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GRUNDRISSE/044: zeitschrift für linke theorie & debatte, winter 2014


grundrisse - zeitschrift für linke theorie & debatte nr. 52, winter 2014

Letzte Ausgabe ... und hier gehts weiter:
http//blog.grundrisse.net/



Inhaltsverzeichnis

Redaktion:
Editorial

John Holloway:
Graz, Elevate Festival 2014, Eröffnungsrede

Reflexionen über die Entwicklung der grundrisse (2001 - 2014)
mit Beiträgen von Jonas, Rainer, Stefan, Renate (iL-Wien); Anton Pam; Karl Reitter; Franz Naetar; Jannik Eder; Martin Birkner; Robert Foltin und einigen Bildern von unseren Sommerseminaren, dem Sozialforum in Hallein und so.

Stefan Junker:
Nieder mit der eigenen Regierung! Lenins Deftismus als Teil der Antikriegspolitik im 1. Weltkrieg

Marlene Radl:
Affektive vs. Reproduktive Arbeit, Eine Begegnung marxistisch-feministischer und (post-)operaistischer Theorie

Irmi Voglmayr:
Prekäre Lebensverhältnisse im Alter

Stefanie Klamuth:
Buchbesprechung - Thomas Schmidinger: Krieg und Revolution in Syrisch-Kurdistan. Analysen und Stimmen aus Rojava

Impressum

*

Editorial

Liebe Leserinnen und Leser,

mit jedem Ende fängt was an. Die Publikation der grundrisse wird mit dieser Ausgabe eingestellt. Über das Warum und Wieso aus den verschiedensten Perspektiven informiert euch der Schwerpunkt dieser Ausgabe: Reflexionen über die Entwicklung der grundrisse (2001 - 2014). Die Redaktion löst sich jedoch keineswegs auf, sondern will neue Wege beschreiten. Insofern passt der erste Beitrag, nämlich die Eröffnungsrede von John Holloway am 23. Oktober dieses Jahres bei Elevate Festival in Graz, sehr gut zu unseren weiteren Absichten. Wir wollen erstmals mit monatlich stattfindenden Jour fixe weitermachen. Die Treffen werden jeden zweiten Montag im Monat im Amerlinghaus (Stiftgasse 8, 1070 Wien) um 19 Uhr stattfinden. Informationen gibt es auf unserem neu eingerichteten Blog: http://blog.grundrisse.net/ Der erste Termin ist auch schon inhaltlich fixiert. Max Zirngast wird dankenswerterweise ein Impulsreferat zum Thema Abdullah Öcalans neue politische Orientierung und die Situation in Syrisch Kurdistan halten. Danach ist eine offene Diskussion geplant.

Außerhalb des Schwerpunkts informiert Stefan Junker über Lenins Defätismus als Teil der Antikriegspolitik im 1. Weltkrieg. Marlene Radl beschäftigt sich in Affektive vs. Reproduktive Arbeit sehr kritisch mit dem Verständnis dieser Begriffe bei Hardt und Negri. Irmi Vogelmayr entfaltet in Prekäre Alterswelten ein weites Panorama, viele Fragen des gesellschaftlichen Umgangs mit dem Alter betreffend. Den Abschluss bildet eine Buchbesprechung von Stefanie Klamuth. Sie informiert über den soeben erschienenen Band von Thomas Schmidinger: Krieg und Revolution in Syrisch-Kurdistan. Analysen und Stimmen aus Rojava. Dieses beim Mandelbaum Verlag erschienene Werk wäre (nicht nur) als Vorbereitung auf unseren Jour fixe allen zu empfehlen.

Abschließend gilt es noch, auf zwei Veranstaltungen hinzuweisen, die erste wird sich leider etwas mit der Publikation dieser Ausgabe überschneiden.

Am Montag den 8.12., ab 17 Uhr, findet im Amerlinghaus der

ultimative Mariä-Empfängnis-Besinnungsshopping-Markt

mit wohlfeilen Waren von akw - Freund*innen der analyse & kritik Wien, grundrisse.zeitschrift für linke theorie & debatte, jour fixe. gewerkschaftslinke Wien sowie mit den Streifzügen - magazinierte Transformationslust, statt. Dazu gibt es kalte und ultraheiße Getränke, Snacks und liebe linke Leute!

Und am 19. Dezember ist es soweit: grundrisse.zeitschrift für linke theorie & debatte und mandelbaum kritik & utopie presents:

Klasse gemacht! 14 Jahre grundrisse sind genug Präsentation, Diskussion, Party!

Am Freitag, dem 19. Dezember 2014, stellen wir um 19 Uhr in der Libreria Utopia (Preysingg. 26-28, 1150 Wien) sowohl die neue und hiermit letzte Ausgabe der grundrisse vor, als auch - und vor allem - das brandneue Buch des grundrisse-Autors Slave Cubela mit dem schönen Titel Klasse gemacht. In diesem Sinne diskutieren Renate Nahar und Karl Reitter mit dem Autor über Bedeutung, Reichweite und Grenzen von Klassentheorie. Moderation: Martin Birkner

Ab 22 Uhr geht's dann im boem (Koppstr. 26, 1160 Wien) weiter unter dem nicht minder tollen Motto a scheene leich! grundrisse (2001 - 2014). Mit Theorietapete, Rakäthen-cocktailbar, ArbeiterInnenkampfliederkaraoke, Trauermärschen & Tanzmusik und dem allseits beliebten Buffet von Großmeister Wolfgang.

In diesem Sinne: alles Liebe, Gute und Schöne Eure grundrisse - Redaktion

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John Holloway:

Graz, Elevate Festival 2014, Eröffnungsrede

1. Meine Eröffnungsrede hat einen Titel: Eröffnungsrede.

Als Daniel mir das Programm schickte und ich sah, dass ich eine Eröffnungsrede halten sollte, dachte ich: "Ja, ja, ja! Eine Eröffnungsrede, eine Rede, die öffnet. Genau was wir brauchen. Ein Traum, ein wundervoller Traum!" Ich danke Dir für Deinen Vorschlag, Daniel. Aber ist das möglich? Eine Rede, die tatsächlich öffnet, eine Rede, die eine sich schließende Welt öffnet. Vielleicht sogar eine Rede, die ein Festival eröffnet, das die Welt öffnet. Also eine Rede, die nicht nur die erste Rede des Festivals ist. Natürlich ist das bereits fantastisch, eine große Ehre, es ist schön, wieder in Graz zu sein, nach Kate Tempest auf der Bühne zu stehen. All das ist wundervoll. Aber ich möchte noch mehr.

2. Eine Eröffnungsrede (eine Rede, die öffnet) geht in die falsche Richtung. Sie bewegt sich gegen das Schließen der Welt. Gerade so wie die Proteste der StudentInnen hier in Österreich vor fünf Jahren. Diese Proteste richteten sich gegen das Schließen der Welt, wie es der Bologna-Prozess bedeutet: ein Schließen von Räumen innerhalb der Universitäten, ein Schließen der Möglichkeiten kritischen Denkens, ein Schließen des Verstandes, eine engere Unterordnung der Universitäten unter die Anforderungen des Kapitals.

Diese Schließung beschränkt sich nicht auf die Universitäten. Eine bestimmte Logik wird allen Aspekten des Lebens zunehmend enger aufgezwungen. Die Logik des Geldes, die Logik des Profits, die Logik der Schließung. An den Universitäten lehrt uns diese Logik: "Denke nicht zu viel nach, lerne nur die richtigen Antworten". Auf dem Lande sagt sie uns: "Denke nicht, dass Du ein Leben wie Deine Eltern und Großeltern führen kannst, etwas Vieh halten und das anpflanzen, was Du zum Leben brauchst, jetzt musst Du Platz machen für die landwirtschaftliche Massenproduktion; oder Du musst zunehmend Platz machen für die Minen, für die Dämme, für die Autobahnen, für die Hochgeschwindigkeitszüge. Noch besser: Warum verschwindest Du eigentlich nicht gleich vollständig?", und Millionen und Abermillionen Menschen sind jedes Jahr gezwungen, das Land zu verlassen, um in die Slums der Welt zu ziehen. Und in den Städten sagt uns die Logik des Geldes: "Glaube bloß nicht, dass Du mit Deinem Leben anfangen kannst, was Du willst, Du musst Deinen Lebensunterhalt verdienen und das bedeutet, dass Du etwas tun musst, das die Profite erhöht, das die Macht der Reichen vergrößert". Und das ist es, was geschieht: eine obszöne Konzentration der Macht in aller Welt in den letzten dreissig Jahren, ein gigantisches Wachstum der Macht der Reichen, der Macht des Geldes.

Die Logik des Geldes ist die Logik der Schließung. Sie präsentiert sich der Welt als Freiheit, als eine Öffnung der Möglichkeiten für alle. Tatsächlich ist es jedoch das genaue Gegenteil. Es ist das Verweben jeglicher menschlicher Aktivität in eine Weltaktivität, ein Weltsystem, das niemand kontrolliert, das jedoch einem einfachen Gesetz folgt: mehr, mehr, mehr Profit. Und wenn Du der Herrschaft des Geldes nicht folgen willst, wenn Du mit Deinem Leben etwas anderes machen willst, dann musst Du verrückt oder kriminell sein und solltest bestimmt eingesperrt werden. Geld ist ein Gefängnis, gestützt von vielfältigen Linien der Schließung, die mehr und mehr gewalttätig werden: Landesgrenzen zum Beispiel. Die Dynamik des Geldes ist das Zerstören von Hoffnungen und Träumen der Jugend und wir sehen es wieder und wieder: Träume, zerbrochen an der Realität der Erwerbslosigkeit oder, häufig schlimmer, an der Realität der Erwerbstätigkeit.

3. Es geht nicht nur darum, dass wir in einer Welt der Schließung leben, sondern, dass diese Schließung beständig aggressiver wird. Geld hat eine Dynamik. Geld ist Kapital und es kann nicht stillstehen. Die Herrschaft des Kapitals ist "schneller, schneller, schneller". Und die Herrschaft des "schneller, schneller, schneller" bedeutet: "Aus dem Weg mit den Menschen, die zu langsam sind, die die Sachen aufhalten, aus dem Weg mit denen, die kein Englisch können, aus dem Weg mit den Protestierenden und in die Gefängnisse mit ihnen, oder in die Massengräber, deren Anzahl sich weltweit vervielfacht (wie wir leider all zu gut in Mexiko wissen), aus dem Weg mit den 43 Studenten von Ayotzinapa die vor einem verschwunden worden sind". Die Wände nähern sich uns, uns einschließend, und drohen, uns vollständig zu zerquetschen. Die Dynamik des Geldes ist die Schließung des Lebens an sich.

Die Dynamik des Geldes ist die Dynamik des Todes. Und die Diener des Geldes sind die Diener des Todes. Guckt sie Euch genau an, seien es die Kapitalisten, oder ihre politischen Lakaien, wie Obama oder Cameron oder Putin, und ihr werdet sehen, dass ihre Gesichter Masken des Todes sind. Die scheinbaren Herren der Welt sind die Diener eines Systems, das uns zerstört.

Es ist nicht nur eine Frage des zukünftigen Untergangs durch den Klimawandel, oder den Wassermangel, oder den Atomkrieg. Die Dämmerung legt sich bereits über uns. Die Möglichkeit, dass dies der Abschluss der Tage der Menschheit auf der Erde ist, ist wirklich gegeben. Es wird häufig als Neoliberalismus bezeichnet, aber es ist keine Frage der Orientierung der Regierungen: es ist das Kapital, das seine Orgien zelebriert, es ist das Geld als Form gesellschaftlicher Organisation, das an seine Grenzen stößt.

Für viele eine Zeit der Depression, eine Zeit wo die meisten Eltern glauben, dass das Leben für ihre Kinder schwieriger sein wird, als es für sie war, eine Zeit, in der die Möglichkeit einer radikalen Veränderung der Welt verblichen zu sein scheint.

4. Deshalb ist eine Eröffnungsrede notwendig, eine Rede, die wirklich öffnet. "Es kommt darauf an, das Hoffen zu lernen", wie Ernst Bloch nach der Erfahrung mit den Nazis und dem Krieg schrieb. Nicht eine törichte, leere Hoffnung, dass am Ende alles gut ausgehen wird, denn so ist es nicht. Es muss eine begründete Hoffnung, eine docta spes sein, wie Bloch sie bezeichnet hat.

Zu Blochs Zeiten, war die Hoffnung noch mit der Partei und der Vorstellung verbunden, die Kontrolle über den Staat zu gewinnen. Aber all das ist vorbei, die Partei ist vorbei, "the party is over". Wir müssen die Hoffnung wiedererlernen, wiedererdenken, wir müssen lernen, unsere Augen und Gedanken zu öffnen und jenseits der sich schließenden Wände des Kapitalismus zu sehen.

Die Hoffnung liegt nicht darin, die Partei aufzubauen, nicht darin, die Kontrolle über den Staat zu gewinnen, denn der Staat ist eine vollständig in den Kapitalismus integrierte Institution, die nicht zu dessen Überwindung genutzt werden kann. Die Hoffnung liegt jetzt in den Millionen und Abermillionen von uns, die sagen: "Nein, nein, wir werden es nicht hinnehmen, wir werden Eure Zerstörung und Eure Minen und Eure Dämme und Eure Waffen und Eure Kriege nicht hinnehmen. Wir werden die Herrschaft der Reichen, also die Herrschaft des Geldes nicht mehr hinnehmen, wir werden die Sachen auf andere Weise machen, uns auf andere Weise miteinander verbinden. Wir wollen Eure Totalität des Todes nicht, und wir wollen gar keine Totalität, wir haben im letzten Jahrhundert gesehen, was passiert, wenn eine Totalität durch eine andere, eine Schließung durch eine andere, ersetzt wird, so wie die Tragödie des Kommunismus es gezeigt hat. Und jetzt sagen wir "Nein", wir brechen auf eine Million verschiedener Arten weg von der Totalität des Kapital-Todes, wir schaffen Risse im System, wir kommunisieren, wir kämpfen, um die Erde unsere Erde zu machen (also die Erde von Menschen und andere Lebensformen), bevor das kapitalistische System sie vollständig zerstört. Wir kämpfen, um eine Lücke zu eröffnen, zwischen der Zukunft des Kapitalismus, die nur der Tod sein kann und der Zukunft der Menschheit, die immer noch das Leben sein kann - vielleicht ist es nicht zu spät.

Ernst Bloch legte die Hoffnung in das Noch-Nicht, die Macht der Welt, die bislang nicht existiert und deswegen als noch-nicht existiert, in unseren Verweigerungen, in unseren Träumen, in unseren experimentellen Kreationen, in unserem Drängen gegen-und-jenseits-des-Kapitals. Wir müssen lernen, den Liedern jener Welt, die noch nicht existiert, zuzuhören und sie selber zu singen, so laut wie möglich. Arundhati Roy drückt dies sehr schön aus: "Eine andere Welt ist nicht nur möglich, sie ist bereits auf dem Wege und wenn man an einem stillen Tag sehr genau hinhört, kann man sie atmen hören".

Daher meine Eröffnungsrede. Ich will die Welt öffnen, die kapitalistische Einkerkerung auflösen. Ich hoffe, ich denke, wir wollen es alle. Mein Wunsch für das Festival ist, dass es ein Eröffnungsfestival sei, dass es die Lieder der noch nicht geborener Welt singe, so laut und so schön wie möglich.

*

Jonas, Rainer, Stefan, Renate:

Reflexionen über die Entwicklung der grundrisse (2001 - 2014)

mit Beiträgen von Jonas, Rainer, Stefan, Renate (iL-Wien); Anton Pam; Karl Reitter; Franz Naetar; Jannik Eder; Martin Birkner; Robert Foltin und einigen Bildern von unseren Sommerseminaren, dem Sozialforum in Hallein und so.

"Jedenfalls sollten wir uns gemeinsam den Kopf zerbrechen, wie die Lücke, die die grundrisse hinterlassen, gefüllt werden könnte" - Eine Selbstbefragung


Die Idee zum vorliegenden Text über unser Verhältnis zu den grundrissen und deren Ende entstand - ähnlich wie das grundrisse-Projekt selbst - bei ein paar Bier während eines Beislbesuches. Vier Menschen unterschiedlichen Alters, die ein mehr oder weniges nahes Verhältnis zum Projekt der grundrisse haben, trafen sich daraufhin und tauschten ihre Erfahrungen und Einschätzungen aus. Im Zuge dieses Gesprächs wurde der Fragenkatalog ausgearbeitet, der die Grundlage dieser Selbstbefragung darstellt. Jonas (26), Rainer (35), Stefan (35) und Renate (50), die eine unterschiedliche politische Geschichte haben und zu verschiedenen Zeitpunkten auf die grundrisse gestoßen sind, sind alle in der interventionistischen Linken Wien organisiert, die in den letzten beiden Jahren entstanden ist.

Wie und wo hast du die grundrisse kennen gelernt? Was fandest du an den grundrissen interessant? Inwiefern waren die grundrisse wichtig für dich?

Rainer: Soweit ich mich erinnere, habe ich die Zeitschrift von Anfang an gelesen. Dunkel erinnere ich mich an einen "Empire"-Lesekreis im EKH (Ernst-Kirchweger-Haus), über den ich zwei, drei Leute kennen gelernt habe, die dann später die grundrisse mitgegründet haben. Für mich waren die grundrisse damals wichtig, da ich aus der autonomen Szene kam, die mir auf Grund ihrer extremen Theoriefeindlichkeit extrem am Nerv gegangen ist. Andererseits gab es eine starke Nabelschau, wenig Blick über den eigenen Szene-Tellerrand. Im Zuge der Anti-Globalisierungsbewegung, speziell in Folge der Proteste in Seattle, wurde diese beschränkte Sicht der Dinge - durch die Stärke der globalen Bewegung selbst - auf vielen Ebenen in Frage gestellt. Die grundrisse habe ich stark als Ergebnis dieses neuen Aufbruchs wahrgenommen und geschätzt. Und dann gab es natürlich auch noch die Proteste gegen Blauschwarz...

Renate (Minimol): Hie und da einen Artikel gelesen habe ich von Anfang an. Die grundrisse lagen bei Freund_innen rum, glaub ich. Ich fand die Covers der ersten Nummern mit den Zitaten aus revolutionären Klassiker_innen super, allen voran das Motto der ersten grundrisse-Nummer: "Es genügt nicht, dass der Gedanke zur Verwirklichung drängt, die Wirklichkeit muss sich selbst zum Gedanken drängen." (Karl Marx) Ich empfand das Zitat als hochaktuelle Kritik am idealistischen Voluntarismus der verbliebenen Restautonomen hier in Österreich, also jener linken Strömung, aus der ich selbst komme. Ich hatte während der Protestbewegung gegen Schwarzblau gemeinsam mit anderen Frauen "Empire" von Hardt/Negri in einem Lesekreis gelesen und diskutiert und konnte daher gut an die Debatten in den grundrissen andocken. 2005 oder so war ich dann mal bei einem mehrgängigen Essen, das die grundrisse damals öfters veranstaltet haben, und hab 2006 einen Rezensionsessay zu "Doing the Dirty Work?" von Bridget Anderson (Migrantinnen in der bezahlten Hausarbeit in Europa) in den grundrissen veröffentlicht. Ich bin dann sozusagen hängen geblieben, weil ich erstens sehr freundlich-enthusiastisch aufgenommen wurde und zweitens die politisch-theoretischen Diskussionen extrem spannend fand. Die Zusammensetzung der Redaktion war damals sowohl von den theoretischen und aktivistischen Herkunftsströmungen her als auch geschlechter- und generationsmäßig relativ heterogen. Jeder Artikel wurde (manchmal mit den Autor_innen, manchmal ohne) innerhalb der Redaktion ausführlich diskutiert, bevor er abdruckt wurde (oder eben nicht).

Sehr wohltuend und produktiv fand ich auch die Redaktionspolitik, keine Verrisse oder die in der Linken ja durchaus üblichen polemischen gegenseitigen Vernichtungen zu publizieren. Ich war dann bis 2012, also 6 Jahre lang, ständiges Redaktionsmitglied, das war für mich - sowohl was politische Theorie betrifft, als auch persönlich - eine wichtige, sehr intensive Phase meines Lebens. Und um diversen Klischees entgegen zu wirken - bei politischen Gruppen und insbesondere bei Zeitschriften kann ja die Innenwahrnehmung sehr stark von der Außenwahrnehmung abweichen: Bei den grundrissen wurden schon auch Differenzen zwischen Feministinnen theoretisch in Diskussionen ausgetragen - ohne Birgit Mennel, Käthe Knittler, Elisabeth Steger, Andrea Salzmann oder auch Barbara Eder wäre ich vielleicht nicht hängen geblieben. Ich erwähne sie namentlich, weil mir aus meiner politischen Vergangenheit geläufig ist, dass Frauen dann in der Geschichtsschreibung des Öfteren irgendwie nicht mehr vorkommen.

Jonas: Meine Beziehung zu den grundrissen hatte vor allem etwas mit meinem Studium zu tun. Ich bin bei der Suche nach Literatur zu postoperaistischer Theorie immer wieder auf das Archiv der grundrisse auf der Website gestoßen. Ich fand das extrem gut, dass es hier offensichtlich eine Auseinandersetzung mit jenen Theorien gab, die bei Studienkolleg_innen nur wenig auf Interesse stießen. Auch fand ich klasse, dass immer mal wieder Texte übersetzt und somit besser zugänglich gemacht wurden. Grundsätzlich muss man sagen, dass alle Ausgaben immer ziemlich schnell online und somit frei verfügbar im Internet zu lesen waren. Das fand ich auch super. Mich würde auch interessieren, in welchem Verhältnis Zugriffszahlen zu Abonnent_innen stehen...

Gegen Ende meines BA-Studiums in Marburg habe ich länger mit der Idee geliebäugelt, nach Wien zu ziehen. Auf Nachfrage bei linken Genoss_innen, was in Wien denn so politisch geht, sind immer wieder die gleichen Namen gefallen: grundrisse und Perspektiven, wobei die grundrisse eher die Theoriezeitschrift der (post)autonomen Bewegungslinken wären. Ich hab mir dann ein Zweijahresabo zugelegt, weil es dazu ein Buchgeschenk (Harry Cleaver, Das Kapital politisch lesen, Mandelbaum Verlag) gab. Ich habe also nur die beiden letzten Jahre der grundrisse intensiver verfolgt und keine große emotionale Bindung zu dem Projekt aufgebaut. Ich habe mich allerdings als vergleichsweise junger Aktivist nicht unbedingt getraut, mal bei einem Redaktionstreffen vorbeizuschauen. Im letzten Jahr habe ich die Redaktion vor allem regelmäßig im Beisl getroffen, da die grundrisse-Redaktion zeitgleich mit der interventionistischen Linken Wien getagt hat. Ich fand das immer sehr nett, da dort doch ein recht spannender Austausch mit erfahrenen Genossen zustande kam. Das war vor allem sozial sehr nett. Ich treffe die Genossen auch weiterhin gerne, z.B. an ihren Bücherständen, einige sehe ich auch oft auf Veranstaltungen und Demos oder beim Fußball.

Stefan: Ich war in den frühen 2000ern ja trotzkistisch organisiert und hätte da auch kein post- davorgesetzt. Eine Zeitschrift, so haben wir das damals von Lenin gelernt, soll vor allem "kollektiver Organisator" sein. Insofern gab's schon auch eine gewisse Grundskepsis gegenüber einer Theoriezeitschrift, die nicht zugleich Organisierungsprojekt sein will. Gelesen hab ich die ersten Ausgaben natürlich trotzdem, zwar nie "vor vorn bis hinten", aber im Nachhinein gesehen denke ich, dass einige Artikel der frühen grundrisse recht wichtig für meine eigene politische und theoretische Entwicklung gewesen sind. Ich kann mich etwa noch gut an Karl Reitters Artikel zu abstrakter Arbeit in der ersten Ausgabe erinnern, der für mich gewissermaßen ein Türöffner für eine Kapital-Lektüre jenseits des trotzkistischen Marx-ABCs war.

Gleichzeitig repräsentierten die grundrisse für mich so etwas wie eine Diskussionsplattform jener Theorien, die in der Anti-Globalisierungsbewegung zirkulierten - Stichwort Empire und Multitude. Und das wurde durchaus als Herausforderung gegenüber marxistischen Orthodoxien wahrgenommen und hat zugleich die Engführungen, Oberflächlichkeiten und Leerstellen der eigenen Positionen verdeutlicht. Eine vergleichbare Theoriezeitschrift gab's ja damals in Österreich nicht und die grundrisse haben ein allgemeineres Bedürfnis nach bewegungsnaher theoretischer Reflexion abgebildet. Es ist sicher kein Zufall, dass sich unser trotzkistisches Grüppchen 2002 selber an einer Theoriezeitschrift versucht hat, die mit zwei Ausgaben dann aber doch recht kurzlebig geblieben ist.

Ende 2005 war ich dann in die Gründung von Perspektiven involviert. Unbestreitbar gab's hier Anleihen bei den grundrissen: vom Textlayout bis hin zum Untertitel, nur dass die Perspektiven eben nicht "Zeitschrift für linke Theorie und Debatte", sondern für "Theorie und Praxis" sein wollten.

Wie nimmst du die grundrisse heute wahr? Wie hat sich die Zeitschrift und deren Rolle verändert? Was bedeutet sie für dich aktuell? Spielen dabei Bewegungszyklen eine Rolle? Ist das Konzept "Schwerpunktnummer" aufgegangen?

Stefan: Ich denke ja, dass es nach wie vor Interesse an einer bewegungsnahen, offenen und pluralen (wenn auch postoperaistisch gerahmten) Theoriediskussionsplattform gibt. Trotzdem habe ich die grundrisse-Ausgaben der letzten zwei, drei Jahre eigentlich kaum am Schirm gehabt. Das hat sicher mit der Wahrnehmung der grundrisse als kaum noch an Bewegungsfragen "dran seiend" zu tun und deshalb wenig aus den grundrissen für die eigene Praxis übersetzen zu können. Resonanzen zwischen Zeitschrift und Bewegungszyklus so wie in den frühen 2000ern sehe ich eigentlich nicht mehr. Zwar hat es von Anfang an immer wieder mal Beiträge zu Debatten gegeben, deren Einsatz mir persönlich nicht klar war und die mich nicht interessiert haben. Dennoch waren die letzten Ausgaben insgesamt geschlossener, inhaltlich wie sozial, und es war nicht klar, wo die Zeitschrift eigentlich intervenieren möchte.

Renate: In den letzten 2 Jahren schau ich die grundrisse nur mehr sehr sporadisch an. Das hängt selbstverständlich nicht nur mit den grundrissen zusammen, sondern auch mit einer veränderten politischen Schwerpunktsetzung bei mir selbst. Es ist ja klar, dass es nicht möglich ist, gleichzeitig intensiv politisch aktivistisch tätig zu sein und laufend relativ komplizierte theoretische Bücher/Artikel zu lesen, zu diskutieren und Texte dazu zu produzieren. Denn da ist noch die Lohnarbeit bzw. andere Wege, sich die Subsistenzmittel aufzustellen, dann mehr oder weniger Care-Arbeit, je nach wechselnder sozialer Situation, und nicht zu vergessen - und das bleibt als legitime Lust und Notwendigkeit gerne unterbeleuchtet - die Pflege von Beziehungen, Freundschaften und diversen Leidenschaften. Ob Theorie oder aktivistische Praxis für mich wichtiger ist bzw. wie das miteinander verbunden werden kann, hängt natürlich von Bewegungszyklen ab, aber auch von persönlichen Bedürfnissen und Rahmenbedingungen. Ich gehöre ja zu denen, die "Hirnwixen" nicht nur notwendig, sondern auch schön finden, es gibt aber dann schon immer den Punkt, an dem die Theorie in eine aktivistische und organisatorische Praxis einfließen möchte.

