler feststellt, "eben nicht das kapitalistische Privateigentum und die Entscheidungsautonomie der Privatunternehmer respektierte, sondern jahrzehntelang bewies, dass es auch ohne Kapitalisten geht, ja sogar besser geht, weil ohne Wirtschaftskrisen und Arbeitslosigkeit".

Etwa 70 Zeitzeugen aus den verschiedensten Schichten der Bevölkerung berichten aus ihrem Leben, von ihren Erfahrungen in der DDR, bemüht, "Geschichte so darzustellen, wie sie verlaufen ist", nichts beschönigend. Denn "nur aus einer vorurteilsfrei betrachteten und ausgewogen beurteilten Vergangenheit lassen sich die nötigen Lehren für Gegenwart und Zukunft ziehen", so Prof. Gerhard Fischer.

Jürgen-Peter Schultz spricht so vielen aus dem Herzen, wenn er schreibt, "im Gegensatz zu heutigen Zuständen hatte jeder, der es wollte, eine reelle Chance, je nach seinen Fähigkeiten und Möglichkeiten etwas aus seinem Leben zu machen".

Von der "unentgeltlichen, allen zugänglichen gesundheitlichen Versorgung" ist die Rede in einem Beitrag von Dr. Eckhard Wetzstein, in dem Erfahrungen des auf dem Solidarprinzip und sozialistischen Eigentumsverhältnissen beruhenden DDR-Gesundheitswesens vermittelt werden. Aufschlussreich auch die Darlegungen von Edith Ockel über das erfolgreiche Ringen der DDR-Frauen um die Durchsetzung ihrer Selbstbestimmung durch Beseitigung des Paragraphen 218.

Bewegend die Erinnerungen an die von der DDR geübte internationale Solidarität, hier vor allem demonstriert am solidarischen Handeln gegenüber dem vom schmutzigen USA-Krieg betroffenen Vietnam und mit Laos. Wie wahr auch die Feststellung des ehemaligen NVA-Offiziers, dass "der größte Nutzen der Existenz der DDR war, dass 40 Jahre lang von deutschem Boden kein Krieg ausging".

Übrigens: In dem "Datenreport 2008" des Statistischen Bundesamtes wird festgestellt, nirgendwo sonst in Europa werde die Zukunft so pessimistisch gesehen wie in der Bundesrepublik. Und da sollen sich die ehemaligen DDR-Bürger für vier Jahrzehnte ihres Wirkens beim Aufbau des Sozialismus entschuldigen?

Gerlind Jäkel vertritt mit Recht die Meinung, dass die Ziele der DDR gut waren, "auch wenn uns manches nicht gelungen ist". Weshalb also sollten wir uns und "bei wem eigentlich - entschuldigen, weil wir Menschenwürde, Solidarität und vor allem Friedenspolitik - eben sozialistische Ziele durchzusetzen versuchten?"


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Rezensionen

Peter Michel

Visionär

Günter Vogler (Hrsg.): "Thomas Müntzer in der Erinnerungskultur. Das Beispiel bildende Kunst", Thomas-Müntzer-Gesellschaft e.V., Mühlhausen 2008, 198 Seiten, brosch. mit zahlreichen Abb., ISBN 3-935547-24-2, 11,00 €

In den Unterrichtshilfen, die der bayerische pb-Verlag für Geschichtslehrer herausgibt, findet der Bauernkrieg ohne Thomas Müntzer statt; er fehlt dort ebenso wie z. B. die preußischen Reformer, die im Kampf gegen die napoleonische Fremdherrschaft eine wesentliche Rolle spielten. Man mag einwenden, Geschichtsbetrachtung in der Schule müsse - um anschaulich zu sein - regional bezogen vermittelt werden. Doch schnell wird aus dem regionalen Bezug Provinzialismus, und Persönlichkeiten von nationaler Bedeutung verschwinden aus dem Gesichtsfeld. Nach 1989 wurde es auch im Osten Deutschlands stiller um Thomas Müntzer. Was in der DDR hier und dort an Gutem zuviel getan worden war, um Müntzer als prägende Figur nationaler Geschichte und revolutionärer Traditionen ins Bewusstsein zu rücken, kehrte sich nach der "Wende" oft ins Gegenteil. Und es gab nicht wenige Versuche, sein Andenken zu verdrängen.