Ich bin vor 2 Jahren aus der Redaktion ausgetreten und das nicht spontan, sondern nach langen Überlegungen, Diskussionen und auch einigen gemeinsamen Versuchen, die grundrisse wieder auf eine breitere personelle und inhaltliche Basis zu stellen. Mein politisches Hauptprojekt, meine Homebase sozusagen, ist jetzt die interventionistische Linke Wien, die in den letzten 2 Jahren entstanden ist, wobei die Idee, dass so etwas für Wien gut und wünschenswert wäre, für mich und andere schon auch im grundrisse-Umfeld wachsen konnte.

Rainer: Die Rolle der Zeitschrift hat sich stark geändert. Die Themen in den grundrissen sind enger geworden. Ich glaube, dass sie für Linke in Österreich nur noch wenig Relevanz hat, was früher doch anders war. Für mich war die Zeitschrift in den letzten Jahren auf jeden Fall kein starker Bezugspunkt mehr. Während ich das Gefühl hatte, dass sie in den ersten Jahren noch sehr nahe an den Themen dran war, für die ich mich als Aktivist interessiere (ein Beispiel dafür wäre der "Euromayday"), hat sich das in den letzten Jahren immer mehr entkoppelt. Ich denke, diesen Einfluss haben die grundrisse damals auch auf andere gehabt. Es ist wohl kein Zufall, dass z.B. in meiner zweitliebsten Ösi-Polit-Zeitschrift Perspektiven immer wieder Artikel erschienen sind, die stark von den grundrissen beeinflusst waren, um es mal freundlich zu sagen. Zum Teil hat das sicher mit der veränderten Zusammensetzung der Redaktion zu tun, das kann aber nicht alles erklären.

Renate: Wenn ich mich richtig erinnere, war eine der Überlegungen bei der Einführung von regelmäßigen Schwerpunktnummern, neue Autor_innen anzuziehen, um dann in der Folge mit einigen vielleicht längerfristig zusammenzuarbeiten ... das ist jedenfalls nicht aufgegangen ... die erste Schwerpunktnummer nach dieser Entscheidung war die Doppelnummer zu Türkei/Kurdistan, für die zwei Leute aus der Redaktion verantwortlich waren und ein halbes Jahr intensiv daran arbeiteten. Da waren dann auch die Texte und Autor_innen sehr vielfältig, wobei insbesondere Sena Dogan sehr viel Kommunikations- und Übersetzungsarbeit in die Türkei übernommen hat. Es war dann klar, dass künftige Schwerpunkte mit abgespeckten Ansprüchen konzipiert werden mussten, weil das Arbeitspensum einfach total am Limit der Überforderung war. Es ist ja überhaupt die Frage, wie die praktische Seite der Zeitschriftenproduktion ohne Bezahlung funktioniert. Über den gesamten Zeitraum hinweg, dem ich der Redaktion angehört habe, gab es Debatten über die Arbeitsteilung und darüber, dass sich zu wenige an den notwendigen Arbeiten jenseits des Texteschreibens beteiligten. Eine andere Überlegung bei den Schwerpunkten war klarerweise, so etwas wie eine tatsächliche Debatte mit verschiedenen Positionen zu bestimmten Themen zu initieren. Klar ist aber, dass dazu ein Call for Papers nicht ausreicht. Gegen Ende der grundrisse fand ich die Themen der Schwerpunkte gut gewählt, aber mäßig textlich erfüllt, was wohl auch damit zusammen hing, dass die Redaktion deutlich verkleinert war.

Zur Frage, an wen die Zeitschrift sich richtete, würde ich sagen, dass das Credo von Anfang an war: "Wir schreiben und diskutieren jene Theorieproduktion, die wir selbst spannend und wichtig finden." Was ich nach wie vor nicht für die schlechteste Herangehensweise halte. Meinem Eindruck nach fanden wir uns selbst gegen Ende halt nicht mehr spannend und jede/r verfolgte ihre/seine individuellen Spezialthemen, die Bewegungslinken in der Redaktion wurden weniger. Was vielleicht auch eine Rolle spielte, war die Gründung der freund*innen von analyse & kritik wien (akw) vor ca. 3 Jahren, was zwar ein anderes Format darstellt, an dem jedoch auch ehemalige fgrundrisse-Redakteur_innen beteiligt sind. Außerdem bin ich davon überzeugt, dass es für eine breite Palette von Autor_innen und Theorieströmungen in einer Zeitschrift auch einer breiten Palette von sozialen bzw. politischen Beziehungen in diverse Spektren sowohl der akademischen als auch der Bewegungs-Linken bedarf, die gepflegt werden wollen. Auch das war am Ende nicht mehr der Fall.

Die Frage nach den Geschlechterverhältnissen. Wie hast du diese in der Zeitung wahrgenommen, bei den Autor_innen, bei den Übersetzungen? Wie nach außen etwa durch Sprecher_innenrollen, bei Veranstaltungen? Wer trat als Redaktionsmitglied öffentlich auf?

Jonas: Ich habe mir die Ausgaben, die ich noch zuhause rumliegen habe, noch einmal angeschaut. Dort sind 6 von 58 Artikeln erkennbar von Frauen verfasst. Gleichzeitig habe ich die Redaktion als rein männlich wahrgenommen. Das ist wahrscheinlich auch ein Grund, warum ich dort nicht unbedingt mitgemacht hätte. Ich hätte nicht Teil eines rein männlichen Projekts sein wollen.

Stefan: Die Problematik, als reines Buben-Projekt gegründet worden zu sein, wurde ja schon im Editorial der ersten Nummer angesprochen. Und dass die Schwerpunkt-Doppelnummer 37/38 zu Geschlechterverhältnissen und gesellschaftlicher Arbeitsteilung auf "Druck der wenigen weiblichen Redaktionsmitglieder" zustande kam, verweist wohl auf Widerstände, die sich dann auch in der thematischen Gestaltung der Hefte und der männlichen Dominanz bei den Autor_innen niedergeschlagen haben...

Rainer: Tja, da gab es wohl einen Spagat zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Es gab ja eine Phase, als die Redaktion zu mehr als einem Drittel Frauen bestanden hat. Warum sich das wieder geändert hat, darüber kann ich von außen nur spekulieren. Das Wegbrechen der Frauen hat aber für mich schon einen merkbaren Einfluss auf die eingeschränkte Themenbreite und Formate in den letzten Jahren gehabt. Dieser Krise konnte das Konzept "Schwerpunktnummer" wohl auch nicht mehr viel entgegen setzen.

Renate: Die Geschlechterzusammensetzung hat sich im Laufe der Zeit stark verändert. Bevor ich ausgestiegen bin, war ich zwei Jahre lang die einzige Frau in der Redaktion, danach gab es gar keine mehr. Bei der Gründung waren ebenfalls nur Männer beteiligt. Als ich eingestiegen bin, war ich immerhin die fünfte Frau in der Redaktion. Das ist in diesem Gespräch auch sehr schön sichtbar, dass die Außenwahrnehmung der Geschlechterzusammensetzung stark vom Zeitpunkt des Kennenlernens abhängt. Über die Gründe haben wir innerhalb der Redaktion oft diskutiert, einerseits müssten wohl mehr Frauen, die gegangen sind, was dazu sagen ... andererseits ist Männerdominanz kein Spezialproblem der grundrisse. Ich hatte aber schon den Eindruck, dass die Reflexion über Geschlechterverhältnisse nicht für alle in der Redaktion die gleiche Gewichtung in der Prioritätenliste einnahm. Es ist klar, dass ungefragt von Autorinnen so gut wie keine Artikel kommen, dass da viel Energie dahinter gesetzt werden muss. Das wurde zeitenweise eingefordert und auch getan, dann wieder nicht. Die Übersetzungen von Texten wurden zum überwiegenden Teil von Frauen gemacht, was doch einer recht herkömmlichen geschlechtlichen Arbeitsteilung entspricht.

Die Gesprächskultur war schon manchmal sehr anstrengend, das hat, glaub ich, vor allem jüngere Genossinnen und auch Genossen eher abgeschreckt. Was die Außenrepräsentation betrifft, war die sicher immer männlich dominiert, was auch damit zusammenhängt, wer mit welcher Selbstverständlichkeit öffentlich bei Veranstaltungen auftritt, noch dazu wenn es um theoretische Fragen geht. In letzten Zeit gab's ja kaum mehr grundrisse-Veranstaltungen, früher jedoch phasenweise sehr viele, und wir haben schon Anstrengungen dahinter gesetzt, dass die Podien nicht nur aus Männern bestehen. Was wir uns wenig bis gar nicht überlegt haben, waren Methodenfragen bei Veranstaltungen, also wie können kleinere Rahmen innerhalb von größeren Veranstaltungen geschaffen werden, damit auch wirklich mehr Menschen sich trauen, den Mund aufzumachen ... das habe ich erst in den letzten Jahren von jüngeren Genoss_innen gelernt.

Die grundrisse-Seminare als Zeichen der sich ändernder Bedeutung der Zeitschrift. Wie hast du die Seminare wahrgenommen?

Renate: Ich war insgesamt auf drei oder vier Sommerseminaren der grundrisse, das erste im Sommer 2007 zu "Realer Sozialismus" in Hegymagas am Balaton. Das war schon beeindruckend, wir waren ca. 25 Leute aus verschiedenen Spektren der Wiener Linken. Gáspár Miklós Tamás aus Ungarn - von dem im Laufe der Jahre in den grundrissen einige Artikel erschienen sind -, ein Genosse aus Slowenien und eine Genossin aus der Schweiz waren auch da. Das theoretische Niveau der Texte war hoch, u.a. wurden Auszüge aus "Die Klassenkämpfe in der UdSSR" von Charles Bettelheim referiert und diskutiert (oder es war "Ökonomischer Kalkül und Eigentumsformen" - da bin ich mir nicht sicher). Jedenfalls ging es sehr detailliert darum, dass die formal-juristische Ebene des Eigentums noch keinen Aufschluss über die realen Produktionsverhältnisse gibt und Staatseigentum noch keine wirkliche Vergesellschaftung bedeutet. Leider ist es uns nicht gelungen, die Diskussionen weitgehend auf Englisch zu führen, was für den Genossen aus Slowenien - glaub ich - ziemlich unbefriedigend war.

Danach hab ich es so wahrgenommen, dass die Sommerseminare immer familiärer wurden. Es war dann angedacht, sie gemeinsam mit anderen Zeitschriften, wie z.B. den Perspektiven oder analyse & kritik, zu organisieren, das hat jedoch nicht funktioniert. Das letzte Sommerseminar in Kreta war vom Ambiente her und was das Socializing betrifft sehr schön, aber halt in kleinem Kreis, auch wenn zwei Genoss_innen aus der Schweiz und eine nicht der Redaktion angehörende Person aus Wien mit waren. Thematisch ging es um Revolutionstheorien und ich fand vor allem die Lektüre von und Debatte um "Hegel und Haiti. Für eine neue Universalgeschichte" von Susan Buck-Morss bereichernd. Es war jedoch deutlich merkbar, dass sich bei einigen Themenkomplexen im Laufe der Jahre verfestigte Fronten innerhalb der Redaktion herausgebildet hatten, was dazu führte, dass wir uns gegenseitig öfters mal verbissen und keine neuen Impulse mehr geben konnten. Das zeigte sich insbesondere bei einer Debatte über die Entgegensetzung von Staat und Gesellschaft (oder eben Nicht-Entgegensetzung) anhand des Textes "Zur Judenfrage" von Karl Marx.

Die grundrisse als Politgruppe. Von einer Zeitungsredaktion mit iL-Sympathien und "Mayday"-Andockung über die misslungene Gründung der Superlinken bis zum Aufruf "Europa anders" zu wählen - wie hast du diese Interventionen der Redaktion wahrgenommen?

Rainer: Wie gesagt, in den ersten Jahren waren die grundrisse für mich als postautonomes Zeitungsprojekt in der extrem zersplitterten Linken in Wien sehr wichtig und hatten da wohl auch einige Integrationskraft. Ein erster Anlauf für die Gründung einer interventionistischen Linken in Wien stand 2010 schon mal kurz im Raum, aus der Redaktion kam dann der Aufruf für das Organisierungsprojekt "Superlinke" dazwischen, den ich gerne unterstützt habe. Was das Scheitern des Projekts "Superlinke" betrifft, gab es dann aber wohl sehr unterschiedliche Einschätzungen zwischen Aktivist_innen meiner Generation und vielen älteren Genoss_innen und deren Vorstellung von zeitgemäßer Organisierung. Eine vertane Chance, um die es mir Leid tut und aus der - wie ich fürchte - leider die falschen Schlüsse gezogen wurden. Zu diesem Resümee komme ich zumindest, wenn ich mir die Zeitschrift und die nicht überwundene Frustration über das Scheitern einer politischen Organisierung im österreichischen Kontext, die in der Zeitschrift immer wieder mitschwingt, vor Augen führe.

Unterm Strich bleibt für mich, dass die erste Hälfte der grundrisse-Zeit für mich sehr wichtig war, was die Einschätzung nach dem Bedarf einer nicht auf Wahlen ausgerichteten Organisierung mit dem Wunsch "mehr zu werden" statt "unter sich zu bleiben" im regionalen Kontext betrifft. Die Gründung einer interventionistischen Linken in Wien ist für mich ein Schritt in genau diese Richtung, was die Organisierungsfrage betrifft.

Stefan: Über neue Ansätze der Organisierung, Regruppierung etc. wird in der Wiener Linken ja schon seit Ewigkeiten diskutiert und die grundrisse haben als strömungsübergreifendes Projekt hier auch immer wieder etwas angestoßen. Im Einladungstext zu den "Superlinken"-Treffen ging's ja um den Aufbau einer radikalen Linken, die gesellschaftliche Relevanz entfalten kann, und das war ja zumindest am Papier eine wichtige und spannende Initiative. Das erste Treffen, wo ich dabei war, hat mich dann aber ehrlich gesagt schon ziemlich irritiert und abgeschreckt. Das müsste so kurz nach den "unibrennt"-Protesten gewesen sein. Da saßen wir in einer größeren Runde im Amerlinghaus, wo ewig lang der Politik-Begriff zerlegt wurde und sich in der Diskussion ständig alte Männer produzierten. Als offenen, einladenden Organisierungsansatz habe ich das jedenfalls nicht wahrgenommen.

Jonas: Der "Mayday" in Wien ist für mich, seit ich hier bin, eine ziemliche Enttäuschung. Ich habe diese Verbindung zu den grundrissen auch nicht wahrgenommen. Der Aufruf "Europa Anders" zu wählen kam für mich zwar überraschend, ich fand das allerdings nachvollziehbar. In Wien sind in den letzten Jahren, so wie es mir immer erzählt wurde, ja alle spannenden linken Organisierungsversuche, zum Teil mit Beteiligung der Redaktion, gescheitert. Da greift man vielleicht nach jedem Strohhalm, um es etwas polemisch auszudrücken. Ich kann zwar nachvollziehen, dass man auf eine parlamentarische Alternative in Österreich hofft, habe aber nicht verstanden, wieso Teile der Redaktion bei "Europa Anders" so optimistisch waren und sich da so stark eingebracht haben, inklusive Wahlwerbung.

Renate: Ich würde sagen, dass die Menschen, die bei den grundrissen mitarbeiteten, einfach wirklich politisch unterschiedliche Positionen hatten, die bei Texten in der Zeitschrift und bei Theoriediskussionen teilweise auch heftig aufeinander knallten, was im Zeitschriftenprojekt kein Problem, sondern eher eine Bereicherung darstellte. Bei der Frage danach, wie und wozu sich praktisch organisieren, ging sich das aber eher nicht für eine tatsächliche gemeinsame Position aus. So sieht die Abfolge von Präferenzen für praktische Projekte denn auch tendenziell beliebig aus. Es waren ja nicht die grundrisse als gesamtes, die bestimmte Politikansätze vorantrieben, sondern immer nur Teile davon. Auf "Mayday" konnten sich alle irgendwie einigen (aber "Mayday" ist ja als Organisierungsansatz schon länger sanft entschlafen), die "Superlinke" war - wie ich das jetzt mit Abstand sehen würde - eine ziemliche Kopfgeburt, die iL-Nähe von Teilen der grundrisse fand u.a. in der Beteiligung an Blockupy Wien 2012 einen Ausdruck und zu "Europa anders" kann ich nicht so viel sagen, weil ich da nicht mehr in der Redaktion war. Ich finde es aber schon sehr auffällig, dass "Europa anders" in erster Linie ein Wahlprojekt war und ich bei allen Unterschieden in Bezug auf die Einschätzung von Beteiligungen an Wahlen es schon so in Erinnerung habe, dass die meisten in der Redaktion außerparlamentarische politische Organisierung für das Primäre hielten. "Europa anders" hätte ich auch als Wahlplattform eher als Strohfeuer eingeschätzt. So von außen betrachtet war "Europa anders" zu promoten denn auch eher eine Einzelinitiative innerhalb der grundrisse.

Warum bist du nicht in die Redaktion eingestiegen? Warum haben wir die Redaktion nicht übernommen - obwohl es Aufrufe aus der Redaktion gab, dies zu tun? Was könnte/müsste ein Zeitschriftenprojekt für eine organisierungsfreundliche, undogmatische, bewegungsnahe Linke heute leisten?

Stefan: Ich war nach dem Ende von Perspektiven 2011 und dem Scheitern diverser Neugruppierungsversuche zunächst einfach mal frustriert und hatte wenig Lust in eine Theoriezeitschrift einzusteigen. Grundsätzlich stimmt es wahrscheinlich, dass es Strömungszeitschriften leichter fällt, gewisse Bewegungsflauten durchzutauchen. Ich denke aber nicht, dass die Anbindung an Organisierungsprojekte notwendigerweise die Form einer Strömungszeitschrift annehmen muss, sondern durchaus als lose angedockte autonome Redaktion angedacht werden könnte. Jedenfalls sollten wir uns gemeinsam den Kopf zerbrechen, wie die Lücke, die die grundrisse hinterlassen, gefüllt werden könnte. Aus der iL Wien gäbe es sicher Interesse, sich an neuen Projekten zu beteiligen...

Rainer: Solche Aufrufe gab es im letzten Jahrzehnt mehr oder weniger explizit immer wieder, die habe ich wohl wahrgenommen. Zum einen ist die Hemmschwelle für einen vergleichsweise jüngeren Aktivisten, in eine nicht nur aber doch sehr theorielastige Redaktion zu gehen, natürlich nicht zu unterschätzen. Natürlich hätte es für jüngere geheißen, massive Anstrengungen unternehmen zu müssen, um sich durchzusetzen. Für Aktivistinnen wäre es wahrscheinlich noch einmal eine Nummer schwerer gewesen. Zum anderen hat es natürlich nicht nur mit der Redaktion zu tun.

2001 gab es eine globale Aufbruchsstimmung, die - überlagert von den Protesten gegen Blau-schwarz - auch in Österreich angekommen ist. Aus diesen Bewegungen und deren Ausläufern, zu denen ich auch den "Euromayday" zählen würde, war dann halt mal die Luft draußen. Für eine Zeitschrift mit starker Anbindung an eine Organisierung ist das sicher weniger ein Problem als für ein strömungsübergreifendes Projekt wie die grundrisse.

Jonas: Ich finde den Ansatz grundsätzlich immer noch gut, eine halbwegs strömungsübergreifende (Theorie-)Zeitschrift zu machen. Das bietet zumindest auf dem Papier die Möglichkeit zu innerlinken Auseinandersetzungen, wie sie bei anderen spannenden Projekten wie der Arranca nicht unbedingt stattfinden können. Daher trauere ich den grundrissen in gewisser Weise auch nach. Ich muss zugeben, ich würde mir schon wünschen, dass jemand das Ende der grundrisse zum Anlass nimmt, ein ähnliches Projekt mit neuem Namen und neuen Gesichtern zu starten. Vielleicht kann diese letzte Ausgabe dazu ja auch einen Teil beitragen, indem sie die Probleme, die ein solches Projekt mit sich bringt, offenlegt ...

Most Wanted - Most Hated. Dein Lieblingsartikel in den grundrissen und jener Text, den du eher nicht gebraucht hättest?

Jonas: Most Wanted: Serhat Karakayali, "Lotta Continua in Frankfurt, Türken-Terror in Köln, Migrantische Kämpfe in der Geschichte der Bundesrepublik". Most Hated: Die Diskussion zwischen Eo und Paul Pop zu "16 Thesen zur Weltrevolution", weil ich eigentlich nicht wissen will, dass jemand alle Stalin-Werke und Mao auf Chinesisch gelesen hat.

Rainer: Most Wanted: Martin Birkner und Käthe Knittler, "Ehekrise - zur Geschichte feministischer Marxkritik", weil der Text noch immer sehr lesenswert ist und dementsprechend oft nachgeahmt wurde. Most Hated: fällt mir grad nix ein.

Renate: Most Wanted: Da kann ich mich nicht auf einen Text festlegen, so auf Anhieb fallen mir drei Artikel ein, die mir besonders wichtig waren. Das ist einerseits ein Interview, das ich gemeinsam mit Daniel Fuchs mit der chinesischen Soziologin Pun Ngai geführt habe und das unter dem Titel "Deshalb spreche ich immer von Arbeit und Körper, denn mit dem Körper kommt mehr Subjektivität ins Spiel ..." erschienen ist. Zum einen weil es nicht viele Gelegenheiten gibt, mit linken Oppositionellen aus China zu sprechen, zum anderen weil dieses Gespräch ohne Daniel Fuchs nicht möglich gewesen wäre. Dann ein eher praktisch-politischer Text von AktivistInnen des Clandestina Network, "Barrikaden und Barrieren: MigrantInnen im "Griechischen Dezember", den ich gemeinsam mit Birgit Mennel übersetzt habe, weil er sich ausführlich damit beschäftigt, dass Menschen mit illegalisiertem Aufenthaltsstatus gegenüber Staatsbürger_innen innerhalb von Revolten völlig anderen Bedingungen unterliegen, was von der Linken immer noch zu wenig reflektiert wird. Und abschließend die Übersetzung eines etwas längeren theoretischen Textes von Kathi Weeks, "In der Arbeit gegen die Arbeit LEBEN. Affektive Arbeit, feministische Kritik und postfordistische Politik", weil sie versucht, postoperaistische Theorien zu Arbeit mit feministischen Theorien zu Reproduktionsarbeit zusammenzuführen. Dafür spar ich mir den Most-Hated-Artikel, da ich als Redaktionsmitglied ohnehin Veto gegen den Abdruck von Texten einlegen konnte und davon auch manchmal Gebrauch gemacht habe.

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Anton Pam (Paul Pop, Nemo Klee):

Ende der "Grundrisse" und die Krise der Linken

Die Einstellung der "Grundrisse" ist eine traurige Nachricht. Damit endet ein pluralistisches linksradikales Projekt, das den Anspruch hatte strömungsübergreifend zu sein. Als ich vor zehn Jahren zu den "Grundrissen" ging, zog mich besonders der kontroverse Charakter der Redaktionssitzungen an: Fast alle Männer und Frauen waren "Ex-": Ex-Autonome, Ex-TrotzkistInnen, Ex-MaoistInnen, Ex-StalinistInnen und hatten ein gewisses selbstironisches Verhältnis zur eigenen Vergangenheit. Denkverbote schien es nicht zu geben. Ein deutscher Anti-Deutscher-Ardonit nannte uns einmal "naive Wohlfühltruppe". Das war für mich genau das Richtige, nachdem ich in meiner Jugend in diversen Gruppen die Konflikte der kommunistischen Weltbewegung der 1930er Jahre nachgespielt hatte, andere GenossInnen wegen "kleinbürgerlichen Individualismus" ausschloss und schließlich selbst wegen "Antikommunismus" ausgeschlossen wurde. Hätten mich die "Grundrisse" nicht in ihre offenen Arme aufgenommen, hätte ich nach diesen frustrierenden Erfahrungen die linke Szene vielleicht damals verlassen.

In den letzten drei Jahren zeigten sich allerdings Verfallserscheinungen: Mit der Zeit bildete sich bei den "Grundrissen" ein orthodox-marxistischer und post-operaistischer Flügel heraus. Wir kannten die Positionen der Anderen so gut, dass wir jede Redaktionssitzung mit verteilten Rollen hätten nachspielen können. Die jungen Frauen, die eher von post-strukturalistischen Unidiskursen geprägt waren, verließen schließlich die Gruppe. Wie es ein Genosse ausdrückte, wurde die Ehe zwischen Marxismus und Post-Strukturalismus im gegenseitigen Einvernehmen geschieden. Der spätere Versuch, mit der "Superlinken" eine größere linksradikale Strömung in Österreich aufzubauen, scheiterte. Die Mitglieder der einzelnen Kleingruppen konnte wohl auch keine weitere Arbeitsbelastung mehr tragen. Am Ende zerfiel sogar der harte Kern der Redaktion der "Grundrisse". Aus einer Gruppe mit einem Umfeld von ca. 30 Menschen blieben eine Hand voll Menschen übrig. Am Ende war keine Frau oder Person unter 30 Jahren mehr dabei. Es ging noch einige Zeit weiter, weil immer noch genug Artikel (aus Deutschland) eingesandt wurden, um die vier Ausgaben im Jahr zu füllen. Es stand und fiel alles mit dem unermüdlichen Engagement von Karl Reiter, dass die Nummern noch in den Druck gingen.

Das generationelle Strukturproblem der linken Szene hat auch mit zum Ende des Projektes "Grundrisse" beitragen. In der linken Szene sind generell junge Menschen bis zum Alter von 25 Jahren aktiv und dann wieder ältere über 40. Die Generation dazwischen fehlt fast komplett, weil in diesem Alter viele vielleicht die Zeit für die eigene (Universitäts)karriere brauchen. Kleine Kinder zu haben, ist mit Aktivismus in der linken Szene oft unvereinbar, da Kinderbetreuung sehr zeitaufwendig ist. Besonders deutlich wurde die Bedeutung von Lebensabschnitten in der Szene bei der Auflösung des linken Wiener Projekts "Perspektiven: Magazin für linke Theorie und Praxis" im Jahr 2012. Einige Monate vor dieser Auflösung phantasierten ihre Mitglieder noch über die Gründung einer linksreformistischen Partei in Österreich. Die Gruppe verfiel fast zeitgleich mit den MA-Abschlüssen ihrer führenden Mitglieder, die dann entweder Wien verließen oder sich auf ihre akademische Kariere vor Ort konzentrieren mussten. Viele FreundInnen und Bekannte um die 30 Jahre in meinem Umfeld schaffen es doch an Universitäten oder ihrem Umfeld unterzukommen, wenn sie bereit sind auf dem gesamten europäischen Arbeitsmarkt zu suchen. Man sollte daher die weiter bestehende Integrationskraft des Systems nicht unterschätzen. Die Mobilität der Arbeitskraft ist eine große Herausforderung für eine ortsgebundene Szene. Auch ich verließ die "Grundrisse" kurz vor der Auflösung, da ich in ein anderes Land für die Universitätskarriere umzog.

Zwar bestehen linke Gruppen auch jenseits der politischen Konjunktur, trotzdem hat der Niedergang der "Grundrisse" vielleicht auch einige "objektive" Gründe: In den ersten Jahren diskutierten wir mit Begeisterung die Bücher Negri/Hardt "Empire" und John Holloway "Die Welt verändern ohne die Macht zu übernehmen" als neue Perspektiven für die kommunistische Bewegung. Die Hoffnungen, die Negri/Hardt auf die "Anti-Globalisierungsbewegungen" setzen, erfüllten sich jedoch nicht und die globalen Sozialforen wurden schnell langweilig. Meiner Meinung nach fiel Negri/Hardt und Holloway nach ihren großen theoretischen Würfen nicht mehr viel Neues ein und in späteren Büchern wurde Bekanntes recycelt. Wir hofften natürlich, dass wenn die Menschen global rebellieren werden, würde auch die Linke in Zentraleuropa an Zulauf gewinnen. Leider spielte selbst in den Aufständen des Arabischen Frühlings (2010-2012) eine radikale Linke keine große Rolle. Den Bewegungen gelang es nicht eine Agenda zu entwickeln, die über die bürgerliche Gesellschaft hinauswies oder gar die Eigentumsordnung in Frage stellte. Ein "Spill over"-Effekt auf das gute alte Wien gab es schon gar nicht.

Von der schwersten Wirtschaftskrise des Kapitalismus seit 1929 konnte die Linke in Österreich und Deutschland nicht profitieren. Die "Uni brennt"-Bewegung in Österreich (2009-2010) führte nicht zur Stärkung der linken Gruppen. Von einer der größten Studierendendenproteste in der Geschichte der Republik blieben nur einige AktivistInnen übrig. In Deutschland und Österreich gelang es den Herrschenden eine massenhafte Verarmung wie Ende der 1920er Jahre zu verhindern und Banken mit riesigen Hilfspakten zu retten. Für Bezieher von staatlichen "Hilfeleistungen" und Flüchtlinge wurden die Zeiten härter. Der Angriff auf die Kernbelegschaften des öffentlichen Dienstes und der Schlüsselindustrien blieb allerdings aus. Das große Sparpaket kam (bis jetzt zumindest) nicht. In Österreich gelingt es der Sozialdemokratie auch weiterhin Kräfte vom Rechtspopulismus bis hin zum ex-trotzkistischen Jugendbewegten einzubinden und eine Abspaltung von Partei und Gewerkschaft in Form einer "Linkspartei" wie in Deutschland zu verhindern. Die tägliche Propaganda der Presse, dass die "faulen Südeuropäer" und ihr nicht zu zügelnder Ausgabendrang an der Krise Schuld seien, wird von Menschen der unterschiedlichsten Klassen geglaubt und hält die "Sozialpartnerschaft" zusammen. Die nicht erfüllten Hoffnungen auf eine globale revolutionäre Offensive trugen vielleicht auch dazu bei, dass die "Grundrisse" der marxologischen Debatte, um die richtige oder falsche "Kapital"-Exegese einen immer größeren Raum einräumten, statt sich auf die aktuellen sozialen Bewegungen zu fokussieren. Außerdem waren Frauen nur schwer dazu zu bewegen Artikel einzureichen und feministische Theorien waren zu selten Thema.

Trotz allem möchte ich mich bei den Genossen und Genossinnen für die langjährige Zusammenarbeit bedanken. Wir können auf 52 Ausgaben der "Grundrisse" stolz sein. Zum Abschied fliegt sie in den grenzenlosen Himmel und wir werden eines Tages ausrufen: "Oh! Welch schöne rote Rakete!".

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Karl Reitter:

Warum ich dafür eintrat, die grundrisse einzustellen

Es existieren mehrere überlappende und sich verstärkende Gründe, die Herausgabe der Zeitschrift grundrisse einzustellen. Da gibt es einmal die ganz schlicht persönlichen. Nach der Produktion von 52 Ausgaben, der Lektüre und Diskussion von über 300 Artikeln, die Buchbesprechungen nicht eingerechnet, und nach mehr als 200 Redaktionstreffen ist die Luft draußen. Zudem sind zwei wichtige Redaktionsmitglieder aus beruflichen und persönlichen Gründen aus Wien weggezogen. Redaktionsarbeit über die Entfernung hinweg - das funktioniert nicht. Vor allem gelang es uns letztlich nicht, die Redaktion zu verjüngen und weibliche Mitarbeiterinnen zu gewinnen. Im Gegenteil, jene, die sich an der Redaktionsarbeit beteiligten haben uns schlussendlich verlassen. Unser verdammt ernst gemeintes Angebot in der Nr. 41, die Redaktion mit allem Drum und Dran an eine jüngere Gruppe zu übergeben, verhallte ungehört. Damals schrieben wir: "Wir suchen daher dringend Personen und Gruppen, die die Verantwortung für die Herausgabe unserer Zeitschrift übernehmen wollen. Wir werden selbstverständlich mit Rat und Tat zur Seite stehen, um so eine reibungslose Übergabe zu gewährleisten. Meldet euch - wir meinen es ernst!" Diesem Aufruf war kein Erfolg beschieden. Aber es war nicht bloß eine gewisse Erschöpfung und all zu viel Routine, die uns bewog, die Zeitschrift einzustellen. Es gab auch positive Aspekte. Wir alle, die länger oder gar durchgehend an der Redaktion beteiligt waren, haben dadurch sehr viel gelernt. Wenn ich nur für mich sprechen darf, ohne die Diskussionen, die Abfassung von Artikeln und die Rückmeldung aus der Redaktion und ihrem Umfeld hätte ich kaum meine Habilitation und andere meiner Texte, so wie sie vorliegen, schreiben können. Die Mitarbeit in der Redaktion hat uns alle verändert. Dass in den letzten Jahren und Monaten, insbesondere für jene, die von Anbeginn dabei waren nach und nach andere Projekte in den Vordergrund und die eigentliche Redaktionsarbeit in den Hintergrund trat, hat einiges mit der Entwicklung zu tun, die wir alle der Redaktionstätigkeit verdanken. Der Schwerpunkt meiner theoretischen Arbeit verlagerte sich immer mehr weg von der Redaktionsarbeit hin zu meinen Lehrveranstaltungen, Referaten und zu den Publikation meiner Bücher und Sammelbände. Derzeit arbeite ich an einem Band mit dem Titel: Karl Marx. Philosoph der Befreiung oder Theoretiker des Kapitals? Zur Kritik der neuen Marx-Lektüre und darüber hinaus. Andere Mitglieder der Redaktion machten ähnliche Erfahrungen.

Diese persönliche Dimension hängt klarerweise nicht in der Luft. Sie ist verknüpft mit der allgemeinen gesellschaftlichen und politischen Entwicklung, hier in Österreich und weltweit. Ein wesentlicher Ansporn die Herausgabe einer linken Theoriezeitschrift zu versuchen war zweifellos die Bewegung gegen Schwarz-Blau, also gegen die von der ÖVP und der FPÖ gebildeten Bundesregierung im Jahre 2000. Zuerst täglich, dann jeden Donnerstag gab es fast drei Jahre Demonstrationen mit durchaus bemerkenswerten TeilnehmerInnenzahlen. Personen, die "früher", wie das so nett heißt, aktiv waren und sich dann längere Zeit politischer Aktivitäten enthielten, engagierten sich wieder. Die österreichische Linke war erwacht, in einer Stärke und Intensität, die vorher kaum wer vermutet hätte. In die Gründungsphase der grundrisse fiel auch die Sozialforenbewegung, die in Österreich wohl wichtiger als in Deutschland war. Als 2003 das erste österreichische Sozialforum in Hallein abgehalten wurde, waren bereits sechs Ausgaben veröffentlicht. Wir waren ein Teil der Linken geworden und wurden als solcher auch wahrgenommen. Die Bewegung gegen Schwarz-Blau und nicht zuletzt die Sozialforen wurde von einer Linken getragen, die offen, aneinander interessiert und theoriehungrig war. Es dominierte in der Linken ein organisatorisches Grundverständnis, welches insbesondere in Netzwerkstrukturen emanzipatorische Formen erkannte. Die Linke und ihre Organisationsformen sind ein Thema für sich. Ich hoffe, meine LeserInnen erlauben mir hier in diesem kleinen Rückblick auf die Entwicklung der grundrisse Redaktion einen kurzen allgemeinen theoretischen Einschub. Auf den Punkt gebracht meine ich, dass Organisationsstrukturen keine bloße innerlinke Angelegenheit sind. Die gesellschaftliche Produktion und Reproduktion benötigt, je nach Entwicklungsstand der Produktivkraft der Arbeit, bestimmte organisatorische Formen. Hinzu treten andere Formen sozialer Beziehungen, von den Verwandtschaftsverhältnissen über tradierte Formen des religiösen Lebens bis hin zu den Strukturen, die das jeweilige politische System erfordert; aktuell zwingt der Parlamentarismus jenen Gruppen, die sich an den Wahlprozessen beteiligen, ganz bestimmte Organisationsformen auf. Die Linke kann und muss sich dazu verhalten, sie kann diese Verkehrsformen reflektieren, auf emanzipatorische und befreiende Aspekte hin untersuchen und diese stark machen. Aber sie existiert als sozialer Körper nicht jenseits dieser Verhältnisse. Dass die hierarchischen Parteistrukturen der Vergangenheit den hierarchischen Organisationsstrukturen in der Fabrik entsprachen, liegt wohl auf der Hand. Tatsächlich reproduzierten die nach der Ära des Fordismus entstandenen und oftmals als neu und emanzipatorisch gepriesenen Netzwerkstrukturen der Linken jene Strukturen, die in der neoliberalen Phase Produktion und Verwaltung prägen. Das gilt es einmal ganz unaufgeregt zu konstatieren. Dass wir uns als unabhängige theoretische Zeitschrift mit politischem Anspruch strömungsübergreifender Ausrichtung gründeten, fügte sich gut in die politische Landschaft der 00er Jahre.

Bewegte sich die Linke auf neue Ufer zu? Aber wie konnten sie aussehen, wo konnte sie vor Anker gehen? Da kam das große Theorieangebot des Buches Empire, verfasst von einem Veteranen des italienischen Operaismus, Antonio Negri und einem us-amerikanischen Literaturwissenschaftlers mit besonderer Neigung zur Philosophie Jacques Deleuzes, Michael Hardt. Die Redaktion reagierte mit großem Interesse, um nicht zu sagen enthusiastisch auf dieses Buch. Neue Begriffe und neue Theorien wurden da vorgeschlagen, die offenbar der aktuellen gesellschaftlichen Entwicklung angemessen waren. Das allgemeine Interesse war groß; tatsächlich entstand etwas, was es schon jahrelang kaum gegeben hatte: Arbeitskreise, in denen gemeinsam dieses Buch gelesen und diskutiert wurde. Unsere Redaktion wurde durch unser Interesse an Empire sehr rasch als postoperaistisch punziert. Das stimmte und stimmte doch nicht. Es wurden durchgehend Artikel veröffentlicht, die alles waren, nur nicht postoperaistisch. Zudem gingen manche Mitglieder der Redaktion mit unterschiedlichem Tempo nach und nach auf Distanz zu Negri und Hardt. Zudem blieb es nicht bei Empire als theoretischem Bezugspunkt. Große Beachtung fand ebenso das Buch von John Holloway, Die Welt verändern, ohne die Macht zu übernehmen. Die von der Redaktion organisierte Veranstaltung mit ihm war wohl die am besten besuchte überhaupt. Eine ähnliche Rolle, wenn auch nicht so bedeutend, spielt Virnos Grammatik der Multitude. Vor dem Hintergrund der Schriften von Negri, Virno und in geringerem Maße von Badiou kam es zu einem gewissen Einfluss poststrukturalistischer Philosophien, zumal manche damaligen Mitlieder der Redaktion diesen Theorien doch recht nahe standen. Aber wir wollten nie eine Strömungszeitschrift werden. Im Poststrukturalismus zu terminieren, das war keine Perspektive. Insbesondere für mich war und ist der Poststrukturalismus inakzeptabel. Hie und da ein Artikel, der im Geiste von Deleuze, Guattari oder Foucault geschrieben ist, warum nicht? Aber sich diesem Diskurs insgesamt zu verschreiben - keinesfalls.

Alle die soeben erwähnten Bücher sind vor mehr als zehn Jahren erschienen. Inzwischen ist die Strahlkraft dieser Versuche, radikales gesellschaftskritisches Denken zu erneuern, erstmals verblasst. An die Stelle bemerkenswerter theoretischer Innovationen traten nicht zuletzt massive Verfallserscheinungen in der Linken. In der Gründungsphase der grundrisse war das antideutsche Lager, zumindest in Österreich, noch lange nicht dort angekommen, wie es heute steht, nämlich unverrückbar auf Seiten imperialistischer Herrschaft. Da wir uns weder ins Fahrwasser der Wertkritik, noch des Poststrukturalismus begeben wollten, hing unsere theoretische Auseinandersetzung etwas in der Luft. Den neuen Entwicklungen, von Occupy bis zur Debatte um die Commons schenkten wir zwar gebührliche Betrachtung, zur Achse unserer theoretischen Weiterentwicklung konnten und wollten wir sie wohl zu Recht nicht erheben. Dass derzeit kein neuer funkelnder theoretischer Bezugspol existiert, ist nicht unbedingt ein Nachteil. Besonders förderlich ist sie für eine Theoriezeitschrift aber auch nicht. Nach und nach fehlte uns ein gemeinsamer Bezugspunkt, oder warum nicht im Plural - Bezugspunkte. Insofern haben es Zeitschriften, die sich einer bestimmen Richtung verschieben haben, leichter. Solange ein Milieu existiert, welches die Botschaft interessiert rezipiert und sich über dieses Publikation identifiziert, ist die Fahrtrichtung gesichert. Dass das antideutsche Milieu, die neue Marx-Lektüre neuerdings, die Wertkritik allerdings schon seit Jahren und Jahrzehnten über ihre Publikationsorgane verfügt ist für diese Strömungen mehr oder minder unumgänglich - ohne diese gäbe es sie quasi gar nicht. Da die grundrisse jedoch niemals eine einheitliche Botschaft verkündeten und verkünden wollten, löst sich mit dem Ende unserer Zeitschrift auch keine Strömung der Linken auf.

Vor allem ist hingegen etwas eingetreten, was ich so formulieren möchte: Die Linke ist erneut praktisch gefordert. Die alles wissen werden sagen: das war doch immer schon so. Jein. Die lockere, ins Unverbindliche reichende organisatorische Netzstruktur der Linken war sicher der Jahrtausendwende angemessen, sonst wäre sie auch gar nicht in dieser Breite entstanden. Aber sind die Ernüchterungen bezüglich der vorgeblichen neuen Möglichkeiten dank der Netzwerkstrukturen im Erwerbsleben nicht dazu angetan, auch die Grenzen und Beschränkungen politischer Vernetzungen und loser Allianzen zu reflektieren? Nach meiner Auffassung hat sich die gesellschaftliche Situation auch und gerade in Europa verschärft. Die herrschenden Klassen haben ihre Beißhemmung abgelegt, schrieb ich in den letzten Monaten mehrmals. In meiner Sichtweise hat die neoliberale Herrschaft um 2008 das Tempo verschärft. Die Versprechen auf mehr Selbstbestimmung und Authentizität durch und in den neuen Arbeitsformen und Arbeitsverhältnissen wichen einem brutaleren Zugriff auf das Individuum. An die Stelle verklausulierter Freiheitsversprechen, insbesondere durch den Rückbau des Staates, traten die offenen Imperative: Mehr und länger arbeiten für weniger Geld. Und vor allem wurden die alten, klassischen liberalen Tugenden, die doch das Individuum stets vor den Zugriffen der Staatsmacht bewahren wollten, zugunsten des Gegenteils aufgegeben. Dank den Enthüllungen von Edward Snowden wurde das ganze Ausmaß der Überwachung ersichtlich, Folter wird ungeniert als Mittel bejaht. Der offene imperialistische Zugriff auf unliebsame und eigenbrötlerische Regime, Zerstörungen, Traumatisierungen und Elend inklusive, erfolgt inzwischen im Jahrestakt. Der letzte Akt war wohl der mit Euro- und Dollarmillionen forcierte Sturz der Regierung in der Ukraine und der darauffolgende Propagandakrieg willfähriger Medien. Wem es wir zu verdanken haben, dass bis dato kein Krieg gegen Russland begonnen wurde, entzieht sich meiner Kenntnis: Die USA, die Schriebtischtäter diverser Redaktionen und die GRÜNEN im Europaparlament waren es sicher nicht. Bitte diese kleine Skizze nicht als Analyse zu verstehen. Ich will damit nur jene Veränderungen andeuten, die wir alle letztlich sehr gut kennen, zumal wir von ihnen oftmals unmittelbar betroffen sind.

Eine erste Reaktion auf die sich verändernden gesellschaftlichen Verhältnisse war das Projekt Superlinke. Die ersten Überlegungen fielen ins Jahr 2009. Nicht alle, aber ein Großteil der Redaktion versuchte ernsthaft auf Basis breiter Bündnisse eine Organisation mit gesellschaftlicher Bedeutung aufzubauen. Schon vorher gab es Versuche aus der Redaktion, eine Gruppe mit dem Namen Révolte zu gründen. Anfänglich entwickelte sich die Superlinke vielversprechend. Höhepunkt war ein ganztägiges Treffen, an dem über achtzig Personen diskutierten. Doch danach bröckelte die Teilnahme, etwa ein Jahr später galt es, das Ende des Versuchs zu verkünden. Woran ist die Superlinke gescheitert? Vielleicht an der fehlenden Phantasie, sich eine lebendige Organisation vorstellen zu können? Oder am Bedürfnis, lieber im überschaubaren kleinen Kreis zu agieren, als sich auf ein Abenteuer mit ungewissen Ausgang einzulassen? Oder an kleinlichen Befindlichkeiten? Wahrscheinlich an allem ein wenig. In der Rückschau war es wohl auch ein Fehler, die KPÖ nicht stärker einzubinden. Wie auch immer, der Versuch war gescheitert, nicht gerade eine Ermutigung, sich weiter zu engagieren. Aktuell gibt es die Initiative, "Wir wollen es anders - Plattform der Unabhängigen", die anknüpfend an die Kandidatur "Europa anders" versucht, erneut Bündnisse zu knüpfen. Ich halte organisierte, praktische Interventionen für aktuell besonders dringlich. Eine politische Kraft, die auch in die Tagesdebatten interveniert, wäre nötiger denn je. Ob aus dem Projekt Wir wollen es anders in Zukunft eine derartige Organisation erwächst, ist momentan nicht abzusehen. Aber auch dafür ist eine Theoriezeitschrift die lange, gewissermaßen zeitlose Texte veröffentlicht, nicht das geeignete Medium. Die grundrisse sind sozusagen einer sich öffnenden Schere zum Opfer gefallen. Einerseits verlagerte sich (nicht nur) meine theoretische Arbeit immer mehr auf Buchprojekte und Referatstätigkeit, andererseits wuchs das Bedürfnis, tagespolitisch zu intervenieren. Die Redaktionsarbeit entsprach weder dem einen, noch dem anderen. Es war also Zeit für neue Projekte. Wie angekündigt wollen wir ab 2015 monatlich Jour fixe durchführen, auch an die Reaktivierung unserer Sommertreffen ist gedacht. Infos dazu gibt es unter http://blog.grundrisse.net/. Es wäre übertrieben von Aufbruchstimmung zu sprechen, aber eine gewisse Freude, nun neue Wege gehen zu können, war allen anzumerken.

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Franz Naetar:

Einstellung der grundrisse - doch wir tun weiter!

Den ersten Kontakt zu den grundrissen hatte ich bei einem mehrtägigen Seminar über "Empire" von Hardt und Negri. Zum ersten Mal nach vielen Jahren hatte ich den Eindruck an einer philosophisch politischen Diskussion teilzunehmen, die interessant war und wo die TeilnehmerInnen einander nicht gegenseitig ihre alten Argumente an den Kopf warfen sondern versuchten einander zuzuhören. Zuvor hatte ich mich nach dem jahrelangen Engagement beim maoistischen Kommunistischen Bund (KB) für 20 Jahre von den meisten politischen Aktivitäten zurückgezogen. Allerdings hatte die intensive Auseinandersetzung mit Marx und insbesondere mit dem Kapital (der KB führte jeweils eine Woche dauernde Schulungen, Diskussionen über den ersten und dritten Band des Kapitals durch) mir klar gemacht, dass die einzig solide Analyse des Kapitalismus und seiner Tendenzen noch immer am ehesten im Kapital zu finden sei. Schon der Name "grundrisse" war daher für mich Anregung. Die Diskussionen über "Empire" erweckten bei mir nicht nur die Hoffnungen, hier auf Marx aufsetzend die Entwicklungen im kapitalistischen Weltsystem der letzten Jahre zu verstehen sondern machten mir auch die Entwicklungen an meinem Arbeitsplatz verständlicher.

Ich arbeitete seit Mitte der Siebziger Jahre in großen multinationalen Konzernen (Siemens, Philips und Nixdorf) im Bereich der Softwareentwicklung. Sowohl von ihrer Position im Verhältnis zu den nationalen Ökonomien, wie auch in der Entwicklung der internen Produktionsprozesse fanden große Veränderungen statt. Europäische Multis wie Siemens verloren langsam ihre staatlich gestützte Monopolstellung, die ihnen gestattete mit hohen Gewinnspannen langfristig zu planen und zu kalkulieren. Gleichzeitig wurden die Produktionsprozesse immer komplexer und verlagerten sich von "hardwaregesteuerten" sich nur langsam ändernden proprietären (firmen spezifischen) Technologien in "softwaregesteuerte" auf zunehmend standardisierte Hardware aufsetzende Verfahren. Anders ausgedrückt die verhassten bürokratisch standardisierten fordistischen Produktionsverhältnisse begannen sich aufzulösen. Diese Prozesse besser zu verstehen, versprachen die Arbeiten von Hardt und Negri und die Auseinandersetzung mit den älteren operaistischen Theorien.

Den Verlust der Kontrolle durch das Management, das immer weniger von der realen Inhalten der Produktion verstand machte auch die Überlegungen zum zunehmend parasitären Charakter des Kapitals und der Verlagerung des Wissens in die Köpfe der Produzenten, wie sie Negri feststellte, plausibel.[1] Eine weitere wichtige Erkenntnis dieser Jahre war den Zusammenhang zwischen den Formen der Produktion und den der Politischen Organisationsformen zu erkennen. Sowie sich die großen hierarchischen von oben nach unten gesteuerten Betriebe aufzulösen begannen so lösten sich zunehmend auch die ähnlich hierarchischen Organisationsformen in politischen Gruppen und Partien auf und die neuen Bewegungen zeichneten sich eher durch ihre Vernetzung und horizontale Verbindungen aus. Diese Organisationsformen gestatteten auch heterogene politische und soziale Organisierungen zu entwickeln, wie sie in den Antiglobalisierungsdemonstrationen und bei den sozialen Foren ihren Ausdruck fanden.

Für diese neuen Organisationsformen standen (und stehen) auch die grundrisse. Diese zeichneten sich nicht nur dadurch aus, dass die Redaktionsmitarbeiter in den verschiedensten linken Organisationen vorher aktiv waren. Neben früher in trotzkistischen und maoistischen Organisationen tätigen GenossInnen waren in der Redaktion auch AktivistInnen, die sich in den autonomen Bewegungen organisiert hatten und andere, die erst durch die Proteste gegen die schwarz-blaue Regierung aktiviert wurden. Für mich war es nach den meist unproduktiven Auseinandersetzungen innerhalb der sogenannten Kaderorganisation bzw. dem Gerangel zwischen diesem und den autonomen Initiativen ein Vergnügen mit GenossInnen, die eine weitgehend unterschiedliche politische Sozialisationen erlebt hatten, zusammenzuarbeiten. Die Freude an neuen Erkenntnissen über gesellschaftliche Entwicklungen, das Vergnügen wieder ohne Scham das "K-Wort" Kommunismus aussprechen zu können, die Erkenntnis und der Glaube, dass der Widerstand der Ausgebeuteten vorrangig ist und die herrschenden Klassen, diejenigen sind, die reagieren (müssen) gestatteten, dass sich ein Klima des vorsichtigen Optimismus entwickeln konnte, den ein deutsche Genosse kritisch als die "Wohlfühlpartie in Wien" bezeichnete - wo diese Bezeichnung voller Freude angenommen wurde.

Auch in den veröffentlichten Artikeln wurden unterschiedlichste Standpunkte eingenommen: Da gab es den eher der Schule der Regulationstheorie nahestehenden und aus der universitären Forschung kommenden Artikel, den in der "postoperaistischen" Tradition von Deleuze und Guattari stehenden Beitrag; daneben natürlich die Artikel, welche die aufkeimende Marxinterpretation aufnahm und kritisierte und solche, die aus dem anarchistischen Umfeld stammten. Teilweise gelang es auch feministische Artikel zu veröffentlichen, die, getragen von der Rezeption von Judith Butler, in die Debatten eingriff, und auch der antirassistischen Bewegung Platz für Veröffentlichungen zu bieten.

Leider sind viele dieser "Querverbindungen" im Laufe der Zeit weniger und weniger geworden, was auf die Schwierigkeiten der linken Bewegungen hinweist, strömungsübergreifend handeln zu können[2] und meiner Meinung auch einer der Gründe ist, weswegen wir die Zeitschrift einstellen. Trotz des strömungsübergreifenden Charakters der grundrisse gab es auch einige Fixpunkte, in denen sich die Artikel von anderen Zeitschriften unterschieden:

• Die "grundrisse" waren staatskritisch und Artikel, die Hoffnungen auf das Eingreifen des Staates setzten, wurden nicht veröffentlicht.

• Leninistische Parteikonzepte wurden im Wesentlichen abgelehnt, wenn auch das Verhältnis zur Geschichte der kommunistischen Bewegung in der Redaktion sehr unterschiedlich war.

• Den Kapitalismus als eine vollständig totalisierende Gesellschaftsformation zu betrachten, die Klassenkampf und andere Kämpfe zur gesellschaftlichen Emanzipation als rein innerkapitalistische Veranstaltung interpretieren wollen, gaben die grundrisse keinen Raum.

Neben der Auseinandersetzung mit Negri war für mich die Entdeckung des französischen Philosophen Alain Badiou ein wichtiges Resultat der Mitarbeit an der Zeitschrift. Als selber aus der maoistischen Bewegungen kommend, gefiel und gefällt mir seine kritische, aber die Vergangenheit nicht blind ablehnende Auseinandersetzung mit dem Maoismus und insbesondere der chinesischen Kulturrevolution. Wichtiger ist mir aber was anderes bei ihm: Er versucht sich mit der Frage auseinanderzusetzen, was nach dem Ende der staatsorientierten Parteien als revolutionäre Organisationen - in erster Linie die kommunistischen Parteien, heute eine (Selbst)organisation sein kann, die den Kapitalismus und die parlamentarische Demokratie überwindet. Im Mittelpunkt steht bei ihm die Frage, wie etwas Neues in die Welt kommt und Ausgangspunkt ist für ihn ein Ereignis und die Wette darauf, dass sich aus den subjektiven Folgerungen aus dem Ereignis eine politische Spur entwickelt, die aus dem herrschenden Selbstverständnis und Gesetz ausbricht. Es war daher naheliegend in einem Arbeitskreis den ersten Band seines Hauptwerkes "Sein und Ereignis" durchzuarbeiten und zu diskutieren. Mit über 10 TeilnehmerInnen zu Beginn, wobei einer zufällig an den zentralen mathematischen Theorien, auf denen das Buch gründet arbeitete, schien die Möglichkeit gegeben hier neue Elemente in die innerredaktionelle Debatte zu bringen. Leider scheiterte der Arbeitskreis nach fünf, sechs Treffen und ich selber war auch nicht in der Lage in Artikeln an diesen Fragen weiterzuarbeiten.