Seit dem Jahr 2000 gibt die Thomas-Müntzer-Gesellschaft Mühlhausen eine verdienstvolle Schriftenreihe mit bisher zehn Broschüren heraus, die Ergebnisse der Thomas-Müntzer-Forschung vorstellt. Anlässlich des 50. Jahrestages der Übergabe von Will Lammerts Thomas-Müntzer-Denkmal an die Stadt Mühlhausen veranstaltete diese Gesellschaft am 12. Mai 2007 ein Kolloquium über die bildkünstlerische Reflexion der Persönlichkeit und des Wirkens Müntzers. Das Ziel bestand darin, einen Beitrag zur wissenschaftlichen Aufarbeitung des in Werken der bildenden Künste präsenten Müntzer-Bildes zu leisten, das bisher fragmentarisch war. Die Ergebnisse dieses Kolloquiums sind - bereichert durch zusätzliche Manuskripte - in der Schrift Nr. 10 zusammengefasst.

In einem beeindruckenden Beitrag, der einen weiten Bogen schlägt, fasst der Herausgeber Günter Vogler Darstellungen Thomas Müntzers in den bildenden Künsten zusammen: von der ersten Müntzer-Darstellung Christoffel van Sichems von 1606/08 bis in die Gegenwart - als Graphik, Gemälde, Buchillustration, Wandbild, Plastik usw. Die Fülle der Beispiele zeigt, wie viele Künstler ihre Sicht auf Thomas Müntzer und seine Zeit - und auf das Wirken seiner Ideen bis in die Gegenwart - deutlich machten. Zu den bekanntesten gehören Karl Rössing, Rudolf Grapentin, Karl Völker, Lea Grundig, HAP Grieshaber, Lutz R. Ketscher, Armin Münch, Magnus Zeller, Bert Heller, Heinz Zander, Werner Tübke, Volker Stelzmann, Gertrude Degenhardt, Henry Deparade, Gabriele Mucchi, Klaus-Michael Stephan, Jürgen Raue, Klaus F. Messerschmidt u. a. Gerade aus dieser Vielfalt wird deutlich, wie sehr die Erinnerung an Thomas Müntzer das bildkünstlerische Denken und Gestalten prägte. Ein alphabetisches Verzeichnis im Anhang nennt 85 bekannte und fünf unbekannte deutsche Künstler mit teilweise umfangreichem Werkverzeichnis zum Thomas-Müntzer-Thema; und ein chronologisches Verzeichnis verfolgt die Entstehung solcher Arbeiten von 1795 bis 2002. Diese Forschungsergebnisse nötigen Respekt ab. Dabei ist dem Autor bewusst, dass es auch in Zukunft Neues zu entdecken gibt.

Peter H. Feist, Nestor der Kunstwissenschaft der DDR, widmet seinen Aufsatz Will Lammerts Müntzer-Denkmal. Klaus F. Messerschmidt reflektiert - auch mit Tagebuchnotizen - über den komplizierten Arbeitsprozess an seinem Thomas-Müntzer-Denkmal für Stolberg/Harz, über seinen Liebeslustaltar in der Marienkirche Sangerhausen und seine Große Kreuzigungsgruppe vor roter Wand in der Merseburger Neumarktkirche. Der Historiker Rolf Luhn analysiert den Entstehungsprozess der Skulpturengruppe Klaus-Michael Stephans in der Mühlhäuser Marienkirche. Die Historikerin Monika Lücke beschäftigt sich in einem umfangreichen Aufsatz mit dem Bildnis Thomas Müntzers auf Medaillen, Geldscheinen und Münzen. Peter Franz, evangelisch-lutherischer Pfarrer im Ruhestand, berichtet warmherzig von der Übergabe eines vom Weimarer Maler und Keramiker Eberhard Heiland geschaffenen Müntzer-Standbildes an das Gemeindezentrum Kapellendorf. Und schließlich analysiert der Theologe Siegfried Bräuer zwei bisher unbekannte Gemälde des Malers Heinz Dörffel. Allen, die sich für die verdienstvolle Arbeit der Thomas-Müntzer-Gesellschaft und ihre Ergebnisse interessieren, seien dieses Heft und diese Reihe dringend empfohlen.