Eine wunderbare Möglichkeit verschiedenste Themen tiefer zu besprechen, stellten die Sommerseminare dar, die bis auf einmal in dem kleinen Ort Hegymagas am Balaton stattfanden und die wir auch nach der Einstellung der grundrisse weiterführen wollen. Die Themen reichten von Staats- und Klassentheorien bis zu Genderthemen und es nahmen tw. über 20 Personen an ihnen teil. (Die Fotos, die wir in dieser Nummer veröffentlichen, stammen zu einem guten Teil von diesen Seminaren.) Höhepunkt der Seminare waren die von Karl Reitter gegrillten Tandoori Hühnerkeulen. Der wunderbare Tagungsort mitten in den Weinbergen mit einer phantastischen Aussicht auf den See ist sicherlich jeder/jedem, der daran teilnahm in Erinnerung.

Der Versuche aus dem Umfeld der grundrisse eine politische Organisation (die Superlinke) zu initiieren scheiterte ja leider. Das Konzept war in einer lockeren Organisation die verschiedensten Strömungen unter eine lose gestaltetes Dach zu bringen ohne an den diversen existierenden Formen von Organisation und Mitgliederreglungen etwas zu ändern. Auch wenn es an manchen der Veranstaltungen eine große Anzahl von TeilnehmerInnen gab, gelang es nicht die Generation der 20ig jährigen zu gewinnen. Meiner Meinung nach ist es ohne die Teilnahme dieser Altersgruppe an einer Organisation sehr schwer genügend Kraft zu entwickeln, um dann viele andere zu aktivieren, sich der Organisation anzuschließen.

Ja was sind nun meine Gründe, warum ich dem Ende der Papierzeitschrift grundrisse zustimme. Sicher sind es nicht die sich immer mehr verringernden ständigen Teilnehmer an der Redaktionsarbeit. Wenn ich den Eindruck hätte durch die Zeitschrift etwas sozial und politisch bewegen zu können, wie das bis zu einem gewissen Grad in den Jahren der "Hochblüte" der Zeitschrift der Fall war, würde sich dennoch der Einsatz meiner Meinung nach lohnen. Zwar wurde die Publikation auch in den letzten zwei Jahren mit Wohlwollen vom Publikum aufgenommen und wir erhielten während der ganzen Zeit nicht wenige Artikel zu gesandt, meist aus Deutschland von Schreibern (fast alle männlich) unserer Generation der 50-70jährigen, aber die Zeitschrift lief einfach wie ein Zug der nicht stehen bleiben kann und will.

Für mich finden sich die Hauptgründe, die ein Weitermachen in der bestehenden Form wenig sinnvoll machten, in der politisch-sozialen Krise vor allem in West und Nordeuropa. Noch 2011 waren wir in der Redaktion der Meinung, dass sich aus den Bewegungen des arabischen Frühlings, den Kämpfen in Südeuropa und der Occupy Ansätzen in den USA eine weltweite neue linke Bewegung konstituieren könnte. Analysen dieser Bewegungen waren auch ein theoretisches Feld das sich in Artikeln und Büchern von Negri, Zizek bis Badiou widerspiegelte. Auch dass Kongresse über den Begriff Kommunismus mit tausenden TeilnehmerInnen organisiert werden konnten, war sehr ermutigend. Meiner Meinung nach sind aber die sichtbaren Spuren dieser Ereignisse sehr schwach. Ganz sicher zeigen sie sich in potentiellen und realen Gewinnen bei den Wahlen in Griechenland und Spanien. Wobei für mich unklar ist, ob daraus mehr als eine Wahlbewegung entsteht. Jedenfalls gibt es kaum theoretisch praktische Debatten über die globale Relevanz dieser Schritte und deshalb findet sich auch kein Widerhall in den theoretischen - philosophischen Artikeln unserer Zeitschrift. Wie partiell die Wahrnehmung der Welt zur Zeit - zumindest in Österreich ist - zeigen der Elan mit dem die mutigen Kämpfe der syrischen Kurden in Rojava insbesondere in Kobané unterstützt werden, während es kaum Interesse in der Linken gibt sich mit den Ereignissen in der Ukraine auseinanderzusetzen, die schon bisher über 4000 Tote forderte und die Kriegsgefahr in Europa gefährlich ansteigen ließ. Unser Versuch einer Debatte darüber hatte kaum mehr als 20 TeilnehmerInnen. Ich habe den Eindruck, dass die Linke den brennenden Fragen zurzeit eher ausweicht und lieber auf bekanntem Terrain bleibt. Ohne mit der Wimper zu zucken (und zu Recht) wird für die Bewaffnung des kurdischen Widerstands Geld gesammelt während doch gerade noch die Abschaffung der Wehrpflicht aktuell war. Die Verwirrung - auch bei mir - ist groß.

Vielleicht ist gerade ein monatlicher jour fixe und hoffentlich daraus entstehende Sommerseminare ein Weg für die im Kontext der grundrisse stehenden Menschen einen Beitrag zu hoffentlich in der Linken einsetzenden Debatte zu leisten.


Anmerkungen

[1] Die Übergangszeit zwischen der starren fordistischen Produktion und der Verfestigung der postfordistischen Verhältnisse mittels Ausdehnung der marktförmigen Beherrschung der Produktion bis in die kleinsten Gruppen der Firmen hinein, zu beschreiben, wäre wert ausführlich dargelegt zu werden. Hier nur so viel: In dieser Phase verlor das Management die Fähigkeit die avancierten Bereiche der Produktion zu kontrollieren und die sich in vielen Bereichen selbstorganisierenden Produzenten erfreuten sich gegenüber früher unverhältnismäßig vieler Freiheiten. Unser Team kooperierte z.B. am Management mehr oder weniger vorbei mit diversen Gruppen in Kalifornien. Von meinen Exkollegen, die jünger waren als ich und weiterhin in der Industrie arbeiten, wird diese Phase als die "goldene Jahre" dazwischen empfunden.

[2] In den 13 Jahren des Erscheinens der "grundrisse" gab es nur wenige Aktionen und Demonstrationen, an denen sich das ganze linke Spektrum beteiligte; meist waren es die in dem jeweiligen Thema Aktiven, die sich beteiligten und andere wussten oft nicht einmal davon.

*

Jannik Eder:

Das letzte Jahr der Grundrisse

Ein Bericht des ersten und letzten Praktikanten

Eines sei gleich vorweg angemerkt: Dass zwischen meinem Beitritt zur Grundrisse-Redaktion und dem Beschluss die Zeitschrift einzustellen nur etwa ein Dreivierteljahr liegt, ist nichts weiter als purer Zufall - meine Tätigkeit für die Grundrisse seit Anfang des Jahres hat nun wirklich nichts damit zu tun, dass die Zeitschrift mit Ende 2014 aufgelöst wird. Dass es angeblich dieser Praktikanten-Jungspund Mitte Zwanzig war, der die ergraute Redaktion letztlich so zur Verzweiflung gebracht hat, dass man wirklich sämtlicher Hoffnung beraubt war, die Zeitschrift irgendwann doch noch an eine jüngere Generation weitergeben zu können, ist nichts als eine abenteuerliche und absurde Annahme...

Ok, zugegebenermaßen ist es mir nicht bekannt, dass solche Behauptungen irgendwo aufgestellt worden wären. Manche mögen sich allerdings wundern, dass bei der Grundrisse überhaupt Praktikumsplätze vergeben wurden. Eine gängige Praxis war das tatsächlich nicht, "Praktikum hat bei uns noch niemand gemacht", hieß es verheißungsvoll, als ich das erste Mal an einer Redaktionssitzung teilnahm. Aber eins nach dem anderen.

Wie in vielen anderen Studiengängen, war es auch in meinem Bachelorstudium (jenes "Orchideenfach", das in den letzten Jahren oft im medialen Blickpunkt stand, wenn über Proteste an der Universität Wien berichtet wurde und das letztlich vom Rektorat aufgelassen wurde) vorgesehen ein Praktikum zu absolvieren. Dankenswerterweise war man in der Auswahl relativ frei. Im Endspurt zum prestigeträchtigen BA-Titel kam mir in den Sinn, dass der Studienplanpunkt "Praktikum" von mir noch nicht erfüllt worden war. Es stand für mich fest, dass ich am liebsten weitere Einblicke in die redaktionelle Arbeit linkspolitischer Publikationsorgane erhalten wollte. Die Möglichkeiten dafür existieren in Wien wahrlich nicht in Hülle und Fülle, dennoch hatten einige Gazetten teils seit längerer Zeit mein Interesse geweckt. Schließlich waren es die Grundrisse, an die ich mich zuerst wandte. Die Zeitschrift erschien mir einerseits ein guter Anlaufpunkt zu sein, um mich fundiert mit sowohl aktuellen als auch "zeitlosen" linken Themen auseinandersetzen zu können und zugleich einen marxistischen Fokus zu schärfen. Andererseits waren die Köpfe hinter der Grundrisse keine unbekannten. Wenn man an der Hauptuniversität auf der Suche nach Marx-Vorlesungen ist, wird man zwangsläufig über Karl Reitter stolpern. Wenn man öfter in Beisln und anderen Treffpunkten der linken Szene Wiens unterwegs ist, wird man irgendwo schon einmal auf Robert Foltin getroffen sein. Wenn man sich regelmäßig über neuere linkspolitische Publikationen aus der Stadt informiert, wird man wahrscheinlich früher oder später auf den Namen Martin Birkner stoßen. Und so setzte ich eine e-mail an die Redaktion der Grundrisse auf, um mich zu informieren, ob es sich einrichten ließe, dass man mir im Gegenzug für meine Mitarbeit und mein Engagement ein Dokument signieren würde, das mit dem Titel "Bestätigung über die Absolvierung eines Praktikums" überschrieben war. Die Antwort kam zügig, bejahte meine Anfrage und verwies darauf, dass man über redaktionellen Zuwachs immer sehr erfreut sei.

Da saß ich dann schon in der Runde im Amerlinghaus. Man war gerade kurz davor, die Nummer 49 in den Druck zu geben; konkrete Überlegungen über das Ende der Zeitschrift waren zu dem Zeitpunkt kein Thema. Als "Praktikant" wurde ich eigentlich nie bezeichnet, im Prinzip war ich ja genauso Redaktionsmitglied wie alle anderen. Im Prinzip. Denn natürlich war es offensichtlich und unvermeidbar, dass zwischen dem gerade-das-Bachelorstudium-abschließenden Neuling und der altgedienten Redaktion ein riesiger Erfahrungsunterschied zu Tage trat. Dies stellte auf der einen Seite selbstverständlich eine gewisse Herausforderung dar, war auf der anderen Seite jedoch mindestens genauso faszinierend. Was für die Grundrisse stets charakteristisch war und mir sehr rasch bewusst wurde, war die Tatsache, dass man ein Zeitschriftskonzept ablehnte, das auf oberflächliche Analysen und massentaugliche Inhalte setzt, die eventuell eine Erweiterung des LeserInnenkreises ermöglichen würden. Die Menschen, die die Beiträge verfassten, hatten zumeist eine über Dekaden währende Auseinandersetzung mit linker Theorie und Praxis zu verbuchen. Dementsprechend gründeten die meisten Texte nicht nur auf sehr ausgereiften Auffassungen, sondern waren oft mit Detailwissen gespickt, welches man sich nicht in einigen Semestern anliest. Das war der Anspruch der Schreibenden und somit auch der Zeitschrift. Von den meisten LeserInnen wurde dies wohlwollend aufgenommen und sehr geschätzt. In der Grundrisse ließen sich nicht nur sehr spannende Beobachtungen und Untersuchungen finden, sondern vielleicht manchmal einige nicht leicht zugängliche, etwas trocken wirkende Texte. Vielleicht lässt sich aus so einer Perspektive die Frage angehen, warum nicht so einfach mal eben ein Generationswechsel vollzogen werden konnte. Letztlich trug es sein Übriges dazu bei, dass die Texte meistens aus der Feder von Männern mit akademischen Hintergrund, selten jünger als 35 oder 40, stammten.

Sicher, hohe Ansprüche herrschen auch bei vielen anderen Publikationen, in gewisser Weise vor allem bei jenen, die sich einer linksradikalen und theoretisch ausgefeilten Herangehensweise verpflichtet fühlen. Das ist wichtig und richtig - und dass die Grundrisse über eine ausreichend große Zahl an LeserInnen verfügte, zeigt, dass es durchaus gefragt ist, entsprechende Angebote zu schaffen. Aber der Fall der Grundrisse beweist bekanntermaßen ebenso, dass solche Projekte erwartungsgemäß Schwierigkeiten bekommen, wenn sich der Kreis der Involvierten auf lange Sicht kaum verändert, ja gar auf nur wenige Menschen reduziert, denen bei der Produktion einer Theoriezeitschrift nach etlichen Jahren die persönlichen Ressourcen dafür abhanden kommen. Und dass es zusätzlich letztendlich die Gesamtheit der politischen, ökonomischen, sozialen Verhältnisse nicht unbedingt einfacher macht qualitativ ansprechende, linkspolitische Publikationen am Leben zu halten, ist ja auch kein Geheimnis.

Es sollen hier aber keine weiteren Erklärungsversuche gemacht werden, die rekonstruieren, wie es zum Ende der Zeitschrift kam. Das können diejenigen, die sich von Anfang für die Grundrisse engagierten, sicherlich besser nachzeichnen. Für mich bleibt die Aufgabe, meine Perspektive über das Jahr, in dem ich ebenfalls ein Teil des Grundrisse-Kreises war und welches gleichzeitig das letzte für die Zeitschrift sein sollte, knapp zu beschreiben. Die offenkundigen und nicht vermeidbaren Wissensvorsprünge zwischen den langjährigen Redaktionsmitgliedern und mir, wurden ja bereits beschrieben. Allerdings ist es wichtig anzufügen, dass daraus keine festgefahrenen Hierarchien entstanden. Die Situation, beim Einstieg in die unterschiedlichsten Strukturen vor diesen - häufig unüberwindbar scheinenden - Hierarchien zu stehen, widerfährt den Menschen täglich und überall und kann die Arbeit sehr unangenehm machen, wie wir alle wissen. Gerade das Label "PraktikantIn" verstärkt solche Tendenzen oftmals noch. Es war eine sehr positive Erfahrung, dass derlei Hierarchien im Ablauf und in Diskussionen während der Redaktionssitzungen keine entscheidende Rolle gespielt haben.

Thematisch waren aus meiner Sicht die Redaktionssitzungen der letzten Monate vor allem von zwei Angelegenheiten bestimmt. Zum einen die Europawahl und die Möglichkeiten des Bündnisses "Europa Anders" und zum anderen der Konflikt um die Ukraine, wozu eine Diskussionsveranstaltung im Amerlinghaus organisiert wurde. Bei beiden Themen eröffneten sich für mich interessante Blickwinkel und erhellende Analysen. Aber jeder Schlussfolgerung konnte und wollte ich mich nicht anschließen. Auch wenn sich Verständnis dafür aufbringen lässt, dass es in Österreich durchaus von Nöten ist, eine linke Kraft im Parteienspektrum zu etablieren und gewisse emanzipatorische Ideen auf die Reise durch den Fleischwolf des Parlamentarismus zu schicken, erschien der Cocktail aus KPÖ, Piraten und Der Wandel als ein zum Teil etwas wirres Projekt, dessen Kurzlebigkeit sich nicht selten erahnen ließ. Und ebenso würde ich manchen individuellen Standpunkten, dass sich die Situation in der Ukraine als Vorstufe zu einer Art dritten Weltkrieg darstellen würde, eher mit Zurückhaltung begegnen.

Letztlich ist aber entscheidend, dass eben solche Diskussionen geführt werden - die Grundrisse wird sich weiterhin in die Debatten über linke Theorie und Praxis einklinken; allerdings in veränderter Form: Der Blog ist aufgesetzt und der erste Jour-Fixe-Termin ist im Kalender eingetragen. Das erinnert schon fast ein wenig an die Sache mit der nächsten Entwicklungsstufe.

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Martin Birkner:

Nachruf & Vorschein

Angesichts dessen, dass die grundrisse vor fast 15 Jahren angetreten sind, um in den traurigen Theorie-Zustand der hiesigen Linken zu intervenieren, muss das Ergebnis heute wohl als ernüchternd eingeschätzt werden. Die Wirkung der grundrisse dürfte noch am ehesten in Deutschland sowie an den Universitäten zu finden sein. Die (radikale) Linke in Österreich und hier vor allem in Wien zeichnet sich nach wie vor entweder durch relative Theorielosigkeit (die sympathischste Fraktion), sturem wie antiquiertem Festhalten an diversen ML-Anachronismen, dem so postmodernen wie gesellschaftlich unwirksamen Sich-Einzementieren auf Szene- und/oder Mikropolitik oder gar den antideutschen Stumpfsinn aus. Erfolge unserer Theorieproduktion lassen sich bestenfalls daran festmachen, dass es ohne die grundrisse noch schlimmer bestellt wäre. Ein schwacher Trost, aber immerhin.

In dieser Hinsicht wäre allerdings auch die Frage zu stellen, ob wir die Rolle der Theorie hinsichtlich sozialer Bewegungen und gesellschaftlicher Veränderungen nicht als etwas zu hoch veranschlagt haben. An der nahezu völligen Bedeutungslosigkeit der Linken in Österreich jedenfalls haben die vielfältigen theoretischen Interventionen und Initiativen - auch jenseits der grundrisse - wenig bis nichts geändert. Und wäre die wichtigere Diskussion in Sachen Publikationsstrategien heute, wie wir eine viel stärker breitenwirksame Medienproduktion in Österreich entwickeln können. Es ist kein Zufall, dass einige (Ex)grundrisslerInnen bei den Freund*innen der analyse & kritik wien (akw) aktiv sind. Die, bis auf den in Wien erhältlichen Augustin, weitgehende publizistische Leere auf Seiten der antikapitalistischen Linken (spätestens seit dem Ende von TATblatt, die Linke und der Volksstimme als Wochenzeitung) wäre dringend anzugehen. Meiner Meinung nach in Richtung einer strömungsübergreifenden, breitenwirksameren und auch nicht vor linkspopulistischen Interventionen zurückschreckende Publizistik ...

Die Krise der grundrisse, die stets im Rahmen der allgemeinen Krise der österreichischen Linken gesehen werden muss, hat wohl auch damit zu tun, dass strategische Debatten oder gar die Organisationsfrage jenseits der eigenen Szeneklientel (wenn überhaupt!) verpönt sind und nur allzu gerne auf dem Altar der reinen Lehre geopfert werden. Mit ganz wenigen Ausnahmen ist die radikale Linke nicht bereit, dies überhaupt als Problem zu akzeptieren. Nicht zuletzt deshalb gilt es meines Erachtens, sich von dieser Szene und ihrer -politik zu verabschieden und die oben genannten Aspekte in anderen Zusammenhängen zu diskutieren: Mit progressiven NGOs, religiösen Initiativen und alternativ(ökonomisch)en Basisinitiativen zum Beispiel, aber auch mit abtrünnigen SozialdemokratInnen, GewerkschafterInnen und offenen ParteikommunistInnen. Aus dieser Neu-Re-Organisation der Linken könnten neue Zusammenhänge entstehen, die vor eben diesem Hintergrund der Re-Organisierung sich auch wieder der Re-Formulierung linker Theorie widmen. Diese müsste sich in praktisch-kritischer Absicht auch mit den heiligen Kühen linksradikaler Theorie und Praxis auseinandersetzen: der Repräsentationskritik und der Ablehnung jeglicher Institutionen. Auf diese Umorientierungen weist nicht zuletzt das Naheverhältnis einiger grundrisslerInnen zum EU-Wahlprojekt "Europa Anders" und seinen Nachfolgeprojekten hin.

Zum Schluss noch einmal zurück zu den grundrissen: Unser Redaktionszusammenhang war für zehn Jahre meine politische Heimat (ja, ich weiß!), die Diskussionen zumindest in den ersten fünf, sechs Jahren waren enorm wichtig für unsere gemeinsame politische und theoretische Entwicklung. Dafür, und vor allem für die daraus entstandenen Freundschaften und die gemeinsam beschrittenen und noch zu beschreitenden politischen Wege danke ich allen, die jemals mit dem Projekt grundrisse verbunden waren. Es was alles andere als eine vergeudete Zeit, als die homogene und leere Zeit des Kapitalismus, um mit Benjamin zu sprechen.

*

Robert Foltin:

Dreizehn Jahre Grundrisse

Nach über dreizehn Jahren stellen wir die grundrisse.zeitschrift für linke theorie und debatte ein. Sie wird nicht sang- und klanglos verschwinden. Es wird uns weiter als Gruppe geben, zu unseren Aktivitäten aber an einem anderen Ort. Ich werde die Geschichte der grundrisse aus meiner Sicht beschreiben und ich hoffe, es wird klar, warum auch ich für die Einstellung war, obwohl diese Zeitschrift "mein Herzblutprojekt" war. Ein Problem dabei ist, dass Schlagworte dominieren werden - und kein Platz ist, um sie zu erklären. Ich kann nur darauf hinweisen, sich "alte" Nummern zu besorgen.

Der Anfang

Die Idee einer marxistischen Diskussionszeitung wurde nach einer Lehrveranstaltung von Karl Reitter und seinen Student_innen im Sommer 2001 beim Heurigen geboren. Erste Treffen fanden in der zweiten Jahreshälfte von 2001 statt. Wolfgang Bacher organisierte ein Benefizessen, das das Geld für die Produktion der ersten Nummer hereinbrachte. Diese Art des Fundraising setzten wir mehrere Jahre fort.

Die grundrisse unterschieden sich von anderen linken Zeitungen dahingehend, dass unsere Artikel theoretisch waren und auch deutlich länger. Wir konnten und wollten nicht auf aktuelle Ereignisse eingehen, obwohl wir im Editorial oder im Rahmen der Dokumentation von Flugblättern und politischen Statements oft Position bezogen. Das betraf etwa die in Österreich viel diskutierten repressiven Maßnahmen 2008 gegen die Tierrechtler_innen und 2010 die AMS-Vier, die Solidarität mit dem Amerlinghaus oder auch Durchsuchungen von Buchhandlungen in Deutschland. Alle angebotenen Artikel wurden in der Redaktion, und, soweit möglich, auch mit den Autor_innen diskutiert. Wir wollten keine Strömungszeitung sein, sondern ein offenes Medium für verschiedene linksradikale theoretische Ansätze. Grundsätzlich waren unsere Positionen antistaatlich und antikapitalistisch, wir wollten uns aber nicht auf eine marxistische (oder anarchistische) Strömung festnageln lassen. Einen weiterer Anspruch, den wir hatten, konnten wir nicht oder nur in Ausnahmen verwirklichen: dass durch unsere Publikation Diskussionen entstehen und sich auch Artikel aufeinander beziehen. Nur manchmal erschienen diesbezüglich Kurzkommentare im oder nach dem Editorial. Erst in den letzten Nummern erschien eine sich aufeinander beziehende Diskussion zu "Räten".

In den ersten Nummern dominierten Artikel der Redakteure. Diese waren zunächst durchgehend männlich und schon ältere Semester, viele waren "Ex" (Trotzkist_innen oder Mao_istinnen), sodass die kritische Auseinandersetzung mit dem Leninismus eines der wichtigen Themen war.

Es war ein Zufall, dass wir im Frühjahr 2002 gerade ein Themenheft (mehr als drei Artikel) zu "Empire" von Hardt / Negri fertig stellten und es zugleich auf Deutsch erschien. In der Folge entstand der Mythos, dass wir eine "postoperaistische" Zeitschrift seien. Es stimmt allerdings, dass sich postoperaistische Diskussionen neben solchen, die sich mit Marx und marxistischen Interpretationen auseinandersetzten durch viele Hefte zogen.

Der rasche Erfolg der Zeitschrift stellte sich aus mehreren Gründen ein. Wir wurden zu "Empire" und Postoperaismus konsultiert. Die Beteiligung an den Sozialforen verbreiterte unsere Bekanntheit. Eine gewisse Rolle spielten auch die Auseinandersetzungen mit Michael Heinrich. Außerdem luden wir eine Reihe prominenter linker Theoretiker(_innen) wie Joachim Hirsch und John Holloway nach Wien ein.

Die Bestellungen nahmen zu und ab der Nummer 11 (Herbst 2004) wagten wir es, Zweijahresabos anzubieten. Wir waren sicher, dass es uns länger geben wird. Anfangs trafen wir uns in Hinterzimmern von Wiener Lokalen (Kafka, Wratschko, Sittl), danach in den Räumen Kunst.Marke.Ideal in der Martinstraße und schließlich im Amerlinghaus.

Unsere Aktivität beschränkte sich aber nicht nur auf die Produktion der Zeitung. Ab der zweiten Nummer organisierten wir fast alle zwei Monate Veranstaltungen. Dazu luden wir des öfteren Referent_innen, oft aus Deutschland, ein. Der Höhepunkt war sicherlich der Auftritt von John Holloway in einer Veranstaltung und einem Workshop im Frühjahr 2004 im IWK (Institut für Wissenschaft und Kunst). Der Arbeitskreis zu Paolo Virnos "Grammatik der Multitude" trug ebenfalls zu einem breiter gestreutem Interesse bei. Ein Folgeprojekt, in dem Alain Badious "Sein und Ereignis" gelesen werden sollte, schlief leider nach einiger Zeit ein.

Ab 2003 organisierten wir die Sommerseminare in Hegymagas, einem kleinen Ort in den Weinbergen über dem ungarischen Balaton. Der "Seminarraum" war eine überdachte Bühne, eigentlich für die Weinverkostungen gedacht, wir schliefen in kleinen Häuschen am Hang, oft mit Blick auf den See. Die Seminare begannen klein und wurden sehr schnell größer. Zum Thema "Kapitalismus, Geschlechterordung und Revolution" im Sommer 2005 zählten wir dreiundzwanzig Teilnehmer_innen und waren organisatorisch bereits überfordert... Von da an wurden die Seminare nicht mehr so offensiv beworben und von Jahr zu Jahr beteiligten sich weniger Leute. Das bislang letzte Seminar fand schließlich 2011 auf Kreta statt.

Routine und Probleme

Das Seminar zur Geschlechterordnung war trotz einem (beinahe) katastrophalen Ergebnis ein Wendepunkt zum Besseren. Schon im Jahr zuvor revoltierten die teilnehmenden Frauen, die kritisierten, dass immer nur Männer zu Wort kommen. Die Veränderung der Moderation, insbesondere die Einschränkung der Redezeit verbesserte die Gesprächskultur. Im Jahr darauf regnete es und wir mussten die Diskussionen im Gemeindesaal von Hegymagas abhalten. Konflikte spitzten sich zu und zwar zwischen zwei Personen, die mehr Selbstreflektion über die innere Struktur der Diskussionen forderten und anderen, die sich dadurch an die Zwangsmaßnahmen von Kursen des Arbeitsamtes erinnerten. Es waren Missverständnisse, falsche Verhaltensweisen, und persönliche Verletzungen, die beinahe zur Abreise von Einigen führten. Schließlich renkte sich das wieder ein, weil alle zurücksteckten und jede Diskussion um eine Feedbackrunde ergänzt wurde. Dieses Seminar führte (neben der Mitorganisation des "Mayday" durch grundrissler_innen) dazu, dass in den folgenden Jahren mehr jüngere Menschen mitarbeiteten als in den Jahren davor und auch danach.