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Rezensionen

Werner Krecek

Tief bewegende Dokumentation

Zum Film "Ich will da sein" - Jenny Gröllmann

Jenny war immer Jenny, im Leben, in ihren Rollen, unter Freunden, privat - so etwa charakterisiert Michael Gwisdek Jenny Gröllmann. Und Jaecki Schwarz denkt laut über sie, sie wäre nie gehend hereingekommen, sondern schreitend, nicht Dame, sondern eher wie eine Erscheinung. Nur zwei von Aussagen ihrer Kollegen und Filmpartner. Andere, nicht weniger bewundernd, kommen von Henry Hübchen, Hermann Beyer, Uwe Kockisch. Auf ihre eigene Art sprechen sie langsam, mit langen Pausen, in denen sie überlegen, Worte wählen, den Zuschauer quasi in die Gedankengänge hineinziehend. Damit sind sie - wie die Worte auch anderer Zeugen, z. B. von Verwandten und dem letzten Ehemann - ein Charakteristikum des Films, eines wunderbaren Denkmals: Der Zuschauer soll aktiv teilnehmen an der tragischen Geschichte einer großen Schauspielerin - mitdenkend und mitfühlend.

"Ich will da sein" ist eine tief bewegende Hommage á Jenny Gröllmann, einer einmaligen Persönlichkeit. Die westdeutsche Regisseurin Petra Weisenburger hat sie die letzten beiden Jahre ihres Lebens begleitet und wurde dabei ihre Freundin. Sie schuf eine einfühlsame Dokumentation von fast hundert Minuten, deren Botschaft sich niemand entziehen kann. Künstlerisch Bedeutsames ist entstanden.

Zu erleben ist die Gröllmann in vielen Perioden und Ebenen ihres Daseins - von der jugendlich Schönen bis in ihre letzten Tage, von den vielen Rollen in Gegenwartsfilmen der DEFA und des Deutschen Fernsehfunks, bei Aufgaben in historischen Streifen, aber auch in Gesprächen auf einer Parkbank, entspannt in häuslicher Umgebung, in der Küche, schließlich bei Monologen, Selbstzeugnissen, gesprochen allein am unendlich wirkenden Ostseestrand.

Ein bedeutendes Wirkungselement sind natürlich Filmausschnitte. Sie sind als Beweise von Jenny Gröllmanns Vielseitigkeit nicht schlechthin gut gewählt und montiert - sie beziehen ihre Wirkung vor allem daraus, dass sie stets Bildbeweise für die jeweilige Aussage zur Persönlichkeit des Menschen Gröllmann sind, sozusagen ein Stück lebendige Individualität.

Kleine Auswahl der Ausschnitte: "Ich war neunzehn" mit Jaecki Schwarz, "Broddi" mit Christian Grashoff, "Hälfte des Lebens" mit Ulrich Mühe, "Kennen sie Urban?", "Geschichten jener Nacht", "Dein unbekannter Bruder", schließlich "Liebling Kreuzberg" mit Manfred Krug. Und auch hier ist der Film ehrlich, lässt die Schauspielerin erklären, warum sie, die nie etwas von Serien hielt, sich dieser Aufgabe stellte. Vielleicht in der Ahnung, dass es ihre letzte sein könnte, vor allem aber - und das bekennt sie - die Qualität der Drehbücher: Autor war Jurek Becker.

Ein weiteres Wirkungselement dieses berührenden, bewegenden Porträts ist der Einsatz der Musik - Teile aus Filmmusiken, darunter an verschiedenen Stellen wiederkehrend aus "Ich war neunzehn", Motive aus klassischen Werken, sparsam eingesetztes Neues - alles stets professionell gehandhabt.

Ein Film über Jenny Gröllmann und ihr Sterben kann nicht an der Schlammschlacht vorbeigehen, die, entfacht von Ulrich Mühe und der Bildzeitung, die letzten Monate ihres Lebens überschattete. Und auch hier leistet der Film Eindeutiges, lässt den Zuschauer teilhaben an ihren Überlegungen, ob sie sich überhaupt in die Niederungen begeben solle und warum sie es trotz aller Zweifel auch juristisch tat, lässt Zeugen sprechen, die eindeutig nachweisen, dass der IM-Verdacht völlig aus der Luft gegriffen war. Petra Weisenburger geht über den eigentlichen Anlass hinaus, indem sie Henry Hübchen fast philosophisch über Worte nachdenken lässt, die Wahrheit, aber auch fürchterliche Lüge sein können. Sie gibt aber auch der Vermutung des Freundes aus Jugendtagen der Porträtierten Raum: Ohne den Schmutz hätte Jenny vielleicht noch ein paar Monate leben können, sagt Michael Weidt. Der ganze Part wird filmisch (!) abgeschlossen: Arbeiter demontieren ein Großplakat von "Das Leben der anderen". Szene ohne Worte.