Bevor ich zur Geschlechterfrage komme noch einige Anmerkungen zur Zusammensetzung der Redaktion im Allgemeinen: In den ersten Jahren waren wir in den Redaktionssitzungen zwischen acht und zwölf, mit einem stabilen Kern von fünf bis sieben Personen und einer sonst sehr starken Fluktuation. In der ersten Zeit schauten Leute in der Redaktion vorbei, später hatten wir ein Umfeld, das die Sitzungen zu bestimmten Themen besuchte, zur Diskussion bestimmter Artikel auftauchte oder sonst sporadisch vorbeischaute. In den letzten Jahren reduzierten wir uns auf rund fünf mehr oder weniger alter Männer und einer Frau (minimol). Letztere verließ vor zwei Jahren die grundrisse ebenfalls.

Über die männliche Dominanz beklagten wir uns von Anfang an, aber es blieb eine Lippenbekenntnis. Es änderte sich nichts. Artikel schrieben bis auf Ausnahmen nur Männer, einen Großteil der Beiträge bekommen wir unaufgefordert zugeschickt und diskutieren dann, ob wir sie veröffentlichen. Im Durchschnitt waren es fünf bis sechs Artikel von Männern und einer von einer Frau, die veröffentlicht wurden. Das Verhältnis verbesserte sich ab 2005/6: Für einige Nummern arbeiteten auch mehr Frauen in der Redaktion mit. In der Anzahl der Autorinnen drückte sich das aus, aber nicht, weil uns Frauen* mehr zugeschickt hätten, sondern weil sich Frauen (und manche Männer) darum kümmerten, dass Artikel von Frauen geschrieben wurden. Außerdem wurden Texte aus dem Englischen und Französischen übersetzt. Die einzige Nummer, in der mehr Frauen* als Männer schreiben, wurde die besonders dicke Nummer 30 zur Türkei/Kurdistan, die hauptsächlich von minimol und dose organisiert wurde. Auch im (Doppel)Themenheft "Geschlechterverhältnisse und Arbeitsteilung" änderte sich das Geschlechterverhältnis nicht aber in der Redaktion. Zu dieser Zeit wurden die poststrukturalistischen Diskussionen zurückgedrängt und damit auch die Beteiligung jüngerer Frauen.

Früher waren die Redakteur_innen auch außerhalb der Redaktion aktiver. Wir beteiligten uns an Kampagnen, an denen die Mehrheit der Mitglieder ohne Verpflichtung partizipierten: Wir besuchten die Sozialforen (Florenz, Paris, Hallein, Linz und andere). Auch am Mayday, einer Parade der Prekären am Nachmittag des Ersten Mai, waren wir ab 2005 organisierend beteiligt. Danach (und nach dem Seminar zur Geschlechterfrage) waren mehr jüngere Leute motiviert, sich an der Redaktion zu beteiligen. Für kurze Zeit konnten wir theorieaffine, künstlerische und aktivistische Leute zusammenbringen. Zum Schluss waren wir wieder "nur" "theoretisch". Zu erwähnen ist noch die Unterstützung des Protestes gegen den Verkauf des autonomen Zentrums "Ernst-Kirchweger-Haus" durch die KPÖ 2005 und die Mitorganisation des antikapitalistischen Blockes auf der Demonstration "Eure Krise zahlen wir nicht" im März 2009.

Immer wieder beteiligten sich Teile der Redaktion mit Versuchen der Organisierung, die über eine autonome Vernetzung hinausgeht in Richtung von mehr Verbindlichkeit, Verknüpfung von Theorie und Aktivismus und die Zusammenarbeit unterschiedlicher linker Gruppen und Einzelpersonen: 2006 scheiterte die Gruppe Revolté und 2010, nach der Studierendenbewegung, das Projekt mit dem ironischen Namen Superlinke. Schließlich legten einige grundrissler_innen ihre kategorische Staatsfeindlichkeit ab und engagierten sich für ein ebenfalls gescheitertes Wahlprojekt ("Europa anders"). Einige grundrissler_innen unterstützen die "interventionistische Linke" und/oder sind an den Freund*innen der analyse & kritik wien (akw) beteiligt.

Wichtig war für uns die Beteiligung oder besser gesagt, die Begleitung der studentischen Proteste 2009 ("uni brennt"): wir versuchten mit anderen Gruppen die Krisu (Kritische und solidarische Universität") ins Leben zu rufen. Von dieser wurde eine Broschüre "Jenseits von Humboldt. Von der Kritik der Universität zur globalen Solidarischen Ökonomie des Wissens" produziert, die leider viel zu wenig bekannt ist. Die Nr. 32 sollte "Aufstände" zu Thema haben, es war das Jahr nach den Unruhen in Griechenland im Dezember 2008 - und es wurde der "kommende Aufstand" des "unsichtbaren Komitees" diskutiert (erst 2010 auf Deutsch erschienen). Durch ein Interview mit Aktivist_innen der "uni brennt"-Bewegung, aber auch durch Übersetzungen wurde diese zu einer Themennummer, in der es auch um den Widerstand an den Universitäten ging.

Einige Worte noch zur Bildpolitik: Linda Bilda war eine Zeit lang für die Bildstreifen im Inneren verantwortlich und organisierte die entsprechenden Zeichner_innen. Sie versuchte auch eine Diskussion über Bildpolitik durchzuführen. Das blieb aber eine einmalige Sache und es ist nicht zufällig, dass die Covers (außer in der Anfangszeit) immer von Frauen* gestaltet wurden. Die Kleidungsstücke und die Brote auf den Umschlägen (von Nr. 17 bis Nr. 29) gestaltete Andrea Salzmann, die Cover danach entwarf Lisa Bolyos. Wie so oft, produzieren die Männer Theorie und Frauen die "Bilder".

Die Nummer zu "Weltrevolution" war zwar umfangreich, in einem gewissen Sinne aber schon eine Art Abschluss. Die Veranstaltung zur Vorstellung war schlecht besucht (trotz der "Stargäst_innen" Thomas Seibert und Lucenir Caixeta). So zeichnete sich das schleichende Ende schon seit drei Jahren ab...

Resümee

Der Stand an Abonnent_innen nahm nie ab (aber auch nicht maßgeblich zu). Die grundrisse sind bekannt und werden rezipiert, wenn auch vorwiegend durch den Webauftritt. Die Aufrufe im Internet schwanken noch immer zwischen zwei- und dreihundert am Tag. Immer wieder tauchen Bücher, Artikel oder Internetbeiträge auf, die auf Artikel in den grundrissen im Internet verweisen. Einiges wurde auch nachgedruckt oder im Netz weiter verbreitet. Finanziell haben wir keine Probleme, auch wenn wir im Gegensatz zu früher von der österreichischen Publizistikförderung abhängig sind. Die Produktion funktioniert, wenn auch in einer immer gleichbleibenden Arbeitsteilung und wir bekamen noch immer genügend Artikel zugeschickt. In der Redaktion gibt es aber de facto keine Diskussionen mehr. Wir kennen unsere Positionen: Bei den meisten Artikeln könnte ich von vornherein schon sagen, was die entsprechende Person vertreten würde. So greift beim gleichgebliebenen Kreis alter Männer, die seit Anfang dabei sind, eine gewisse Müdigkeit und Bequemlichkeit um sich. Auch ich empfinde es als Erleichterung, künftig nicht viermal im Jahr unter dem Druck zu stehen, eine Zeitschrift produzieren zu müssen. Das Problem der Beteiligung neuer Leute haben aber nicht nur die Grundrisse. Wenn jemand aktiv werden will, gründet er oder sie lieber ein neues Projekt, als sich in die eingefahrenen Bahnen schon bestehender Projekte zu begeben. Das ist nicht nur bei uns so, wird aber noch einmal verschärft durch den Schwerpunkt auf Theorie, durch Alter und Geschlecht.

In den dreizehn Jahren der Existenz der grundrisse wurden die Artikel zwar nicht immer gelesen, die Zeitschrift aber trotzdem wahrgenommen. Manche Diskussionen konnten wir beeinflussen und wir waren immer wieder Teil linker und emanzipatorischer Bewegungen. Und weil wir nur selten für die Tagesaktualität produzierten, bleiben viele Beiträge weiter lesens- und diskutierenswert.


Themenhefte:

Die Nummer 30, der eigentliche Beginn der Schwerpunkte, war ursprünglich als Ausnahme gedacht, die Beiträge bezogen sich ausschließlich auf die Türkei bzw. Kurdistan.

2002: "Empire" (Nr. 2)
2003: Staatstheorie (Nr. 5) - nach einem Seminar über "Staatstheorie"
2006: Nietzsche (Nr. 19)
2006: Lateinamerika (Nr. 20)
2009: Türkei (Nr. 30)
2009: Studierendenbewegung und globale Revolten (Nr. 32)
2010: Autonomie der Migration und antirassistischen (Selbst) Organisation (Nr. 34)
2010: Das Commune als Alternative, Debatten und Kritiken des Gemeinsamen (Nr. 35)


Call for Papers:

2010: Organisieren (Nr. 36)
2011: Geschlechterverhältnisse und gesellschaftliche Arbeitsteilung (Nr. 37, Fortsetzung in Nr. 38)
2011: Kritische Wissenschaft - Wissenschaftskritik (Nr. 39)
2011: Weltrevolution (Nr. 40)
2012: Schulden (Nr. 43)
2012: Kritik der Religionskritik, Glaube und Befreiung (Nr. 44)
2012: Antonio Negri (Nr. 48)
2013: Kommunismus (Nr. 49) - war eigentlich kein wirklicher Schwerpunkt mehr


Sommerseminare:

2003: Klasse
2004: The Next Great Transformation
2005: Kapitalismus, Geschlechterordnung und Revolution
2006: Widerstand, Aufstand und konstituierende Macht
2007: Realer Sozialismus
2008: Wissen
2009: Kapitalismus, Krise, Klassenkampf
2011: Postkolonialismus / Staatstheorie - Lentas (Kreta)


Veranstaltungen

Eine - sicher nicht ganz vollständige - Aufzählung zeigt die Breite des Teilnehmer_innenspektrums der Veranstaltungen, die wir (mit)organisierten (ungefähr in der Reihenfolge des erstmaligen Auftretens):

Michael Heinrich, Roland Atzmüller, Franz Schandl, Joachim Hirsch, Evi Genetti, Karl Heinz Roth, Angelika Ebbinghaus, Marcel van der Linden, Ingo Elbe, Manuela Bojadzijev, Jost Müller, Jürgen Behre, Alice Pechriggl, Linda Bilda, Gerhard Hanloser, wildcat, Markus Mohr, Barbara Eder, Brigitte Kuster, Renate Lorenz, Gin Müller, Heide Gerstenberger, Sarah Diehl, Melina Klaus, Lukas Wurz, Peter Birke, Engelbert Stockhammer, Nadja Rakowitz, Ilker Atac, Pinar Selek, Özlem Onoran, Sebnem Oguz, Gáspár Miklós Tamás, Sebastian Kalicha, Anarchists Against the Wall, Max Henninger, Philippe Kellermann, Sandro Mezzadra, Silvia Federici, Harry Cleaver, Luzenir Caixeta, Thomas Seibert, Eva Maria Krampe, Susan Zimmermann, Susann Witt-Stahl, Roman Danyluk.


Mitglieder der Redaktion waren oder sind:

Wolfgang Bacher, Dieter A. Behr, Martin Birkner, Bernhard Dorfer, Jannik Eder, Robert Foltin, Daniel Fuchs, Marcus Gassner, Markus Grass, Stefan Junker, Klaus Kindler, Käthe Knittler, Birgit Mennel, Minimol, Franz Naetar, Karl Reitter, Andrea Salzmann, Lisl Steger, Walter S., Paul Pop, Klaus Zoister.

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Stefan Junker:

Nieder mit der eigenen Regierung!

Lenins Defätismus als Teil der Antikriegspolitik im 1. Weltkrieg

Es ist immer schwer, sich in geschichtliche Epochen hineinzuversetzen, besonders wenn es sich um Ausnahmesituationen handelt. Aber stellen wir uns einfach vor, die Krise in der Ukraine weitet sich aus. Zuerst weigern sich große Teile der ukrainischen Armee gegen die eigene Bevölkerung im Osten und Süden vorzugehen. Dem zu begegnen setzt die Regierung in Kiew auf rechte und faschistische Kräfte, welche den Kern eines erneuerten Militärs bilden. Die vielerorts aufkeimenden Gefechte und Demonstrationen werden blutig niedergeschlagen und kosten viele Menschenleben in der Zivilbevölkerung. Der Bürgerkrieg ist nicht mehr zu leugnen. Mählich werden auch die militärische und logistische Unterstützung, welche die Regierung in Kiew von Seiten der USA und der EU erhält, immer weniger leugbar. In dieser Situation fühlt sich Putin gezwungen, militärisch zu intervenieren, offiziell zum Schutz der russisch sprechenden Bevölkerung der Ukraine. Die NATO verlangt ultimativ den Rückzug der russischen Truppen. ...

Was machen wir Kommunisten, Anarchisten, Kriegsgegner usw. angesichts dieser Bedrohung? Wie dem erklärten Krieg Paroli bieten? Diesen Fragen standen die aufrechten Sozialisten im Sommer 1914 gegenüber. Die Analyse der Situation erschien noch einfach. So hieß es auf dem Stuttgarter Kongress der II. Internationale 1907: "Kriege zwischen Staaten, die auf der kapitalistischen Wirtschaftsordnung beruhen, sind in der Regel Folgen ihres Konkurrenzkampfes auf dem Weltmarkt; denn jeder Staat ist bestrebt, seine Absatzgebiete sich nicht nur zu sichern, sondern auch neue zu erobern, wobei die Unterjochung fremder Völker und Länderraub eine Hauptrolle spielen." (Humbert-Droz, 26) Dieser Formulierung von August Bebel kann im wesentlichen heute noch zugestimmt werden.

Diskussionen über den Defätismus bei Lenin sind rar geworden und wenn geführt, dann meist im Dunstkreis verschiedener linker Sekten. Das mag sich aber bald ändern, wenn die Gefahr eines großen Kriegs in Europa zunehmen wird und sogar die Möglichkeit eines mit Atomwaffen geführten 3. Weltkriegs am Horizont erscheint. Für KommunistInnen in Europa stellt sich dann wieder die Frage, wie kann ein solcher Krieg bekämpft bzw. verhindert werden? Ich denke, dass dies allein Berechtigung genug ist, sich mit den verschiedenen Ansätzen zur Lösung dieser Frage, die uns die Zeit des 1. Weltkriegs hinterlassen hat, kritisch zu beschäftigen. Eine dieser Ansätze firmiert unter dem Namen "Defätismus" und ist Lenin zugeschrieben. Dabei möchte ich vorausschicken, dass von einer geschlossenen und konsistenten Defätismus-Theorie bei Lenin keine Rede sein kann. Vielmehr handelt es sich um eine Erfindung, die nach seinem Tod erschaffen wurde in der Auseinandersetzung zwischen der sogenannten Troika (Stalin, Sinowjew, Kamenjew) und Trotzki. Allerdings ist es richtig, dass sich Lenin zwischen 1914 und 1917 mehrfach in der Hinsicht geäußert hatte. Die Mängel dieser "Theorie" wurden seinerzeit bereits erkannt und angesprochen. Allerdings spielten sie in den Auseinandersetzung der radikalen Kriegsgegner keine fundamentale Rolle - entgegen späterer Zuschreibungen, denn in der Grundstrategie waren sich, ob Trotzki, Luxemburg oder Lenin einig: nur eine Macht kann diesen Krieg effektiv überwinden: die soziale Revolution. Im Folgenden werde ich kursorisch das Thema des "Verrats der Sozialdemokratie" ansprechen, um dann den verschiedenen Äußerungen Lenins zur "Niederlage der eigenen Regierung" nachzugehen.[1]

Der "Verrat" der Sozialdemokratie

Das Wort "Verrat" steht in Anführungszeichen, nicht weil damit suggeriert sein soll, es handelte sich hier nicht um einen solchen, sondern weil dieser "Verrat" zu einem Schlagwort mutiert ist und darum einer Präzisierung bedarf. Ein genauer Blick auf die Schriften Lenins zeigt - und das finde ich sehr bemerkenswert -, dass er der Sozialdemokratie weniger einen "Verrat" an irgendwelchen hehren Prinzipien des Sozialismus vorwirft. Er hätte sich schwer getan, den Einwand zu parieren, dass die Sozialdemokratie in vielem bereits diese Prinzipien verlassen habe, wenn sie je von solchen durchdrungen gewesen wäre, woran Marx bereits zweifelte, als er schrieb, dass den deutschen Sozialdemokraten der Sozialismus nicht einmal hauttief sitze.[2] Den Verrat macht Lenin anderweitig fest, nämlich an der expliziten Verletzung der Beschlüsse der 2. Internationale von Stuttgart, Kopenhagen und Basel.[3]

Bereits auf dem Internationalen Sozialistischen Kongress zu Stuttgart (1907) hatte es geheißen: "Kriege zwischen kapitalistischen Staaten sind in der Regel Folgen ihres Konkurrenzkampfes auf dem Weltmarkte, ­..." und "daß der Kampf gegen den Militarismus nicht getrennt werden kann von dem sozialistischen Klassenkampf im ganzen". Falls ein Krieg ausbreche, so sind die arbeitenden Klassen, wie deren parlamentarische Vertretungen verpflichtet "mit allen Kräften dahin zu streben, die durch den Krieg herbeigeführte wirtschaftliche und politische Krise zur Aufrüttlung des Volkes auszunutzen und dadurch die Beseitigung der kapitalistischen Klassenherrschaft zu beschleunigen."[4] Im Oktober 1912 erklärten die Balkanstaaten der Türkei den Krieg, Italien war bereits in Libyen eingefallen. Die Spannungen zwischen Frankreich und Deutschland waren nicht zuletzt wegen der Agadir-Affäre[5] gewachsen. In dieser Situation beschloss das Internationale sozialistischen Büro die Einberufung eines außerordentlichen Kongresses der II. Internationale nach Basel. Auf dem Balkan verweigerten die sozialistischen Parteien den Regierungen ihre Zustimmung zu den Kriegskrediten und dem ersten großen Menschenabschlachten.[6] In Basel wurde der oben genannte Wortlaut erneut bestätigt und unterstrichen, dass es die Aufgabe der parlamentarischen Arbeitervertretungen sei, das Volk aufzurütteln und zur Überwindung der kapitalistischen Verhältnisse zu wirken. Der Kongress "fordert die Arbeiter aller Länder auf, dem kapitalistischen Imperialismus die Kraft der internationalen Solidarität des Proletariats entgegenzustellen."[7] Gerade diese Zuspitzung auf den großen Widerspruch zwischen den sozialdemokratischen Friedensbeteuerungen und ihrer Kriegspolitik finde ich bemerkenswert. Bis heute hat sich die Sozialdemokratie nicht kritisch mit ihrer schändlichen Rolle während des 1. Weltkriegs - nicht nur in Deutschland - auseinandergesetzt, von persönlichen Ausnahmen einmal abgesehen. Dies mag damit zusammenhängen, dass diese Art von "Verrat" keinen Einzelfall darstellt.[8] Für Lenin wirkte die Nachricht von der Bewilligung der Kriegskredite seitens der deutschen Sozialdemokratie wie ein Schock und er wettert sofort gegen diese Schändlichkeit, die er als Chauvinismus beschimpft.[9] Auf der Konferenz zu Basel hatten diese Herren Führer noch stolze Reden über ihren Internationalismus und ihre Friedensliebe geführt und jetzt sind sie kleinlaut eingeknickt. Damit machten sie 1914 den Kongress von Basel zu einer großen Schauveranstaltung, einzig den Arbeitermassen ein X für ein U vorzumachen. Wenn das kein Verrat war, was dann? Aber womöglich nährte sich seine Wut auch aus dem Vertrauen in die Buchstaben von Beschlüssen.[10] Nichtsdestotrotz weigern sich die Sozialdemokratien bis heute ihre Mitschuld an den 17 Millionen Toten und Abermillionen Verletzten und Verstümmelten sowie den vielen traumatisierten Menschen einzugestehen und sich ihrer historischen Verantwortung zu stellen.

Rekapitulieren wir das Verhalten der sozialdemokratischen Führer im Reichstag (waren alles Männer) kurz vor Ausbruch der Feindseligkeiten. Ende Juni 1914 wurde der österreichische Thronfolger in Sarajewo erschossen. Die deutsche Regierung drängte nun dahin, dieses Ereignis auszunutzen, um die seit längerem geplanten kriegerischen Handlungen gegen Frankreich und Russland eröffnen zu können. Die arbeitenden Klassen reagierten mit Demonstrationen und Veranstaltungen in zahlreichen Städten ohne die geheimen Planungen ihrer Regierungen zu kennen. Am 29. und 30. Juli fand eine dringende Sitzung des Internationalen Sozialistischen Büros in Brüssel statt. Hier wurde beschlossen, den Kongress, der für 23.8. in Wien geplant war, auf den 9.8. in Paris vorzuverlegen. Dabei hätte das Büro selbsttätig im Einklang mit den Beschlüssen von Basel und Stuttgart handeln müssen, denn angesichts der Spannungen war es mehr als fraglich, ob dieser Kongress noch stattfinden würde. Vor den demonstrierenden Arbeitermassen in Brüssel hielten die Arbeiterführer Reden, darunter Jaurès. 24 Stunden nach seiner Brüsseler Rede wurde er erschossen. Der Mörder übrigens, wurde nach dem Krieg in einem Prozess freigesprochen und die Prozesskosten der Witwe Jaurès auferlegt. Am 1.8.1914 traf der Delegierte der deutschen Sozialdemokratie Hermann Müller in Paris ein. Sollten sich die französischen Sozialisten der Stimme bei den Kriegskrediten enthalten, so würden die deutschen dagegen stimmen oder sich zumindest auch der Stimme enthalten. Dass die deutsche Sozialdemokratie den Kriegskrediten zustimmen wird, hielt der spätere Reichskanzler der Weimarer Republik für ausgeschlossen. Renaudel erklärte, im Falle eines deutschen Angriffs auf Frankreich werden die französischen Sozialisten für die Kredite votieren. Schließlich dachten weder die deutschen noch die französischen Sozialistenführer daran, Arbeitermassen zur Aktion gegen die Mobilisierungen und den Krieg aufzurufen. Hermann Müller wusste möglicherweise nichts von den Unterredungen Südekums mit Reichskanzler Bethman von Hollweg und der schriftlichen Versicherung, die der Sozialdemokrat der Reichsregierung gegeben hat, dass von der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion keine Aktionen gegen den Krieg zu erwarten seien.[11] Bereits am 24.7. hatte man im preußischen Kriegsministerium von einer Verhaftung der Sozialdemokraten abgesehen, da man sich deren Führer sicher wähnte. Am 2.8. tagten die Vorstände der Gewerkschaften und der Vorstand der SPD. Die Konferenz beschloss, die Regierung bei Ingangsetzung der Mobilmachung zu unterstützen. Auf der Sitzung der Reichstagsfraktion vom Vormittag des 3.8. stimmten 78 Delegierte gegen 14 für die Bewilligung der Kriegskredite, obwohl bereits am 2. August deutsche Truppen ohne Kriegserklärung das neutrale Luxemburg besetzt hatten. Was den Westen betrifft, so war Deutschland zweifelsfrei der Angreifer. Hier wird auch deutlich, dass das Argument der Sozialdemokratie, man fühlte sich verpflichtet, den Kriegskrediten zuzustimmen, weil man Deutschland als von Russland angegriffen glaubte, schlicht eine Rechtfertigungslüge war.

Am 4.8. verlas der Nachfolger des 1913 verstorbenen Bebel, Hugo Hasse, die Erklärung der SPD im Reichstag. Am nämlichen Tag stimmten auch die französischen Sozialisten den Krediten in der Deputiertenkammer "diskussionslos und einstimmig" zu. Jules Guesde, der frühere Kampfgefährte von Marxens Schwiegersohn Lafargue, und Marcel Sembat traten sogar in die Regierung ein. "Am 4. August 1914 ist die Internationale gestorben; nicht der Krieg hat sie gemordet, sondern der Verrat der Sozialisten selbst. Sie haben sich freiwillig in den Dienst des Krieges gestellt.", schreibt Humbert-Droz[12]. Es muss hier aber gesagt werden, dass die bolschewistischen Dumaabgeordneten und die serbischen Sozialdemokraten ihre Zustimmung zu den jeweiligen Kriegskrediten verweigerten, womit sie bewiesen, dass parlamentarischer Widerstand sehr wohl möglich war. Interessant ist weiterhin, dass die meisten Sozialisten, die nicht in die Gespräche der sozialdemokratischen Führer mit der Reichsleitung eingeweiht wurden, nicht an einen baldigen Kriegsausbruch glaubten. So kehrte Liebknecht erst am 3.8. Nachmittags von seinem Urlaub zurück und fiel bei der Nachricht über den Beschluss vom Vormittag aus allen Wolken. Ich würde dies gerne als eine Mahnung an uns heute nehmen, nicht zu blauäugig dem Glauben zu verfallen, die Herrschenden würden vor den Kriegsauswirkungen ähnlich zurückschrecken wie wir. Die Aufforderungen den ukrainischen Präsidenten Turtschinow, die NATO möge für die Ukraine in den Krieg eintreten[13] und die Warnung des russischen Premier Medwedew, gegebenenfalls auch von dem Einsatz von Atomwaffen nicht zurückzuschrecken[14], sollten wir aufmerksam und mit dem nötigen Ernst begegnen.

Lenins Defätismus

Der Inhalt des Mythos über Lenins Defätismus lässt sich auf die Behauptungen reduzieren, nur Lenin allein habe eine kompromisslose Antikriegspolitik betrieben, das Prinzip des Defätismus bilde den Kern der Leninschen Antikriegspolitik und es gelte ausschließlich die Alternative Defätismus oder Vaterlandsverteidigung. In Lenins Schriften finden sich viele Inkonsistenzen und Widersprüche, auf welche bereits Trotzki aufmerksam gemacht hat. Eine Schwierigkeit, Lenin zu interpretieren, ist seine Methode der Übertreibung richtig zu berücksichtigen. 1914 schrien die Leute, welche Lenin kritisierten, Burgfrieden, er schleuderte ihnen Bürgerkrieg entgegen. Die Sozialverräter schrien Vaterlandsverteidigung, er antwortete ihnen mit "Niederlage der eigenen Regierung."