"Ich will da sein - Jenny Gröllmann" ist ein künstlerisch meisterhaftes Plädoyer auf Würde und Menschenrecht einer Frau, die zu Lebzeiten ein Synonym für Lebensfreude und künstlerische Leistungsfähigkeit war und diese späte Ehrung vollauf verdient hat.


P.S.: Auch das sollte erwähnt werden: Neben Freunden, Kollegen, Verwandten trugen auch staatliche Stellen zum Gelingen des Unternehmens bei - Medienboard Berlin-Brandenburg und Kulturelle Filmförderung Mecklenburg-Vorpommern förderten den Film; zumindest hier mal etwas Gutes.

Raute

Marginalien

Ein paar kleine Wahrheiten

Die gute Unterhaltung besteht nicht darin, dass man selbst etwas Gescheites sagt, sondern dass man etwas Dummes anhören kann.
(Wilhelm Busch)

Die Medien schreien: "Größte Spendengala" zugunsten von Wasauchimmer. Eine Gesellschaft kann erst dann als gut bezeichnet werden, wenn solches nicht mehr notwendig ist.
(Bernd Vogel)

Jedem kann es passieren, dass er Unsinn redet. Schlimm wird es erst, wenn er es feierlich tut.
(Michel Eyquem de Montaigne)

Die Zukunft gehört denen, die der nachfolgenden Generation Grund zur Hoffnung geben.
(Pierre Teilhard de Chardin)

Literatur ist nicht für den Zustand der Welt verantwortlich, aber schon für das, was wir über diesen Zustand denken.
(Hermann Kant)

Die Jugend wäre eine schönere Zeit, wenn sie erst später im Leben käme.
(Charlie Chaplin)

Wer glaubt, etwas zu sein, hat aufgehört, etwas zu werden.
(Sokrates)

Raute

Marginalien

Aphorismen

Da Kriege in den Köpfen der Menschen beginnen, ist es notwendig, in den Köpfen der Menschen Vorsorge für den Frieden zu treffen.
(Aus der Präambel der UNESCO-Verfassung vom 16. November 1945)

Jeder kommende Krieg ist zugleich ein Sklavenaufstand der Technik.
(Walter Benjamin: Theorien des deutschen Faschismus, in: Lesezeichen. Schriften zur deutschsprachigen Literatur, Leipzig 1970, S. 239)

Der Krieg ist von Raubtieren in Menschengestalt hervorgebracht, die sich in ihrem gierigen Hunger nach Profit an einer Mauer den Kopf eingerannt haben und nun Dynamit unter die Mauer legen, um sie wegzusprengen.
(Martin Andersen Nexö: Morten der Rote, Berlin 1949, S. 186)

Der Krieg ist ein Patent der bürgerlichen Gesellschaft und wird als solches gesetzlich geschützt.
(Johannes R. Becher: Dichter, lüge!, in: Publizistik I. 1912-1938, Berlin und Weimar 1977, S. 135)

Krieg ist nichts als Drückebergerei vor den Aufgaben des Friedens.
(Thomas Mann: Vom kommenden Sieg der Demokratie, in: Zeit und Werk. Tagebücher, Reden und Schriften zum Zeitgeschehen, Berlin 1955, S. 818)

Wer ein Dummkopf ist, dem schadet die internationale Kriegsberedsamkeit nichts. Wer ein halbwegs normal arbeitendes Gehirn hat, krümmt sich unter ihr in Schmerzen.
(Alfred Polgar: Krieg als Erzieher, in: Die lila Wiese, Berlin 1977, S. 9)

Eine gleißende Lüge setzt sich ohne Mühe durch. Sie ist ein allein stehender Gedanke, kunstvoll zurechtgelegt, geschickt übertrieben, gerade dadurch bestechend und stets dem niedrigsten geistigen Niveau angepasst.
(Melchior Grimm: Über die Macht der öffentlichen Meinung, in: Paris zündet die Lichter an. Literarische Korrespondenz, Leipzig 1977, S. 364)

(Diese Aphorismen wurden ausgewählt von Helga Hörning.)