Es gibt unterschiedliche Sichtweisen, was unter Defätismus zu verstehen sei. Es kann einmal bedeuten Niederlage aller Beteiligten, eine Art Pandefätismus also oder es wird die Niederlage der eigenen Regierung gemeint, was allerdings den Sieg der feindlichen Regierung voraussetzt. Diese Position befürwortet den Krieg im Prinzip und es gab sie in Wirklichkeit z.B. in der Habsburger Monarchie aus Gründen der nationalen Befreiung bestimmter Völker - Tschechen, Kroaten usw. wünschten die Niederlage Habsburgs. Eine dritte Position, die namentlich von Rosa Luxemburg und Leo Trotzki vertreten wurde, stellte die Niederlage der eigenen Regierung dem Sieg der sozialistischen Revolution gegenüber. So werden beide imperialistischen Lager bekämpft, keines bevorzugt und es wird der falschen Alternative "Sieg oder Niederlage" die soziale Revolution gegenübergesetzt. Lenin versuchte seine verschiedenen Versionen von Defätismus mit dieser Antikriegspolitik zu verbinden. Bereits terminologisch musste sich Lenin in gefährliche Gewässer begeben. Verstehen wir unter Defätist jemanden, der in einem Krieg für die Niederlage der eigenen Regierung ist, so impliziert dies, dass er oder sie den Sieg der feindlichen Regierung wünscht. Das konnte unmöglich Lenins Auffassung sein. Es lassen sich vier Versionen bei Lenin herauslesen.[15]

1). Zuerst verband Lenin diese Frage mit der nationalen Frage. Vom Gesichtspunkt der arbeitenden Klasse würde die Niederlage der zaristischen Regierung eine geringere nationale Unterdrückung bedeuten.[16] Hauptaufgabe aller wirklichen Sozialisten ist der Kampf an der Heimatfront, gegen den eigenen Chauvinismus. Unterstellen wir, dass unter einem revolutionären Defätisten jemand zu verstehen ist, der die Niederlage der eigenen Regierung wünscht, aber damit nicht sogleich für den Sieg der gegnerischen Regierung eintritt. Selbst unter dieser Bestimmung bedeutet dies auf Russland bezogen, zuerst einen Sieg der Deutschen, ihr Sieg als geringeres Übel wohlgemerkt. Aber dies war genau die Position der deutschen Sozialpatrioten, gegen die der Hauptteil des von Lenin geschriebenen Textes gerichtet war. Diese Problematik war offenkundig und so wurde diese Version selbst in den bolschewistischen Reihen heftig kritisiert. Die Moskauer Bolschewiken schrieben Lenin, dass sein Defätismus nicht positiv ankomme. Außer Sinowjew hat kein führender Bolschewik damals diese Version des Defätismus vertreten. Aber es lässt sich hier eine Idee in Lenin hineininterpretieren: Wenn schon keine soziale Revolution in Russland zu erwarten sei, so sei doch ein deutsche Sieg besser, das kleinere Übel. Hier klingt ein Zweifel an, ob die sozialistische Revolution eine gangbare Alternative biete. Seine nicht sonderlich überzeugenden Beweise für die "objektive Reife" der sozialistischen Umwälzung, wollten womöglich, diese Zweifel beiseite schieben. Wie dem auch sei, diese Formulierung taugte nichts.

2). Das Problem für die russischen Sozialisten bestand darin: Wenn die russischen Sozialisten die militärische Niederlage des Zarismus wünschten, wie jeder verstand durch die deutschen Waffen, was war dann falsch an den deutschen Chauvinisten, die das gleiche Herauskommen wünschten? In "die russischen Südekums" kritisiert er Axelrod genau in dieser Sache.[17] Wo blieb der Unterschied zu ihm, zu Lenin? Um dieser Problematik zu entgehen, greift er zu einer Floskel: die Niederlage der eigenen Regierung erleichtere die Revolution. Ursprünglich war der Defätismus auf russische Sozialisten beschränkt gewesen, was es unmöglich machte, diese Parole zu internationalisieren. Anders liegt der Sachverhalt bei "die Niederlage begünstige die Revolutionen", denn hierfür gab es bereits historische Belege, nicht zuletzt die Pariser Kommune. Selbst wenn wir diese Formulierung Lenins in den Zusammenhang zu ökonomischer Krise und sozialer Erhebung stellen, bleibt der Slogan recht dünn. Was soll mit "die Niederlage begünstige die Revolution" in der Propaganda gegen den Krieg angefangen werden? Schön gar nicht reicht es als Begründung für den Slogan "hoch die Niederlage der eigenen Regierung".

3). Im Februar 1915 tauchte Lenin seinen Defätismus in eine internationale Strategie. Beide Seiten seien schlecht oder "beide das größere Übel"[18]. Dies kommt einer Revision seiner ursprünglichen Auffassung gleich, wonach der Zarismus hundertmal schlimmer sei als "Kaiserismus". In dieser Leseart wird jetzt die Niederlage jeder imperialistischen Bourgeoisie, in jedem Land, gefordert. Nicht zu vergessen, Niederlage meint immer Niederlage durch die feindliche Regierung, und diese Formulierung schafft mehr Schwierigkeiten als sie löst. Welche Regierung soll allen anderen eine Niederlage bereiten?[19] Aber mit dieser Formulierung hat es noch eine zweite Bewandtnis, auf welche der bolschewistische Kreis um Bucharin aufmerksam machte. In einer Erwiderung auf einen vermutlich von Sinowjew verfassten Artikel, wird die Formulierung hinterfragt, "dass jeder Sozialist verpflichtet sei, die Niederlage Russland zu wünschen." Wenn es Aufgabe von Sozialisten sei, nur zu wünschen, nichts weiter, dann sei es überflüssig, leitende Artikel darüber zu schreiben, so die Kritik. Sei damit aber praktische Teilnahme gemeint, dann müsse die Gruppe ihre Teilhabe verweigern. Denn solle es über das "wünschen" hinausgehen, so bedeute dies Aktionen wie Sprengen von Brücken u.ä. Es könne nicht angehen, dass die Kommunisten für feindliche Armeen tätig werden. Von Lenin ist keine Antwort auf diese korrekte Kritik zu finden.[20]

4). Lenin ließ den kritisierten Slogan einfach fallen und erfand einen neuen. Der Klassenkampf dürfe nicht vor der möglichen Niederlage der eigenen Regierung Halt machen. Damit ist er beim Gegensatz dessen, was er vorher geschrieben hatte, angekommen. Die Niederlage wird nicht mehr gewünscht, sondern in Kauf genommen. Lenin hatte sich selbst in diese Sackgasse gebracht, auf der verzweifelten Suche nach einem einfachen Verfahren, die Spreu vom Weizen zu trennen. Lenins Motiv, eine klare Scheidemünze gegen die "Sozialverräter" und "Opportunisten" zu finden, ist ehrenhaft, nur die theoretische Ausführung taugt nichts. Fassen wir die vier Lesearten nochmals zusammen:

1. Die besondere russische Version: die Niederlage Russlands gegen Deutschland ist das kleinere Übel.

2. Die Niederlage der eigenen Regierung erleichtere die Entwicklung der Revolution.

3. Die Devise, wünsche die Niederlage der Regierung in jedem kriegführenden Land.

4. Lasse Dich nicht vor der Gefahr der Niederlage der eigenen Regierung abschrecken.

Lenin jonglierte mit allen Bestimmungen je nach den Erfordernissen der Diskussion, ließ aber 1917 alle Bestimmungen fahren und kam später nur noch kursorisch darauf zurück. Welche Schlüsse sind daraus zu ziehen? Die Widersprüche und Konfusionen legen es nahe, hierin Lenins späterem Stillschweigen zu folgen und den revolutionären Defätismus als beerdigt zu betrachten. Die auf Marx und Engels getätigten Rückgriffe unter der Annahme sie hätten in ihren Analysen der Arbeiterklasse erläutert, auf welchen Seiten diese in Kriegen Stellung zu beziehen habe, sind ebenfalls irreführend. Ich möchte hierzu aus einem Artikel Marxens aus dem Jahre 1853 während des Krimkrieges zitieren, geschrieben zu einer Zeit, als es auf dem Kontinent noch keine nennenswerten Arbeiterparteien gab und der Chartismus in England bereits im Niedergang begriffen war. "Der Kampf zwischen Westeuropa und Russland um den Besitz von Konstantinopel führt zu der Frage, ob der Byzantinismus der westlichen Zivilisation weichen wird oder ob der Antagonismus zwischen beiden in noch schrecklicheren und gewalttätigeren Formen als je zuvor wiederaufleben soll. Konstantinopel ist die goldene Brücke zwischen Ost und West, und die westliche Zivilisation kann nicht der Sonne gleich die Welt umkreisen, ohne diese Brücke zu passieren; und sie kann die Brücke nicht passieren ohne Kampf mit Russland. Der Sultan hält Konstantinopel nur noch für die Revolution in Verwahrung, und die jetzigen nominellen Würdenträger Westeuropas, ... können ... die Frage [nur] so lange in der Schwebe lassen, bis Russland sich Aug' in Aug' seinem wahren Gegner gegenübersieht, der Revolution. Die Revolution, die das Rom des Westens niederwerfen wird, wird auch den dämonischen Einfluss des Roms des Ostens überwinden." MEW 9, 234ff)

Marx ergreift nicht Partei für eine der beiden kämpfenden Seiten, sondern hält beiden ringenden Parteien die Revolution entgegen. Dies erscheint mir auch für heutige Auseinandersetzungen zum Kriegsgeschehen sehr sinnstiftend, z.B. in der aktuellen Kriegsgefahr in und um die Ukraine. Dabei sind hier die sozialen Hintergründe der Protestbewegung in Kiew und der Westukraine ebenso offensichtlich wie in den östlichen Industriebezirken oder auf der Krim. Auffallend ist nur, dass eine autochthone Protestbewegung durch intensive Einmischung von außen, nicht zuletzt durch Waffenlieferungen und der Infiltration privater Söldner, offenbar erstickt wird. Ähnliches scheint für Syrien zu gelten. Dies erschwert eine internationale Solidaritätsarbeit ungemein. Dessen ungeachtet kann es keinem aufmerksamen Beobachter entgehen, dass diesen politischen Kräftespielen letztlich, wie es der Multimilliardär Warren Buffet in anderem Zusammenhang formulierte, der "Klassenkrieg zwischen arm und reich" zugrunde liegt.

Zimmerwald und Kiental

Der Defätismus steht nicht im Fokus der Leninschen Antikriegspolitik. Dies wird auch daraus ersichtlich, dass sich auf keinem der Dokumente der berühmten Konferenzen der Kriegsgegner in Zimmerwald und Kiental ein Hinweis darauf findet. Das Internationale Sozialistische Büro war untätig geblieben trotz mehrere Aufforderungen im Sinne der Beschlüsse von Stuttgart, Kopenhagen und Basel zu wirken. Inzwischen war die Kriegsbegeisterung, soweit es sie in der arbeitenden Klasse überhaupt gegeben hat, einer Ernüchterung gewichen und Keime ersten Widerstands wurden allenthalben sichtbar. Dem Beispiel Liebknecht, der im Dezember 1914 entgegen der Parteidisziplin die Kriegskredite verweigerte, schlossen sich mehr Abgeordnete an. Die Oppositionsgruppen in den Ländern organisierten sich und begannen illegale Zeitschriften und Flugzettel zu verteilen. Was das offizielle Organ der Internationale unterlassen hatte, eine Zusammenkunft der Sozialisten, die den Beschlüssen der Internationale die Treue hielten, sollte nun anderweitig erreicht werden. Die Initiative hierzu hatte die italienische Partei ergriffen. Noch war Italien nicht in den Krieg eingetreten. Und so tagten schließlich 42 Delegierte aus den kriegführenden Ländern des Kontinents (den Briten wurde die Ausreise verweigert), und einigen neutralen Ländern in einem kleinen Ort bei Bern. Die Geschichte verlief geheim, selbst die Teilnehmerinnen wussten nicht, wo sie sich treffen werden, denn die Delegierten waren vor den wachsamen Augen der Geheimpolizeien zu schützen. Die in Bern Angekommenen wurden ohne Kenntnis des Ziels, das nur der Schweizer Organisator kannte auf Umwegen nach Zimmerwald gefahren. Trotzki spöttelte, nach 4 Jahrzehnten der Gründung der I. Internationale sei es immer noch möglich, alle Internationalisten in vier Kremsern unterzubringen. (Service, 327)

Alle Teilnehmerinnen hatten das "Manifest von Zimmerwald" unterzeichnet, es versetzte die Welt in Aufruhr, zumindest die bürgerliche Presse. Allerdings hatte sich Lenin nicht durchsetzen können mit seiner Forderung, dass der Kampf gegen die Kriege mit dem Wirken für die soziale Revolution verbunden werden müsse. Der französische Delegierte Merrheim erwiderte, dass er sich nicht verpflichten könne, das französische Volk für einen Aufstand gegen den Krieg aufzurufen.[21] Lenins Forderungen wurden als utopisch und unrealistisch zurückgewiesen. Damit fiel dieses Manifest hinter den Beschluss von Basel zurück. Wichtiger aber als dieses Manifest war die Zusammenkunft selbst, es war das Signal, das es eine kleine Minderheit gab, die den Kampf gegen den Krieg führte. (Humbert-Droz, 131-132) Dabei wurde der "Leninsche Utopismus" eineinhalb Jahre später Wirklichkeit, wenngleich auch zu Lenins Überraschung selbst, der bekanntermaßen noch kurz vor Ausbruch der sogenannten Februarrevolution, selbst nicht mehr die Revolution zu erleben glaubte. Aber es blieb nicht nur bei der Erhebung in Russland, wir erinnern an die Revolutionen und Aufstände im Anschluss an den 1. Weltkrieg in Deutschland, Deutsch-Österreich, Ungarn, Italien, die Landbesetzung in Südeuropa usw. Lenin und nicht nur er, erwiesen sich als die größeren Realisten, weil sie die soziale Revolution in Betracht zogen. Andererseits blieben aber jene sozialen Revolutionen aus, die sich Kommunisten und Sozialisten erträumt hatten. Und selbst der Umsturz in Russland erwies sich letztlich als Illusion des Sozialismus. Dies aber sollte uns doch nicht davon abhalten, die prinzipielle Richtigkeit der Alternative anzuerkennen: Krieg oder soziale Revolution.

Auf der Konferenz in Zimmerwald bereits hatte Lenin seiner Strategie treu bleibend versucht, die radikale Linke um sich zu sammeln. Ihr eine internationale Bedeutung zu verschaffen, organisierte er eine weitere Konferenz in der Nähe von Bern. Aber auch dieser Konferenz von Kiental war nur ein geringer Erfolg im Kampf gegen den Krieg beschert. Erst nach dessen Ende gelang es die radikale Linke kurzfristig in der III. Internationale zu vereinen, welche aber früh in das Fahrwasser der Interessen russischer Außenpolitik geriet.

Als der zweite Golfkrieg von Bush dem Alten vom Zaun gebrochen wurde, gab es viele Linke, die sich mit Saddam Hussein im Irak solidarisch zeigten. Ganz nach dem Motto: der Feind meines Feindes ist mein Freund. Das kurdische Volk hat oft einen hohen Preis für diese Einstellung bezahlt, als es von dem Feind seines Feindes im Stich gelassen wurde. Worauf will ich hinaus? Wir sollten wieder den Mut fassen, eine dritte Alternative in Rechnung zu stellen. Zwar mag es utopisch erscheinen, aber weshalb sollten wir in den aktuellen Analysen nicht die Perspektive einer sozialen Revolution wieder aufnehmen, z. B. bezüglich der Ukraine? Wir müssen ja nicht gleich nach den Sternen greifen und von der arabischen oder ukrainischen Welt die Revolution erwarten, die wir selbst zu vollbringen nicht imstande sind. Aber es genügt doch fürs Erste, wenn die Völker, bzw. die Menschen in den Staaten die politische Entscheidungsgewalt über ihr Territorium und ihre Politik zurückgewinnen. Und ich denke, dass wir für diese demokratischen Rückeroberungen eine ganze Menge tun können, wenn wir uns solidarisch mit den sozialen Bewegungen der Welt verhalten und weiterhin für soziale Revolution eintreten.


Anmerkungen

[1] Ich stütze mich hier größtenteils auf Hal Draper, War and Revolution. Lenin and the Myth of Revolutionary Defätism. New Jersey, Humanities Press 1996

[2] Kritik des Gothaer Programms, MEW 19, 28

[3] Z.B. Der Opportunismus und der Zusammenbruch der II. Internationale. LW 22, 107-122. (Jan. 1916)

[4] Braunthal, Julius: Die Geschichte der Internationale. Bonn, J.H.W. Dietz Nachf. GmbH 1978. Band 1. 370-372.

[5] 1911 schickte Deutschland ein Kanonenboot vor die Küste Marokkos, um deutsche Wirtschaftsinteressen gegen die drohende Kolonialisierung Marokkos durch Frankreich zu verteidigen. Die Affäre endete mit einer diplomatischen Niederlage des Kaiserreiches.

[6] Humbert-Droz, Jules: Der Krieg und die Internationale. Wien, Europa 1964, 34.

[7] https://de.wikipedia.org/wiki/Internationaler_Sozialistenkongress_(1912). Zugriff: 26.4.2014.

[8] Frau und man vergleiche die Rolle die Sozialistischen Partei Frankreichs im Algerienkrieg oder siehe die Position der Regierung Schröder/ Fischer zum NATO-Krieg gegen Serbien.

[9] "Mit dem Gefühl tiefster Bitterkeit muss man feststellen, dass die sozialistischen Parteien der wichtigsten europäischen Länder diese ihre Aufgabe nicht erfüllt haben und dass die Haltung der Führer dieser Parteien, insbesondere der deutschen Partei, an direkten Verrat an der Sache des Sozialismus grenzt...." "Die Opportunisten haben sich hinweggesetzt über die Beschlüsse der Stuttgarter, des Kopenhagener und des Basler Kongresses, ..." Der Krieg und die russische Sozialdemokratie. LW 21, 13-21. (Okt. 1914)

[10] So hat der scharfe Blick Gustav Landauers den Kongress zu Basel als eine "theatralisch wirkungsvolle Demonstration" kritisiert, weil "der Kongress nicht eine wirkliche Vorbereitung auf den Ernstfall" organisierte. Landauer, Gustav: Rechenschaft. Aufsätze aus der Zeitschrift Der Sozialist. Impuls, 116-117.

[11] Fischer, Fritz: Griff nach der Weltmacht. Düsseldorf 1964, Droste, S. 111-113.

[12] Humbert-Droz, 48

[13] Quelle

[14] Quelle

[15] Zu den folgenden Ausführungen besonders Draper, War and Revolution.

[16] "Vom Standpunkt der Arbeiterklasse und der werktätigen Massen alle Völker Russlands wäre das kleiner Übel die Niederlage der Zarenmonarchie und ihrer Truppen ..." Die Aufgaben der revolutionären Sozialdemokratie im europäischen Krieg, Aug. 1914 LW 21,4. Lenin zu Schljapnikow am 17.10.1914. "Damit aber der Kampf eine klare und feste Linie verfolgt, bedarf es einer zusammenfassenden Losung. Diese Losung: es kann für uns Russen vom Standpunkt der Interessen der werktätigen Massen und der Arbeiterklasse Russlands nicht der geringste, absolut kein Zweifel darüber herrschen, dass das kleinste Übel für uns jetzt und sofort die Niederlage des Zarismus im gegenwärtigen Kriege wäre. Denn der Zarismus ist hundertmal schlimmer als das Kaisertum." LW 35, 138.

[17] "Axelrods Behauptung, 'Die Niederlage Russlands, die die organische Entwicklung des Landes nicht beeinträchtigen kann, würde dazu beitragen, das alte Regime zu beseitigen', ist an und für sich, ­... richtig, aber in Verbindung mit der Rechtfertigung des deutschen Chauvinismus ist sie nichts anderes als ein Versuch, sich bei den Südekums anzubiedern. Die Nützlichkeit einer Niederlage Russlands anzuerkennen, ohne die deutschen und österreichischen Sozialdemokraten offen des Verrats zu beschuldigen, heißt in Wirklichkeit ihnen helfen, ... die Arbeiter zu betrügen." Die russischen Südekums. LW 21, 112.

[18] "Die moderne Demokratie wir nur in dem Falle sich selbst treu bleiben, wenn sie sich keiner einzigen imperialistischen Bourgeoisie anschließt, wenn sie sagt, dass 'beide das größere Übel' sind, wenn sie in jedem Land die Niederlage der imperialistischen Bourgeoisie herbeiwünscht." Unter fremder Flagge. LW 21, 133.

[19] Service, Robert: Lenin, Eine Biographie. München, dtv 2000, 304.

[20] Draper, 63.

[21] Braunthal, Julius: Geschichte der Internationale. Hannover, J.H.W. Dietz 1963. Band 2,61.

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Marlene Radl:

Affektive vs. Reproduktive Arbeit

Eine Begegnung marxistisch-feministischer und (post-)operaistischer Theorie

Ungeachtet des Erfolgs der Empire Trilogie von Michael Hardt und Antonio Negri in der akademischen wie auch aktivistischen Linken, lässt sich eine feministische Lücke in der Auseinandersetzung mit Hardt und Negris Thesen feststellen. Dabei könnte sich das Integrieren marxistisch-feministischer Kritikpunkte in die Arbeitstheorie von Hardt/Negri als aufschlussreich für eine adäquate Theoretisierung von Reproduktionsarbeit im Postfordismus herausstellen, wie nicht zuletzt die Ausführungen der Feministin und Operaistin Silvia Federici zeigen. Immerhin wollen Hardt/Negri die Veränderungen der hegemonialen Arbeitsformen im Postfordismus thematisieren. Dazu gehört auch, so schreiben sie selbst, "die gewöhnlich als Frauenarbeit bezeichnete Arbeit, insbesondere die Reproduktions- und Hausarbeit."[1] Dieser Anspruch ist zunächst durchaus positiv erwähnenswert, jedoch gilt es ihn sogleich einer kritischen Betrachtung auszusetzten.

Marxistische Feminist_innen plädieren seit den 1960er Jahren dafür, den werterzeugenden Gehalt der Reproduktionsarbeit sowie ihren Grundlagencharakter für kapitalistische Produktionsverhältnisse anzuerkennen. Diese Forderung zielt seit jeher in das Herz marxistischer Theoriebildung, in welcher der Funktion von Reproduktionsarbeit über weite Strecken hinweg keinerlei besondere Bedeutung zugesprochen worden ist. Diesem augenscheinlichen Mangel wirken Hardt/Negri entgegen, indem sie die Produktion von Leben ins Zentrum ihrer Arbeitstheorie stellen. Doch verschleiern sie dadurch eher gesellschaftliche Machtverhältnisse, anstatt diese zu explizieren. Geschlechtsspezifische Ungleichheiten und Hierarchien werden weitgehend ausgeblendet. Analytische Fehlschlüsse führen dabei letztlich erneut zur "Unterschätzung des Ausmaßes der kapitalistischen Ausbeutung der Arbeitskraft"[2], indem der signifikante Charakter von Reproduktionsarbeit weitgehend verkannt wird. Ein Manko, das für marxistische Theoriebildung leider nach wie vor die Regel darstellt.

Grundzüge des Marxistischen Feminismus

Die Qualität marxistisch-feministischer Analysen liegt nach wie vor im Erfassen der spezifischen Rolle von Reproduktionsarbeit im Kapitalismus. Dabei steht die Entwicklung des marxistischen Feminismus selbst in enger Verbindung mit der des Operaismus, auch wenn diese in der herkömmlichen operaistischen Geschichtsschreibung zumeist ausgeblendet wird. Denn die feministische Auseinandersetzung mit der Marx'schen Kritik der Politischen Ökonomie in den 1960er und 70er Jahren ergründete sich (zumindest in Italien) auf dem Einfluss des Operaismus, der einen Bruch mit der evolutionären Lesart des Marxismus markierte. Viele marxistische Feminist_innen traten aus den männlich dominierten operaistischen Gruppierungen aus und organisierten sich autonom, um eine feministische Kritik an der marxistischen Theorie und Praxis zu formulieren. Dabei galt es eine neue Kapitalismusanalyse zu konzipieren, die den Stellenwert der Reproduktionsarbeit betonte und Ausbeutungs- und Arbeitsverhältnisse neu dachte. Im Zentrum dieser Kritik stand seit jeher das Argument, die Marxsche Analyse des Kapitalismus leide darunter, dass Marx nicht in der Lage gewesen sei, wertschöpfende Arbeit anders zu denken als in der Form der Warenproduktion.[3] Marxistische Feminist_innen nahmen den Haushalt als Ort wahr, an dem Produktion stattfindet. Jedoch nicht die Produktion materieller Waren, sondern die Produktion von Arbeiter_innen, was schließlich auch einer Produktion von Leben gleichkommt - eine Begrifflichkeit die später von Hardt/Negri aufgegriffen wird.

Lohn für Hausarbeit

An der operaistischen Bewegung im Speziellen kritisierten die italienischen Feminist_innen den Fokus auf den Lohn als Instrument zur Organisierung und Hierarchisierung der Gesellschaft. In diesem Sinne stand als berühmtes Beispiel die Lohn für Hausarbeit-Kampagne. Diese Kampagne war keinesfalls nur an eine bürgerlich-patriarchale Öffentlichkeit gerichtet, sondern war vor allem auch eine Intervention in eine marxistische innerlinke Debatte. Es ging darum, die Produktion und Reproduktion der Ware Arbeitskraft als notwendigen Teil der kapitalistischen Akkumulation zu diskutieren. Dazu kam auch die Frage nach dem politischen Subjekt, welches fortan nicht mehr so einfach mit dem männlichen Lohnarbeiter gleichgesetzt werden konnte. Seit Marx sei klar, so Mariarosa Dalla Costa, dass der Lohnarbeiter und seine direkte Ausbeutung Grundlage der kapitalistischen Gesellschaft sei. Doch niemals wurde erkannt, "dass gerade durch den Lohn die Ausbeutung der Nichtlohnarbeiter organisiert wird. Diese Form der Ausbeutung war noch effektiver, weil das Fehlen eines Lohns sie verschleierte, mystifizierte. [...] Die Frauenarbeit erscheint daher als persönliche Dienstleistung außerhalb des Kapitals."[4] Der Lohn nahm in dieser frühen marxistisch-feministischen Diskussionen einen besonderen Stellenwert ein, da er von der herkömmlichen Linken (und besonders von den frühen Operaist_innen) als Kriterium akzeptiert wurde, anhand dessen die Arbeit von der Nicht-Arbeit unterschieden wurde.[5] Daraus folgte, dass im Namen des Klassenkampfes immer bestimmte Sektoren der Arbeiter_innenklasse zu revolutionären Subjekten erklärt wurden, während andere Sektoren des Proletariats außen vor gelassen wurden. Um dem entgegenzuwirken, musste Hausarbeit öffentlich sichtbar gemacht werden. Dies war der wesentliche Anspruch der Lohn für Hausarbeit -Kampagne.

In der autonomen Frauenbewegung galt es Frauen- und Reproduktionsarbeit als Klassenkampf zu thematisieren. Nicht zuletzt dieser Fokus auf den Klassenkampf verdeutlicht die operaistische Prägung der Theoretiker_innen. Eine der politischen Konsequenzen dieser theoretischen Einsicht war die Zurückweisung bestimmter Kampfformen des Operaismus wie etwa die Vorstellung vom Generalstreik. Denn, ein wirklicher "Generalstreik" war nicht möglich, während die Hälfte der Bevölkerung zuhause in der Küche weiterarbeitete[6]. Stattdessen wurde "Verweigerung" gewissermaßen zum zentralen Begriff marxistischer Feminist_innen der 70er, denn er zielte in operaistischer Tradition darauf, Arbeit an sich zu verweigern, statt lediglich ihre Bedingungen zu verbessern. Der Kampf gegen die Arbeit galt auch als Kampf gegen das Geschlecht.[7] Daran anschließend erklärt Federici auch heute noch die gleichzeitige Ablehnung von Reproduktionsarbeit und von Lohnarbeit als Ziel der feministischen Bewegung. Denn die Annahme, dass Lohnarbeit Frauen aus dem Haushalt befreie, war seit jeher illusionärer Art. So muss klar sein, dass der Weg zur Befreiung nicht darin bestehen kann, um Lohnarbeit zu kämpfen. "Lohnarbeit mag eine Notwendigkeit sein, sie kann aber keine politische Strategie sein."[8]

Die Bedeutung der autonomen Frauenbewegung und ihre Kritiken müssen betont werden, um die Situation der Linken in Italien der 70er generell und ihre theoretischen Auswirkungen für den (Post-)Operaismus im Speziellen in einem angebrachten Kontext verorten zu können. Schließlich nennt Silvia Federici die Kämpfe der Frauen in den 60ern und 70ern "the most important, most transformative social/cultural revolution in our time."[9] Dies geschieht in klarer Abgrenzung zum Postoperaismus von Hardt/Negri, der zwar ebenfalls die Kämpfe der 60er und 70er Jahre akzentuiert, dabei aber seinen impliziten Fokus auf die Kämpfe des männlichen Industrieproletariats schwer verbergen kann.

Affektive Arbeit bei Hardt/Negri

Reproduktionsarbeit taucht nun bei Hardt/Negri als Bestandteil der Affektiven Arbeit auf. Diese sei jene Seite der Immateriellen Arbeit, welche prinzipiell die Produktion und Handhabung von Affekten beschreibe. Direkte Arbeit am und mit Menschen wird ebenso unter diese Kategorie subsumiert wie etwa "soziale Kompetenz", die in nahezu allen Bereichen des Beschäftigungsspektrums heute gefragt sei.[10] "Affektive Arbeit ist [...] die Arbeit, die Affekte wie Behagen, Befriedigung, Erregung, oder Leidenschaft hervorbringt oder manipuliert."[11] Das Lächeln des_r Verkäufers_in im Fast-Food Restaurant fällt ebenso in diese Kategorie, wie Arbeiter_innen im Kunst und Kulturbereich, die durch Filme oder Musikstücke Zufriedenheit, Anspannung etc. erzeugen.

Hardt und Negri selbst argumentieren, Affektive Arbeit solle von der Seite her begriffen werden, "was in feministischen Untersuchungen zur Frauenarbeit als 'Arbeit am körperlichen Befinden' bezeichnet wird."[12] Ihre Bestimmung der Affektiven Arbeit jedoch gehe über diese feministischen Vorüberlegungen insofern hinaus, als dass sie im Kontext ihrer veränderten Rolle innerhalb des postfordistischen Kapitalismus vorgenommen werde. Diese Arbeit spiele heute eine veränderte und zentrale Rolle für antikapitalistische Projekte. Hardt expliziert, dass er sich zwar dessen bewusst ist, dass affektive und fürsorgliche Arbeiten kein neues Phänomen darstellen, dass jedoch "der Grad, in dem die affektive immaterielle Arbeit produktiv für das Kapital gemacht und in weiten Bereichen der Ökonomie verallgemeinert wurde"[13] neu sei. Heute berge die Affektive Arbeit die höchste Wertschöpfung für das Kapital innerhalb der gegenwärtigen Ökonomie. Der Unterschied liege demnach in der gesamtgesellschaftlichen Bedeutung der Affektiven Arbeit. Zunächst fassen Hardt und Negri den Begriff jedoch sehr weit. Mehr oder weniger stark spiele die Affektive Arbeit in allen Momenten menschlicher Interaktion oder Kommunikation, und somit überall im Dienstleistungssektor, eine Rolle. Darüber hinaus tendiere sie dazu sich weiter auszudehnen und einen immer wichtigeren Platz in der Produktion des gesellschaftlichen Lebens einzunehmen.

"Die affektive Arbeit ist heute nicht nur direkt produktiv für das Kapital, mehr noch, sie bildet die Spitze in der Hierarchie der Arbeitsformen."[14] Affektive Arbeit produziere soziale Netzwerke, Formen der Gemeinschaftlichkeit und letztlich das Leben selbst, denn sie sei durch und durch biopolitisch. Genau diese biopolitische Dimension, hat bei Hardt/Negri, anders als bei Foucault oder den meisten Feminist_innen, eine auch positive Bedeutung. Denn Hardt und Negri begreifen die Produktion von Leben auch als ein "Vermögen, das sich als Biopolitik gegen die unterdrückende Biomacht wenden kann."[15] In der Erzeugung von Sozialität, die für das Kapital verwertet wird, sieht Hardt auch das außerordentliche Potenzial, welches in der Affektiven Arbeit stecke. Er deutet die Biomacht als "eine Macht von unten", die gegen das Kapital und gegen herrschende Verhältnisse der Entfremdung gerichtet werden kann. Affektive Arbeit avanciert so in der Arbeitswertlehre von Hardt und Negri direkt ins Zentrum des befreienden Potenzials der Biomacht.

Affektive Arbeit vs. Reproduktionsarbeit

Mit der Einführung des Begriffs der Affektiven Arbeit knüpfen Hardt und Negri an das Thema "Reproduktionsarbeit" an, welches seit Jahrzehnten im Mittelpunkt feministischer Auseinandersetzungen steht. Hardt und Negri selbst behaupten, sie nehmen die feministische Kritik auf, indem sie sich dezidiert nicht auf bezahlte Erwerbsarbeit fokussieren, sondern eine Arbeitstheorie vertreten, in deren Zentrum die Produktion von Leben stehe. Sie führen aus, dass die Hegemonie der Immateriellen Arbeit ein Resultat der Veränderung hin zur Reellen Subsumtion der Arbeit unter das Kapital sei. Affektive Arbeit an sich sei zwar kein neues Phänomen, wohl aber der Grad in dem sie vom Kapital ausgebeutet werde. Die Frage, wie Affektive Arbeit in der (vorangegangenen) Phase der Formellen Subsumtion der Arbeit unter das Kapital organisiert war bzw. wie diese zur Mehrwerterzeugung beitrug, bleibt gänzlich unbeantwortet.

Es sollte jedoch klar sein, dass für jede Epoche der kapitalistischen Entwicklung Reproduktionsarbeit notwendiger Bestandteil der Kapitalakkumulation war. Dabei beschreibt Reproduktionsarbeit die Produktion von Arbeitskraft und damit eine an sich produktive Arbeit. Es sollte weiter klar sein, dass diese Arbeit zu keiner Zeit außerhalb des Ausbeutungsverhältnisses des Kapitals existieren konnte, denn sie erfüllt, über die Produktion reiner Gebrauchswerte hinaus, eine wesentliche Funktion in der Produktion des Mehrwerts. Der Kapitalismus profitierte zu jeder Phase direkt von (weitgehend unbezahlter) Reproduktionsarbeit, denn diese stellt schließlich die Grundlage für die Produktivität der Lohnarbeit dar und ist somit als "Quelle der gesellschaftlichen Produktivität"[16] dem Kapital auch direkt untergeordnet.

Die Abwertung der Reproduktionsarbeit (die ebenso eine Abwertung der sozialen Stellung der Frau impliziert) hat es dem Kapital seit jeher ermöglicht, Frauen- und Reproduktionsarbeit unbezahlt zu akkumulieren. Die Behauptung diese Art von Arbeit habe in irgendeiner Phase kapitalistischer Produktion außerhalb des Ausbeutungsverhältnisses existiert, muss aus materialistisch-feministischer Perspektive zurückgewiesen werden. Sie ist nicht lediglich eine von vielen Formen immaterieller Arbeit, sie war unter kapitalistischen Produktionsverhältnissen immer schon die Grundlage für jegliche gesellschaftliche Produktivität. Der Begriff der Affektiven Arbeit von Hardt/Negri ist gerade nicht in der Lage, diesen Grundlagencharakter der Reproduktionsarbeit entsprechend anzuerkennen und zu integrieren. Entscheidend für das Verständnis von Reproduktionsarbeit ist dabei die Festhaltung am Begriff der "Arbeitskraft", auch wenn dieser in der feministischen Diskussion oft als reduktiv bezeichnet wird. Denn die Verwendung des Begriffs, vor allem im Zusammenhang mit deren Produktion, signalisiert, dass Reproduktionsarbeit "keine selbstbestimmte Tätigkeit"[17] ist, da sie nicht die Reproduktion unserer selbst oder anderer gemäß unseren freien Willens oder den Wünschen der von uns Reproduzierten darstellt.

Denn als "[...]Produktion und Reproduktion des dem Kapitalisten unentbehrlichsten Produktionsmittels, des Arbeiters selbst"[18], kann die Reproduktionsarbeit keine freie Tätigkeit sein. Sie ist durchweg von den Bedingungen geprägt, die ihr von der kapitalistischen Arbeitsorganisation und den Produktionsverhältnissen oktroyiert werden. Anders als Hardt/Negri begreift Federici den Begriff der Reproduktion der Arbeitskraft deshalb als antagonistisch. Sein Potenzial charakterisiert sich nicht durch die weitgehende Selbstbestimmtheit und Kreativität dieser Arbeitsform, sondern durch die aktive Möglichkeit zur Verweigerung. Bei Federici beginnt der Widerstand gegen kapitalistische Produktionsverhältnisse beim Kampf gegen die (unbezahlte) Reproduktion der Arbeitskraft.

Ungendering of Labor

Der Verdienst des Konzepts der Affektiven Arbeit liegt unbestritten darin, dass es die Reichweite der Immateriellen Arbeit beträchtlich erweitert, denn es schließt weite Teile bislang ignorierter Arbeitsformen ein. Doch besteht die Gefahr, dass Affektive Arbeit zur Generalisierung weiblich konnotierter Reproduktionsarbeit führt, und demnach geschlechtsspezifische Unterschiede unsichtbar gemacht werden - "[...] the main function AL [Affective Labor] performs is the ungendering of labor."[19] Feminist_innen die sich ebenso mit der Frage nach Arbeit, die Affekte stimuliert, auseinandergesetzt haben, lassen keinen Zweifel daran aufkommen, dass Frauen die zentralen Subjekte dieser Art von Arbeit sind. Der quantitative Anstieg des Dienstleistungssektors habe diese Arbeit eventuell neu standardisiert und systematisiert, aber ihre Existenz beruht nach wie vor auf der Tatsache, dass reproduktive Tätigkeiten geschlechtsspezifisch sozialisiert werden.[20] Affektive Arbeit, wie sie bei Hardt/Negri aufkommt, weist keine solch eindeutig geschlechtsspezifische Bestimmung auf. Da Affektive Arbeit mehr oder weniger eine Komponente jeglicher immaterieller Arbeit sei, verliert sie ihre geschlechtliche Konnotation vollkommen. Das Ignorieren des geschlechtsspezifischen Gehalts verschiedener Arten von Arbeit knüpft an einen Fehlschluss in der Arbeitstheorie von Hardt/Negri an - die Aufhebung der Grenze von Produktions- und Reproduktionssphäre. So argumentieren sie zwar richtig, dass gesellschaftliche Produktion heute ebenso innerhalb und außerhalb der Fabrik, wie auch innerhalb und außerhalb des Lohnverhältnisses stattfinde,[21] schlussfolgern aber daraus verkürzt, dass es keinen qualitativen Unterschied mehr zwischen bezahlter und unbezahlter Arbeit gebe. Zwischen den verschiedenen Arten von Arbeit verlaufe "keine gesellschaftliche Trennlinie",[22] denn die Transformation der Arbeit im Postfordismus verschiebe die Grenze zwischen produktiver und reproduktiver Arbeit soweit, bis sich diese Trennlinie letztlich gänzlich auflöse.

Die schlichte Aufhebung dieser Grenze ist äußerst problematisch, denn damit verunmöglichen Hardt/Negri jeden Versuch, die durch diese Grenze produzierten Hierarchisierungen und Ungleichheiten zu kritisieren.[23] Es scheint eher so, als würden sie mit der Aufhebung bezwecken, sich dem Thema der Organisation der Grenze zwischen bezahlter und unbezahlter Arbeit überhaupt nicht stellen zu müssen.[24] Dabei verschleiern sie real existierende Ungleichheiten zwischen Männer und Frauen, und verpassen die Möglichkeit, diese direkt anzugreifen. Hier ist anzumerken, dass sich die Grenze zwischen Produktions- und Reproduktionsarbeit im neoliberalen Postfordismus tatsächlich verschiebt. Doch diese Verschiebung verläuft keinesfalls "geschlechtsblind", sondern hat enorm divergierende Geschlechterimplikationen. So mag auch ein Anstieg der Frauenerwerbsarbeit keine Aufhebung der geschlechtlichen Arbeitsteilung bedeuten, in der Tätigkeiten dem Geschlecht nach zugeordnet werden und unterschiedliche soziale wie materielle Anerkennungen implizieren.

Neoliberale Privatisierungen belasten auf mehrfacher Ebene größtenteils Frauen und tragen zu einer Retraditionalisierung von Geschlechterverhältnissen bei, in der die Familie als zentraler Ort von Sicherheit und Zugehörigkeit ein Aufleben erfährt, was als Kompensation für die Aushöhlung von sozialer Solidarität und gesellschaftlichen Zusammenhalt interpretiert werden kann.[25] Die Verschiebung von Öffentlichkeit und Privatheit, von Produktion und Reproduktion, in der auch die Delegation von Reproduktionsarbeit an unterprivilegierte Frauen und Migrant_innen ihren Ausdruck findet, verschärft demnach eher Geschlechterdisparitäten und eine gesellschaftliche Trennlinie, deren vermeintliches Verschwinden Hardt und Negri postulieren. "Das Modell der Verschmelzung von Produktion und Reproduktion bildet insofern weniger die Realität von Arbeitsverhältnissen ab, als vielmehr ein bestimmtes hegemoniales Bild weiblicher Subjektivität, in dem die Reproduktionsarbeit in den Nischen des neoliberalen Patchworkalltags verschwindet."[26] Von einer abnehmenden Bedeutung der Grenze zwischen Produktion und Reproduktion zu sprechen, wenn gleichzeitig öffentliche Leistungen im Zuge des neoliberalen Umbaus des Staates gekürzt werden, welche Reproduktionsarbeit zunehmend wieder reprivatisieren, kann als fehlgeschlagener Versuch interpretiert werden, der Komplexität der Produktion von Leben gerecht zu werden.

Ausblick

Somit ist der tatsächlich biopolitische Gehalt des Begriffs der Affektiven Arbeit, wie er bei Hardt/Negri Verwendung findet, in Frage zu stellen. Dies allen voran weil die Autoren weitgehend die Machtverhältnisse und die Haushaltsstrukturen ausklammern, unter denen Menschen leben und Arbeit organisiert wird. Dadurch lösen sie die Produktion von Affekten aus ihrem Entstehungskontext heraus,[27] denn Tätigkeiten wie Fürsorge oder Erziehung sind immer auch eingebettet in ein komplexes hegemoniales Geschlechterverhältnis, welches es mitzudenken gilt, sofern diese Art von Arbeit in ihrem spezifischen Charakter erfasst werden will. Dabei erkennt Hardt paradoxerweise in seinem Aufsatz zur Affektiven Arbeit durchaus an, "wie schwierig es zur Zeit noch ist, das Potenzial der affektiven Arbeit von den patriarchalischen Bedingungen der Reproduktion wie von der Familie als dem schwarzen Loch des Subjektiven abzulösen."[28] Dieser scheinbaren Einsicht zum Trotz, analysieren Hardt und Negri weder diese patriarchalen Bedingungen, noch die Organisation von Reproduktionsarbeit, was nicht zuletzt einer Inkonsequenz ihres eigenen Anspruches gleicht.

Dadurch büßt schließlich nicht nur die postoperaistische Arbeitstheorie an analytischer Treffsicherheit ein, sondern damit wird den Grundzügen der postoperaistischen Befreiungstheorie der Boden unter den Füßen genommen. Denn eine Befreiungstheorie von kapitalistischen Produktionsverhältnissen müsste festhalten, dass "Frauen in diesem Kapitalismus anders und mehr ausgebeutet [werden] als Männer, sie sind es, die für die Produktion und die Erhaltung des Lebens verantwortlich gemacht werden [...] - auch im Postfordismus."[29] Antonio Negri und Michael Hardt versuchen die progressive Perspektive der 60er Jahre in ihren Arbeiten fortzusetzen und diese mit poststrukturalistischen Ansätzen zu ergänzen. Daran sollte und kann theoretisch angeknüpft werden. Die bisherigen Vorschläge, die veränderten Arbeitsformen bzw. die Organisation des gesellschaftlichen Lebens im Postfordismus zu theoretisieren, sind jedoch mitunter fehlgeschlagen, da sie zentrale feministische Erkenntnisse ignorieren. Nur in der Einbeziehung materialistisch-feministischer Perspektiven kann Reproduktionsarbeit im postmodernen Kapitalismus angemessen theoretisiert werden. Affektive Arbeit vermag schließlich die zentralen Charakteristika der Reproduktionsarbeit nicht zu integrieren und schon gar nicht zu kompensieren. Denn was heute benötigt wird, ist "die Wiederaufnahme eines kollektiven Kampfes um die Reproduktion",[30] der darauf abzielt, die Macht über die Produktion von Leben wiederzuerlangen und die gesellschaftliche Reproduktion außerhalb der Logik des Kapitals anzusiedeln. Reproduktive Arbeit könnte sich, mehr denn je, als Triebfeder der Revolution herausstellen.


Anmerkungen:

[1] Hardt/Negri 2004, S. 129
[2] Federici 2012, S. 22
[3] vgl. ebd.
[4] Dalla Costa 1978, S. 34
[5] vgl. Federici 2012 [1974], S. 107
[6] vgl. Federici 2012, S. 40f
[7] Adamczak et al. 2012, S. 15
[8] Federici 2012, S. 82
[9] Federici 2011, S. 67
[10] vgl. Hardt/Negri 2004, S. 126
[11] Hardt/Negri 2004, S. 126
[12] Hardt/Negri 2002, S. 304
[13] Hardt 2004, S. 183
[14] Hardt 2004, S. 175
[15] Birkner/Foltin 2010, S. 93
[16] Dalla Costa 1978, S. 40
[17] Federici 2012, S. 46f
[18] MEW, Bd. 23, S. 597
[19] Federici 2011, S. 64
[20] vgl. ebd., S. 65f
[21] vgl. Hardt/Negri 2004, S. 155
[22] Hardt/Negri 2004, S. 155
[23] vgl. Schultz 2002, S. 15
[24] ebd.
[25] vgl. Michalitsch 2006, S. 126f
[26] Schultz 2002, S. 15
[27] vgl. Eichhorn 2004, S. 198
[28] Hardt 2004, S. 186
[29] Birkner/Foltin 2010, S. 161
[30] Federici 2012, S. 83


Literatur

Adamczak Bini et al. (2012): Einleitung oder Anleitung zum Aufstand aus der Küche. In: Federici, Silvia: Aufstand aus der Küche. Edition Assemblage, S. 6-20.

Birkner, Martin; Foltin, Robert (2010): (Post-)Operaismus. Von der Arbeiterautonomie zur Multitude. Stuttgart: Schmetterling Verlag.

Dalla Costa, Mariarosa (1978): Die Frauen und der Umsturz der Gesellschaft. Berlin: Merve.

Eichhorn, Cornelia (2004): Geschlechtliche Teilung der Arbeit. Eine feministische Kritik. In: Atzert, Thomas; Müller, Jost (Hg.): Immaterielle Arbeit und imperiale Souveränität. Analysen und Diskussionen zu Empire. Münster: Westfälisches Dampfboot, S. 189-203.

Federici, Silvia (2012 [1974]): Counter-Planning from the Kitchen. In: Federici, Silvia: Aufstand aus der Küche. Edition Assemblage, S. 106-127.

Federici, Silvia (2011): On Affective Labor. In: Peters, Michael; Bulut, Ergin (Hg.): Cognitive Capitalism. Education and Digital Labor. New York: Lang.

Federici, Silvia (2012): Aufstand aus der Küche. Reproduktionsarbeit im globalen Kapitalismus und die unvollendete feministische Revolution. Münster: Edition Assemblage.

Hardt, Michael (2004): Affektive Arbeit. In: Atzert, Thomas; Müller, Jost (Hg.): Immaterielle Arbeit und imperiale Souveränität. Analysen und Diskussionen zu Empire. Münster: Westfälisches Dampfboot, S. 175-189.

Hardt, Michael; Negri, Antonio (2002): Empire. Die neue Weltordnung. Frankfurt: Campus.

Hardt, Michael; Negri, Antonio (2004): Multitude. Krieg und Demokratie im Empire. Frankfurt: Campus.

Marx, Karl; Engels, Friedrich (1956ff): Werke, Berlin Dietz Verlag (zitiert als MEW), MEW 23: Das Kapital, Erster Band, Einfache Reproduktion, S. 591-604.

Michalitsch, Gabriele (2006): Privatisiert. Geschlechterimplikationen neoliberaler Transformation, in: Lemke, Meike et al. (Hg.innen): Genus Oeconomicum. Ökonomie - Macht - Geschlechterverhältnisse. Konstanz: UVK, S. 119-129.

Schultz, Susanne (2002): Aufgelöste Grenzen und "affektive Arbeit". Über das Verschwinden von Reproduktionsarbeit und feministischer Kritik in Empire. In: Fantomas. Magazin für linke Debatte und Praxis, 2/2002, S. 13-16.

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Irmi Voglmayr:

Prekäre Lebensverhältnisse im Alter

Ein Gespenst geht um im Lande Österreich und es nennt sich Pensionskonto. Seit Anfang Juni des Jahres werden Erstgutschriften, die alle bisher erworbenen Versicherungszeiten ausweisen, an alle ab dem Jahrgang 1955 Geborenen versendet. Jährlich wird eine Teilgutschrift mit den aktuellen Pensionsbeiträgen Auskunft geben, was wir in der Pension zu erwarten haben (vgl. neues Pensionskonto 2014). Dieses Pensionskonto bereitet uns in "verständlicher, transparenter und nachvollziehbarer Weise" auf noch prekärere Lebensbedingungen im Alter vor, die auch mit Altersarmut umschrieben werden können. Wer aber sind wir?

Zum einen beziehe ich mich hier konkret auf die Alterskohorte der 50- bis 60-jährigen, die dem gut ausgebildeten Wissens- und Kreativmilieu zuzuordnen ist, die zeitlebens in prekären Arbeits- und Lebensverhältnissen gelebt hat. Zum anderen spreche ich über die vielen Frauen, gut oder weniger gut ausgebildet, die brüchige Erwerbsbiografien aufgrund geschlechtlicher Vergesellschaftsungsformen aufweisen und ebenfalls massiv davon betroffen sind. 290, 500, 700, 1300 Euro brutto; das sind die Größenordnungen, in denen sich die zirkulierende (vorläufige) Pensionshöhe bewegt. Generell ist der Gender-Gap bei den Pensionen in Österreich sehr hoch: So beträgt das gegenwärtige monatliche Pensionseinkommen bei Frauen 890 Euro und bei Männern 1.483 Euro (Statistik Austria 2014). An diesen Zahlen wird deutlich, dass Frauen bezüglich ihrer Lebenslage im Alter mehrfach sozial gefährdet sind; aufgrund ihrer Geschlechts- und Klassenzugehörigkeit sowie ethnischen Zugehörigkeit und mit der mit dem Alter einhergehenden sozialen Gefährdung, wobei Personen ohne österreichische Staatsbürgerschaft am meisten von Armutsgefährdung betroffen sind (www.50plus.at). Ausgehend von der "Transparenzleistung Pensionskonto" werde ich Einblicke in die Diskursgeschichte des Alters geben - Altern wird vorrangig als sozialpolitischer Diskurs geführt - und dabei auf feministische sowie hegemoniale (mediale) Altersdiskurse in ihrem jeweiligen historischen und sozio-ökonomischen Kontext eingehen, bevor ich mich abschließend der Frage zuwende, wie wir eigentlich im Alter leben wollen. Mit dieser Frage werden auch urbane Praxen in den Blick genommen, die sich aber nicht ausschließlich auf Altern als Identitätskategorie, sondern verknüpft mit einer queeren Perspektive, beziehen.

Prekärer Ruhestand

Der Eintritt in den sogenannten Ruhestand bringt für viele von uns Veränderungen der materiellen Lebensumstände mit sich und trägt zur Marginalisierung älterer Menschen bei. Aufgrund von klassen-, geschlechts- und ethnischen Differenzen, die ausschlaggebend sind für die soziale Lage in der Nach-Erwerbsphase, betrifft es vor allem alte Frauen, deren prekäre Lage ihre frühere Position am Arbeitsmarkt widerspiegelt. War doch in der erwerbszentrierten kapitalistisch-industriellen Gesellschaft die Erwerbsarbeit unstrittig der zentrale soziale Platzanweiser und gleichzeitig wurden über sie vielfältige Dimensionen sozialer Ungleichheit bis heute vermittelt (Völker 2009: 220). Prekarität ist somit als soziales Phänomen von Beginn der Industrialisierung an nicht zuletzt in Gestalt der flexiblen und marginalen Beschäftigung von Frauen aufgetreten. Dies ist zurückzuführen auf die vergeschlechtlichte Weise gesellschaftlicher Arbeitsteilung, die sich in der vornehmlichen Festlegung von Frauen auf reproduktive und sorgende Arbeiten offenbart und die sich trotz ansteigender weiblicher Erwerbsarbeit weiter fortsetzt. Barbara Duden thematisiert gerade die gegenwärtige "Feminisierung" steigender Versorgungsansprüche an die privaten Haushalte bei gleichzeitiger Minderung der zeitlichen und materiellen Ressourcen (Duden 2012: 274f). Sie ortet in den Debatten um die neoliberale Deregulierung und Förderung prekärer Arbeitsmärkte eine "Verbetriebswirtschaftlichung des Sozialen" und zeigt auf, wie mit dem Abbau des öffentlichen Sektors eine "Re-Privatisierung" und "Feminisierung" von Lasten verbunden ist bei gleichzeitiger De-Thematisierung von Frauen in der Care-Ökonomie. Diese reproduktive Verpflichtung geht auf Kosten ihrer Integration in die Lohnarbeit, "die als ein zentraler Modus gesellschaftlicher Partizipation und Inklusion betrachtet wird" (Manske/Pühl 2010: 9).

Ein Blick zurück in die jüngere Diskursgeschichte des Alters zeigt uns, dass ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts der Alter(n)sdiskurs als sozialpolitischer Diskurs geführt wird. Alter wird "zur Sozialstaatsklientel, das völlig andere Thematisierungslogiken fordert und nach sich zieht", so Göckenjan (2000: 301). Der Kern der sozialen Konstruktion des Alter(n)s ist zu jener Zeit der "Abbruch" einer als notwendig angesehenen Lebenskontinuität in der Berufsgesellschaft. Alter wird durch Sozialpolitik zu einer eigenständigen Lebensphase, die von der Phase der Berufstätigkeit abgegrenzt ist, die materielle Bedürftigkeit des Alters in den Vordergrund stellt. Nachdem die Alten keine "nützliche Funktion" mehr in der aufstrebenden Industriegesellschaft ausüben, werden sie als eine potenziell die soziale Ordnung gefährdende soziale Gruppe gesehen, die gestaltet und integriert werden muss (ebd. 2000: 376). Dieser Berufsgesellschaft liegen jedoch asymmetrische Geschlechterverhältnisse zugrunde, denn mit dem Ende der Nachkriegszeit wurden die Frauen vom Arbeitsmarkt verdrängt und die Geschlechterordnung durch die Restauration "normaler Familien" und die Remaskulinisierung der Gesellschaft wieder hergestellt (Duden 2012: 272).