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Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

"Wir leben in einer schwierigen Zeit. Naja, uns betrifft das alles nicht...
Ralf-Alex Fichtner, 2008. Lavierte Finelinerzeichnung, 21 x 29,7 cm


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Ausstellungen 2009 in der GBM-Galerie Berlin

Januar - März 2009
Willi Sitte
Bilder gegen den Krieg

April - Juni 2009
Klaus Georg Przyklenk
Denkmalerei, Assemblagen, Collagen

Juni - August 2009
Gabriele Senft
Fotografie

September - Oktober 2009
Leo Haas
Satirische Grafik

November 2009 - Januar 2010
Martin und Gudrun Wetzel
Plastik, Zeichnung, Malerei


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Im Namen Gottes, 1995, Öl/Hartfaser 125 x 75,5 cm, Leihgabe der Willi-Sitte-Stiftung Merseburg

Kleiner Jagdsegen, 1992, Öl, Assemblage, Pappe 49 x 29,5 cm

Foto: Subotica April 1999

Porträt Leo Haas, Zeichnung von Herbert Sandberg

Detailaufnahme des von Martin Wetzel gestalteten Menschenrechtspreises

Raute

Klaus Georg Przyklenk

Gedanken zum Titelbild

Unwirklich und strahlend blau ist sie, die Rose, die von unserem Titelbild leuchtet. Zehn Jahre ist es her, seit Walter Womacka sie malte. Ein Blumenstillleben? Eins dazu, das gemalt wurde, als uns die Bilder von den Toten an der Brücke von Vavarin und vom brennenden Belgrader Fernsehzentrum aufschreckten? Es war wieder Krieg und deutsche Soldaten waren in NATO-Maschinen wieder über Jugoslawien.

So ist es denn auch kein Stillleben geworden.

Die Blume ist keine Blume, eher ein Traum vom Frieden, die blaue Blume der Romantik. Dass es eine Rose ist, eine so schöne und mit so viel malerischer Kultur vorgetragen, das ist des Malers Erfindung. Die deutschen Romantiker kannten nur die blaue Blume, keine Rose. Unbestimmt, unfassbar im Irgendwie des Traums vom schönen Dasein.

Auf dem Bild ist sie genau, prächtig und eine präzise Zielscheibe für die fliegenden Beamten mit der Tötungslizenz.

Was auf den ersten Blick nicht gleich offenbar wird: Nicht der blaue Traum wird zum Opfer. Getroffen wird nicht das einprogrammierte Ziel. Getroffen werden Menschen, von denen noch bei der Zielbeschreibung nicht die Rede war, als seien sie gar nicht als Opfer ausersehen worden. Im farbigen Spektakel der TV-Bilder verschwinden sie fast. Nicht so auf dem Bild des Malers. Sie sind mit da, kleine, fast Nebenhererscheinungen auf der Flucht vor dem Tod.

Dass sie ein Menschenrecht auf Leben hatten, wie hätte das die damalige Bundesregierung wissen können. Auch Regierende dürfen ja träumen. Vielleicht haben sie den anderen Traum von der blauen Blume geträumt, den Traum von der blauen Papierblume an der Schießbude.


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Rückseite:

Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Heinz Wodzicka: Ikarus I und Ikarus II
2008, Acryl/Leinwand, 140 x 100 cm

Ikarus
Triumphaler Höhenflug und unvermeidlicher Fall

Das ist berufliche Karriere
Das ist politisches Engagement
Das ist Irak-Krieg
Das sind unwirkliche Träume
Das sind menschliche Beziehungen
Das ist persönliches Schicksal
Das ist das Leben

Heinz Wodzicka

Raute

Unsere Autoren:

Peter Arlt, Prof. Dr. - Kunstwissenschaftler, Gotha
Stefan Bollinger, Dr. habil. - Politikwissenschaftler, Berlin
Hans-Ewald Dahlke, Dr. - Erziehungswissenschaftler, Berlin
Irene Edith Eckert, Studienrätin, Berlin
Klaus Eichner, Diplomjurist, Lentzke
Peter H. Feist, Prof. Dr. - Kunstwissenschaftler, Berlin
Gerhard Fischer, Prof. Dr. - Historiker, Berlin
Siegfried Forberger, Diplomjurist, Berlin
Georg Grasnick, Prof. Dr. - Politologe, Berlin
Heidrun Hegewald, Malerin und Grafikerin, Berlin
Lorenz Knorr, Publizist, Frankfurt/Main
Werner Krecek, Dr. - Kulturwissenschaftler, Berlin
Peter Michel, Dr. - Kunstwissenschaftler, Berlin
Friedrich Möbius, Prof. Dr. - Kunsthistoriker, Rothenstein
Siegfried Prokop, Prof. Dr. - Historiker, Bernau
Wolfgang Richter, Prof. Dr. - Philosoph, Friedensforscher, Wandlitz
Norbert Rogalski, Dr. - Erziehungswissenschaftler, Leipzig
Horst Schneider, Prof. Dr. - Historiker, Dresden
Siegfried Wege, Dr. - Kunstwissenschaftler, Berlin
Heinz Wodzicka, Prof. - Maler und Grafiker, Rostock


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Titelbild:
Walter Womacka, Blaue Rose, 1999. Öl/Lw

2. Umschlagseite:
Ronald Paris, Ikarus, 1995. Federzeichnung

Rückseite des Umschlages:
Heinz Wodzicka, IKARUS 1 und 2, 2008. Acryl/Lw, je 140 x 100 cm

Abbildungsnachweis:
Archiv Arlt S. 35
Archiv GBM, 2. und 3. Umschlagseite
Archiv Michel S. 40
Archiv Przyklenk S. 9
Berthold Brinkmann, 4. Umschlagseite
DEFA-Stiftung S. 50
Ralf-Alex Fichtner S. 12, 52
GNN-Verlag S. 44, 48
Heidrun Hegewald S. 21
Burkhard Lange S. 41
Friedrich Möbius S. 43
Norbert Rogalski S. 31
Gabriele Senft, Titel, S. 37, 3. Umschlagseite
Sitte-Stiftung Merseburg, S. 38, 3. Umschlagseite

Raute

Impressum

Herausgeber: Gesellschaft zum Schutz von
Bürgerrecht und Menschenwürde e.V.
Weitlingstraße 89, 10317 Berlin
Telefon: 030/5578397
Fax: 030/5556355
Homepage: http://gbmev.de
E-Mail: gbmev@t-online.de

V.i.S.d.P.: Wolfgang Richter
Begründet von:
Dr. theol. Kuno Füssel,
Prof. Dr. sc. jur. Uwe-Jens Heuer,
Prof. Dr. sc. phil. Siegfried Prokop,
Prof. Dr. sc. phil. Wolfgang Richter

Redaktion:
Dr. Klaus Georg Przyklenk
Puschkinallee 15A, 15569
Woltersdorf
Tel.: 03362/503727
E-Mail: annyundklausp@online.de
Layout: Prof. Rudolf Grüttner
Satz: Waltraud Willms
Redaktionsschluss: 20.2.2009

Verlag:
GNN Verlag Sachsen/Berlin mbH
Schkeuditz
ISBN 978-3-89819-317-7

Die Zeitschrift ICARUS ist das wissenschaftliche und publizistische Periodikum der Gesellschaft zum Schutz von Bürgerrecht und Menschenwürde e.V.; sie erscheint viermal jährlich und kann in der Geschäftsstelle der GBM, Weitlingstraße 89, 10317 Berlin abonniert bzw. gekauft werden. Ihr Bezug ist auch unter Angabe der ISBN (siehe linke Spalte) über den Buchhandel möglich. Der Preis beträgt inkl. Versandkosten pro Heft 4,90 EUR für das Jahresabonnement 19,60 EUR.

Herausgeber und Redaktion arbeiten ehrenamtlich. Die Redaktion bittet um Artikel und Dokumente, die dem Charakter der Zeitschrift entsprechen. Manuskripte bitte auf elektronischem Datenträger bzw. per E-Mail und in reformierter Rechtschreibung. Honorare können nicht gezahlt werden. Spenden für die Zeitschrift überweisen Sie bitte auf das Konto 13 192 736, BLZ 10050000 bei der Berliner Sparkasse. Helfen Sie bitte durch Werbung, die Zeitschrift zu verbreiten.

Danke
Es ist an der Zeit, uns wieder einmal bei allen Abonnenten und Freunden des ICARUS zu bedanken, die unsere Arbeit mit Spenden unterstützen, auch wenn sie noch so klein sind.


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Quelle:
ICARUS Nr. 1/2009, 15. Jahrgang
Herausgeber:
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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. April 2009