Im Kontext dieser gesellschaftlichen Geschlechterverhältnisse nimmt es auch nicht wunder, dass der Ruhestand für die große Feministin Simone de Beauvoir vorrangig ein Männerproblem darstellt, der vor allem im Leben eines Mannes einen radikalen Bruch mit der Vergangenheit bedeutet und einem "Abstieg ins Grab" gleichkommt. Für Frauen hingegen stellt sie fest, dass sich bei ihnen Arbeit und Leben durchdringen, "keine Verfügung von außen unterbricht brutal ihre Tätigkeiten" (Beauvoir 2000: 337f). Sie gesteht den Frauen einen besseren Umgang mit dem Altern aufgrund einer spezifischen Weiblichkeit zu, die sich in Gemeinschaften offenbare. Ältere Frauen seien es gewohnt, für andere und durch andere zu leben. "So sind sie auch im Alter noch für die anderen da, im Guten wie im Bösen" (ebd.: 622), schrieb sie in ihrem Werk "Das Alter", das 1970 erschienen ist. Beauvoir muss allerdings weitergedacht werden, denn in den modernen marktvermittelten Arbeitsgesellschaften hat Erwerbsarbeit für alle Subjekte eine zentrale Bedeutung in Hinblick auf die Gestaltung ihres Lebens. Die Frauen der sogenannten Baby Boom-Generation, also jene, die in den 1960ern geboren wurden und heute Adressat_innen des Pensionskontos sind, haben sich längst den Eintritt in den Arbeitsmarkt verschafft, auch Frauen sind heute zum lebenslangen Verkauf ihrer Arbeitskraft "gezwungen". Mit dieser zunehmenden Erwerbsintegration hat sich dann auch eine Pluralisierung der Lebensformen vollzogen, die für Frauen im Hinblick auf ihr (Renten-)Alter subjektive Widersprüche, Risiken, aber auch Chancen beinhaltet (Backes 2002: 119).

Altern und Körper

Beauvoir weiter denken bedeutet auch, den Fokus auf die Neuverhandlung des Alterns in der neoliberalen Gesellschaftsordnung zu legen, die sich insbesondere dem Körperkult verschrieben hat. Für Beauvoir bedeutet Altern Verfall; sie nimmt den Prozess des Alterns als eine mit dem Verfall von Klugheit und Schönheit verbundene peinigende Selbsterfahrung wahr und steht damit in der negativistischen Altersreflexionstradition. Im neoliberalen Setting hingegen werden neue Normierungen von vergeschlechtlichten Körpern und Körperbildern, die eingebunden sind in spezifische Körpertechnologien und neue Zeitkonzepte, verhandelt (van Dyk/Lessenich 2009). Aufgrund der steigenden Lebenserwartung - gegenwärtig liegt die durchschnittliche Lebenserwartung von Frauen bei 83 Jahren, von Männern bei 78 Jahren - haben sich Zeitkonzepte durch die gleichzeitige "Entberuflichung" und "Verjüngung" des Alters verändert. Letzteres wird durch Forschungen belegt, die zeigen, dass heutige 70-Jährige so fit und gesund sind wie vor 50 Jahren die 60-Jährigen und dass bei einer Lebenserwartung bis zu 140 Jahren (Hengstschläger) von Kindern, die 2014 auf die Welt gekommen sind, mehr als die Hälfte 106 Jahre alt werden wird, so der Demografieforscher Vaupel (Der Standard, 11./12. Oktober 2014). In diesem Kontext entsteht eine Aufwertung des Körperlichen, der Körper wird zum Kommunikations- und Handlungsträger, und mit ihm wird der Schein erweckt, dass nur fitte und gesunde Körper ein attraktives wie marktkonformes Leben im neoliberalen Kapitalismus führen können. Der Körper, der im Rahmen von Gesundheitspolitik(en) zum Gegenstand staatlichen Gestaltens und Regulierens gemacht wird, spielt auch jenseits der Zurichtung für den Arbeitsmarkt eine zentrale Rolle. Insbesondere Praktiken der Fitness und Wellness stehen für eine visualisierte Gesundheit sowie für eine sichtbar gemachte, distinktive Form der aktiven Lebensführung (Schroeter 2009: 368). Anti-Aging und erfolgreiches Altern werden miteinander verknüpft, und durch die "Arbeit gegen das Altern" wird eine neue Form biopolitischer Regulierung und Normalisierung hervorgebracht, die sich auf die "Autonomie" der Individuen stützt und zwischen Freiheit und Zwang zur Selbstgestaltung changiert (Mehlmann/Ruby 2010: 20). Diese fortwährende Selbstkontrolle, die aus freiem Willen zu erfolgen scheint, erfordert einen "gelehrigen Körper", "der sich hinsichtlich seiner Konstitution und Gestalt nicht nur fortlaufender Verhaltenssteuerung und Produktivität, sondern vor allem technisch-operativen und ästhetisch-stilistischen Optimierungsmaßnahmen unterwirft" (Bublitz 2010: 40). Folglich steht der trainierte Körper, der Ausdauer, Disziplin und Beharrungsvermögen symbolisiert, für eine erfolgreiche Selbstführung und -optimierung, während dem "außerordentlichen Körper", der Zeichen des Alters wie Gebrechlichkeit oder Behinderung aufweist und damit alle angstbesetzten, negativen Repräsentationen auf sich konzentriert, der Subjektstatus verweigert wird (Dederich 2010). Eingebettet in einen biopolitischen Körperkult wird der alternde, gebrechliche und sterbende Körper zum Ausnahmezustand, während der ästhetische, manipulierte, technisch aufgerüstete Körper zum Maß aller Dinge wird: An ihm lassen sich sozialer Aufstieg, Karriere, Ansehen und Anerkennung, insbesondere für das weibliche Geschlecht, ablesen bzw. nur er garantiert ein Leben, ein Glücksversprechen, das das Altern fernhält (vgl. Bublitz 2010). Es sind allen voran Werbung und Massenmedien, die genau diese Bilder und Vorstellungen vom Alter (re)produzieren und verdichten und folglich für die Definition und Festlegung des öffentlichen Bildes vom alten Körper eine besonders bedeutsame Rolle spielen. Mediale Körperrepräsentationen stellen somit nicht nur ein gesellschaftliches Wissen über Alter(n) und Geschlecht in einem bestimmten Machtkontext her, sondern sie forcieren auch Durchsetzung und Einpassung hegemonialer kultureller Vorstellungen über das Altern in die neoliberale Praxis (Voglmayr 2008: 229).

Konstruktion Altern

Zunächst ist festzuhalten, dass die Alten keine homogene Gruppe darstellen und sich auch auf keine homogene Identitätskategorie beziehen können. Für eine genauere Analyse wäre es auch notwendig, das sozial konstruierte System der Heteronormativität zu verlassen und das Augenmerk auf die Pluralität geschlechtlicher und sexueller Existenzweisen zu legen. Ältere Menschen lassen sich auf keine altersspezifische Lebensweise festlegen, sondern müssen in der Heterogenität von Subjektivitäten und Lebensformen wahrgenommen werden. Braidottis Bild der Nomadin liefert die Möglichkeit, der Dynamik und Vielschichtigkeit der Identitätsbildung in unserer Zeit gerecht zu werden. "Die Nomadin ist in diesem Sinne 'polyglott', relativ zum Kontext, permanenten Veränderungen ausgesetzt, fragmentiert, und letztendlich keine autonome oder universelle Wesenheit" (Braidotti, zit. n. Villa 1996: 144). Übersetzt auf die Alten könnte es dann heißen, was wir sind, hängt in einem konstitutiven Sinne davon ab, in welchem Kontext, in welcher Interaktion, in welchem Moment und unter welchen Bedingungen wir alt sind.

Wie wir in unserer dritten Lebensphase leben und lieben wollen, welche Wohnformen wir wählen, welchen Formen von Arbeit wir nachgehen wollen/müssen, welche Bedeutung wir unserem Aussehen, unserem Körper beimessen, bestimmt sich über unterschiedliche Lebensentwürfe und -praxen, die es uns auch ermöglichen, festgeschriebene Altersnormierungen aufzubrechen und die vielfältigen Positionierungen und (widersprüchlichen) subjektiven Bedeutungen von Altern, die wiederum mit den Strukturkategorien Geschlecht, Klasse, "Rasse" sowie der Differenzkategorie sexuelle Orientierung verwoben sind, zu erkennen. Jedoch lässt sich aus der Perspektive subjektiver Erfahrungen, Bedürfnisse und Bedeutungen noch keine Analyse von Gesellschaftsstrukturen und des spezifischen Gewichts verschiedener Formen von Differenzierung für den Gesellschaftsprozess erschließen (Knapp 2001: 44). Daher ist eine Herangehensweise an das Altern aus der Perspektive subjektiver Deutungsmuster und Sinnstiftungen immer auch ins Verhältnis zu objektivierenden Zusammenhangsanalysen zu setzen.

Altern ist eine sozial wirksame Konstruktion, die sich nicht nur gesamtgesellschaftlich, sondern auch individuell manifestiert. Subjektive (weibliche) Erfahrungen mit dem Älterwerden müssen daher in einen Zusammenhang mit der Chronologie des Alter(n)s gebracht werden, die sich in den entwickelten kapitalistischen Gesellschaften des Westens nationenübergreifend etabliert hat: Spätestens mit 50 beginnt das Phänomen der "age anxiety", und diese außerordentliche Magie der Zahl 50 ist ein Beleg dafür, wie die statistische Panik in das persönliche Leben eingreifen kann und mit welch affektiver Aufladung bestimmte Altersstufen versehen werden (Kunow 2005: 30). Wie der Staat und seine Organe über Körper und Bevölkerungen in Form der Biomacht (Foucault) das soziale Leben von innen heraus bestimmten Normen unterwirft, wird deutlich an der Reichweite und den Systematisierungsleistungen des Konzepts "Alter". Angesichts der staatlich regulierten, verwissenschaftlichten Alterseinteilung in eine dritte und vierte Lebensphase - "junge" Alte und "alte" Alte - ist offenkundig, dass Alter(n) nicht primär von biologischen Prozessen determiniert ist, sondern von dem Arsenal an sozio-kulturellen Bedeutungen, mit denen die biologische Ordnung in eine kulturelle Ordnung übersetzt wird (Kunow 2005: 23).

Im Spannungsfeld von staatlicher Regulierung und Versubjektivierung ist Altern eine Kategorie, gleich der Geschlechterkategorie, die an Relevanz und Erklärungskraft verliert und gleichzeitig ihre Wirkmächtigkeit beibehält. Eine "Verjüngung" des Alters und die damit verbundene höhere Lebenserwartung, entbindet uns nicht von der Tatsache, dass wir den Blick nach vorne vom Boden der Endlichkeit und Begrenztheit aus einnehmen müssen. Butlers dekonstruktivistische Auseinandersetzung mit der Kategorie Frauen lässt sich dahingehend auf das Alter übertragen, dass die Kategorie durch die Dekonstruktion nicht unbrauchbar gemacht wird, sondern zu einer Kategorie wird, deren Verwendungen nicht mehr als "Referenten" verdinglicht werden und Aussicht haben, offener und auf unterschiedliche Weise bedeutungsgebend zu sein. So muss es möglich sein, den Begriff zu verwenden, ihn taktisch zu benutzen, selbst wenn man selbst von ihm sozusagen verwendet und eingeordnet wird, und es muss auch möglich sein, den Begriff einer Kritik auszusetzen ... (Butler 1994: 103).

Wenn wir Altern als kulturelle Konstruktion verstehen, dann müssen wir allerdings auch ein richtiges Bild vom Begriff "Konstruktion" vor Augen haben, um nicht in den Irrtum zu verfallen, Konstruktion sei mit Kunstgriff gleichzusetzen. "Im Gegenteil", schreibt Judith Butler, "der Konstruktivismus muss den Bereich der Zwänge berücksichtigen, ohne die ein bestimmtes lebendes und begehrendes Wesen seinen Weg nicht gehen kann. Und jedes derartige Wesen wird nicht nur von dem eingeschränkt, was schwer vorzustellen ist, sondern auch von dem, was radikal undenkbar bleibt" (1994: 103). Konstruiert versus determiniert, so Butler, im Sinne von, das eine ist in gewisser Weise frei, das andere festgelegt, beschreibt nicht die Komplexität. Denn bei der Feststellung, "jemand ist alt", geht es nicht nur um eine bloße Beschreibung eines Sachverhalts, sondern zugleich um eine Anweisung, alt zu sein, darin besteht die Performativität der Aussage (Butler 1995). Die spezifische Machtwirkung der Diskurse besteht in der Einführung einer sozialen Wirklichkeit und deren Ordnung. Diskurse zum Alter, die vorgeben, "was alt ist" und was insbesondere eine "alte Frau" ist, sind wirkmächtig und tatsachenbildend und werden allen voran durch mediale Diskurse und Repräsentationen fort- und festgeschrieben (Voglmayr 2008).

Feministische Altersdiskurse

Kompetenz versus Verfall. Kulturelle Erzählungen über Altern werden überwiegend und nach wie vor als binäre Oppositionen einander gegenüber gestellt und sind in Alternsreflexionstraditionen zu verorten, die auf Altersanalysen des klassischen Altertums zurückgehen (Birkenstock 2000). Trotz diametral entgegengesetzter Herangehensweisen gehen sowohl Simone de Beauvoir als auch Betty Friedan von einem sozialen und kulturellen Konstruktcharakter scheinbar biologischer Gegebenheiten aus, und beide schreiben gegen das Altern als Form der Marginalisierung und Diskriminierung aufgrund dieser immer auch vergeschlechtlichten Konstruktion an. Betty Friedan, US-Feministin der ersten Stunde, sieht gerade im Alter eine Selbstverwirklichungsphase und legt ihren Schwerpunkt auf eine Neustrukturierung des Lebens im Alter. Sie plädiert dafür, im Ruhestand das Leben neu zu strukturieren, neue Ziele und eine Form von Arbeit zu finden, die in die Gesellschaft eingebunden ist, die ihr dient und die die Fähigkeit des Alters auf neue Art und Weise zum Tragen bringt. Friedan, die damit in einer positiven Altersreflexionstradition steht, weist vor allem darauf hin, dass im Alter höhere Werte, Werte jenseits von Geld, Prestige und Macht, zu verfolgen sind. Im Gegensatz zu Beauvoir, deren negatives Altersbild geprägt ist von Stillstand, Ermattung der Wissbegierde und Denkgewohnheiten, die dazu führen, an überholten Methoden festzuhalten, beschreibt Friedan das Syndrom des Jung-Alt-Seins. Darunter versteht sie ein Lebensgefühl, das vom "Vollbesitz seiner Kräfte und Fähigkeiten, seines ganzen Könnens" geprägt ist (Friedan 1997: 300). Friedans Ansatz vom "Mythos Alter" dient vielen von uns als Kraftquelle: mithalten zu können, der Zeit nicht hinterher zu hinken in dieser bewegten, schnelllebigen Welt. Mit ihrem Selbstverwirklichungsansatz, der sich auf erbauliche Ergebnisse aus der gerontologischen Forschung gründet, setzt sich Friedan jedoch der Kritik aus, dass sie die Alten mit ihren hohen Ansprüchen überfordere und ein Idealbild der Veränderbarkeit in der dritten Lebensphase darstelle. Altern ist demnach nicht allein ein unentrinnbarer physiologischer Prozess; das was Menschen erleben und erfahren, die als alt identifiziert werden, ist nicht einmal primär von biologischen Prozessen determiniert. Beauvoir macht vor allem die Klassengesellschaft für den Verfall des Individuums und den Altersabbau verantwortlich. Für sie sind die Ausgebeuteten im Alter zu Elend und Einsamkeit verurteilt. "Es ist die Schuld der Gesellschaft, wenn der Altersabbau bei ihnen vorzeitig einsetzt und wenn er sich so rasch vollzieht ..., weil sie ihm mit leeren Händen gegenüberstehen" (2000: 710). Ihr Ansatz einer gesamtgesellschaftlichen Verantwortung widersetzt sich den neoliberalen Regulierungstechniken, die das Individuum im Sinne der Selbstverantwortung für den Zustand des eigenen Körpers verantwortlich machen. Die klassenspezifische Hinwendung zum Körper, der mit dem Etikett "alt" versehen wird, muss natürlich auch mit der Strukturkategorie Geschlecht verwoben werden. Denn über die Semantisierung und Semiotisierung physiologischer Prozesse zumeist an der Oberfläche des Körpers - graue Haare, Faltenbildung - werden Frauen und Männer unterschiedlich in einem ganz unmittelbaren Wortsinn alt gemacht (Kunow 2005: 22f).

"Die neuen Alten"

In den 1980er Jahren entdecken Wissenschaft und Medien ein neues Phänomen: Das "neue Alter", gekennzeichnet durch Freizeit- und Konsumorientierung, Eigenständigkeit und Kreativität. Die "neuen Alten" werden nun zu Medienereignissen, und mit dieser medialen Entdeckung verlässt das Konzept des "erfolgreichen Alterns" auch seine Fachlichkeit. Die Faszination des neuen Altenbildes speist sich aus den uneingeschränkten Wünschen und Aktivitäten der Alten, das auch medial entsprechend umgesetzt wird. Der Ernst, das Existentielle des Alters hat sich in private, subjektive Bereiche zurückgezogen, schreibt Göckenjan (2000: 406ff). Mit dieser männlich konnotierten Diskursfigur wird gesellschaftlich durchaus der "verdiente" Ruhestand verbunden, mit neuen Chancen des Alters und späten (Konsum-)Freiheiten, noch zugestanden (van Dyk/Lessenich 2009; Göckenjan 2000). Es war eine Zeit, in der die sozialstaatliche Absicherung - sichere Pensionen, kein Eingriff in bestehende Pensionen - noch nicht hinterfragt wurde und zugleich ein erleichterter Zugang in die vorzeitige Pension durch Frühpensionierungen, vor allem im Bereich der verstaatlichten Industrie in Österreich als Gegenmaßnahme zur steigenden Erwerbslosigkeit ermöglicht wurde. Für Beamt_innen galt das "Bundessozialplangesetz", das 2003 auslief und die Möglichkeit bot, ab 55 in Pension zu gehen. Erst ab den späten 1980er Jahren trat das Nachdenken über das Pensionssystem stärker in den Dunstkreis der Finanzierungsaufgaben (Amann 2004).

Die Rede von einer neuen Alterskultur, geprägt durch eine selbstbestimmte, aktive Freizeit- und Lebensgestaltung, war insbesondere nach einer Zeit der Absonderung und des Rückzugs von alten Menschen, verwissenschaftlicht in der Disengagementtheorie, von Bedeutung. Die Ambivalenz dieser Alterskultur liegt nun darin, dass einerseits Eigeninitiative, aktives und erfolgreiches Altern im Vordergrund stehen und über den Rahmen der Altenhilfe hinausweisen. Andererseits verdichtet der Terminus "die neuen Alten" eine gänzlich veränderte Altersstilisierung, die "eine utopische Phantasie der unbegrenzten Möglichkeiten in einer nie endenden Alterslebensphase im Überfluss der Konsumgesellschaft" verbreitet (Göckenjan 2000: 406). Eine Leerstelle bildet in diesem hegemonialen Diskurs die Sorgearbeit, die Alltäglichkeit von Sorgearbeiten und Sorgebeziehungen, die in der dritten und insbesondere in der vierten Lebensphase an Intensität und Qualität zunehmen. Gegenwärtig wird von einer problematischen analytischen Zweiteilung der Altersphase in ein drittes, junges, gesundes Alter und ein viertes Alter, das stark durch Krankheit, Abhängigkeit und Pflegebedürftigkeit geprägt ist, ausgegangen (Mehlmann/Ruby 2010: 15). Die Problematik an allen Altersdefinitionen und im Besonderen an dieser Zweiteilung liegt darin, dass sich vor allem in der Definition des vierten Alters, den sogenannten Hochaltrigen, alle Negativbilder, die wir vom Altern haben, konzentrieren (ebd.). Eine Altersstilisierung, die Unabhängigkeit und späte Freiheit vorgibt, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die alltägliche Erhaltung von Gesundheit und Leben für den alten Körper einen zunehmend größeren Aufmerksamkeitsraum einnimmt, sei es in Form von gepflegt werden oder sich um andere sorgen zu müssen. Mit der Vulnerabilität im Alter steigen Ängste, Ungewissheiten und Verunsicherungen, die die Frage nach Sorgepraktiken immer dringlicher macht, vor allem wenn wir Sorge als Aufmerksamkeit verstehen, als Anerkennung des Umstands, dass das lebenswerte Leben nur in Interaktionen mit anderen entfaltet werden kann und, dass sich das Leben im Leben selbst entscheidet und nicht auf den Märkten besorgt werden kann, wie es die Precarias a la deriva formulieren (2011: 112).

"Die jungen Alten"

Angekommen in den 1990er Jahren verliert sich die Spur der "neuen Alten", die nun durch die Sozialfigur der "jungen Alten" abgelöst werden (van Dyk/Lessenich 2009). Im Kontext von flexiblem Kapitalismus, demographischem Wandel und abgebautem Sozialstaat, setzt der Staat auf eine Sozialpolitik der Aktivierung, die als Befreiung aus der Unmündigkeit und als individuelles Recht auf Aktivität (im Alter) ausgegeben wird. Durch die damit entstandene gesellschaftliche Neuverhandlung des Alters wird nun die gezielte und verbindliche Nutzung der Ressourcen und Potenziale von jungen, fitten Alten eingefordert. Die sozialstaatliche Aktivierungspolitik zielt auf die Potenziale des Alters, indem den Alten, nicht zuletzt aufgrund ihres "verjüngten" Alters", individuelle Verantwortung und Autonomie zugewiesen wird; gleichzeitig werden sie für den gesellschaftlichen Zusammenhalt der Generationen verantwortlich gemacht. Zeitgleich mit dem Strukturwandel der Sozialpolitik und dem zu erwartenden Altersstrukturwandel nimmt das Prinzip selbstregulativer Prävention - das präventive, risikobewusste Verhalten der Einzelnen, das sich am Systembedarf orientiert - zunehmend normativen Charakter an. Im Zuge dessen wurde auch die Sozialpolitik gegenüber älteren Menschen schrittweise auf das ausgegebene Ziel eingestellt, die Subjekte für den Kampf gegen die "alternde" Gesellschaft zu mobilisieren bzw. sie zumindest für die Bewältigung der Folgen der gesellschaftlichen Alterung zu aktivieren (ebd. 24). Programme, die sich vom Sozialstaat verabschieden, bedienen sich des "Aktivitätsideals", dass das alte Spannungsverhältnis zwischen Produktivität und Unproduktivität durch ein entsprechendes Spektrum von Werten ersetzt, das von Aktivität bis zur Inaktivität reicht. Aktivität gilt in diesem Diskurs als zentrale Ressource für Mobilität und Selbstbestimmung im Alter und als "Wundermittel angesichts der Unwägbarkeiten des untergehenden Sozialstaates und des politischen Managements der so genannten gefährdeten Bevölkerung" (Katz 2009: 179).

Sind bei Katz und den von ihn angeführten Untersuchungen noch Freizeitprogramme und soziale Teilhabe am gesellschaftlichen Leben vorherrschend, so steht gegenwärtig die gesellschaftliche Verpflichtung zur Aktivität im Zentrum des Diskurses. Damit geht auch eine immer wiederkehrende heftige Debatte zur Anhebung des (Frauen-)Pensionsalters einher, die auf eine "Feminisierung" der sozialpolitischen Lasten hinausläuft. Wir wissen um die Dominanz älterer Frauen im sozialen Ehrenamt und in der häuslichen Pflege sowie um den bestehenden Trend zur stärkeren Umverteilung von Care-Arbeit zwischen verschiedenen Frauengenerationen (Backes 2002). Ob und vor allem in welcher Tragweite es zu Verschiebungen im Geschlechter-Arrangement der Versorgerehe, das auf die Nach-Erwerbsphase gerade in Bezug auf Pensionseinkommen ausstrahlt, im Alter kommt, indem sich Männer weiblichen Vergesellschaftungsformen annähern oder billige Dienstleisterinnen aus den armen Ländern in Anspruch genommen werden, kann hier - auch mangels vorliegender Studien - nur kurz angedacht werden. Was zudem normalisierte prekarisierte Arbeits- und Lebensverhältnisse, in denen Beruf und Pension durcheinander geraten, bei den alternden Subjekten anrichtet, wird sich uns erst in den nächsten Jahren erschließen.

Prekäres Altern

Ein Blick auf die Sozialdaten zeigt, dass, nur wenn eine Person zumindest 30 Jahre erwerbstätig gewesen ist, sich ihr Armutsgefährdungsrisiko im Alter gegenüber Personen, die niemals erwerbstätig waren, verringert (Heitzmann/Eiffe 2008: 22). Daraus lässt sich folgern, dass sogenannte "weibliche Normalarbeitsverhältnisse" und vor allem "selbst gewählte" prekäre Arbeitsverhältnisse sich eben nicht mit der männlich konnotierten Vorstellung von Freiheit - wir können unser Leben frei, autonom und nach eigenen Entscheidungen gestalten - decken. Prekarisierungstendenzen in ihrer alten Gestalt haben mehrheitlich für Frauen immer schon eine unsichere Existenz geschaffen, die sich im Alter gerade in Hinblick auf die Verfügbarkeit von Ressourcen jeglicher Art fortsetzt. In ihrer alten und neuen Gestalt erfasst Prekarisierung nun nicht nur die Ränder des Beschäftigungssystems, sondern sein Zentrum und damit in historisch neuem Ausmaß auch die Männer (Aulenbacher 2009: 65). Indem Prekarisierung im Neoliberalismus über das Beschäftigungssystem hinausgeht und die gesamte Existenz erfasst, stellt sie ein Phänomen dar, das sich allmählich normalisiert und ihr bedrohliches Potenzial verliert. Prekarisierung verwandelt sich zum normalisierten politisch-ökonomischen Instrument (Lorey 2012: 57). Folglich kann Prekarität nicht auf ein Unterklassenphänomen reduziert und generell mit Armut und sozialer Exklusion gleichgesetzt werden, sondern muss als Prozess verstanden werden, der tendenziell die Gesamtheit sozialer Verhältnisse umfasst. Trotz dieser Entwicklungen finden sich auch innerhalb des "Prekariats" handfeste Differenzen und Diskrepanzen zwischen den Angehörigen verschiedener Berufs- und Bildungsgruppen, die zunehmende soziale Ungleichheit offen zu Tage treten lässt. Soziale Gräben durchziehen sowohl die Kreativwirtschaft als auch den Wissenschaftsbetrieb, auch hier bestimmen Hierarchisierungen und Differenzierungen die Felder. Und die Prekarität der Marginalisierten behält weiterhin ihr gefährliches Potenzial (Lorey 2012). Angesichts des Brüchigwerdens staatlicher Sicherungssysteme verbunden mit einer handfesten Krise der Erwerbsarbeitsgesellschaft, ist für kommende (Frauen-)Generationen Armut im Alter vorprogrammiert, wenn nicht im Hier und Jetzt politisches emanzipatorisches Handeln gegen die vom kapitalistischen System produzierten Mehrfachkrisen erfolgt.

Mediale Altersdiskurse

Die gesellschaftliche Produktion des Wissens über Altern muss einem historischen Vergleich unterzogen werden, um plausible Antworten geliefert zu bekommen, warum immer wieder bestimmte Generalisierungen des Alters benutzt werden und was diese überhaupt mit dem empirischen Alter(n) zu tun haben könnten (Göckenjan 2000: 13). Im Hinblick auf Altersdiskurse und -repräsentationen sind es vor allem ideologische Apparate wie die Medien, die gesellschaftliche Bedeutungen produzieren und in der Gesellschaft verbreiten. Folglich sind Medien eine machtvolle Quelle von Vorstellungen über Altern; sie transportieren zum einen Normierungen für das individuelle Verhalten in einer zunehmend medial verfassten und erfahrenen Realität und sind so an der Konstitution von vergeschlechtlichten Altersbildern wesentlich beteiligt. Zum anderen unterliegt die "Versorgung mit sozialem Wissen", implizit oder explizit, bestimmten Absichten innerhalb von Ideologien (Hall 1989: 151). Ein Einblick in mediale Diskurse zum Topos Altern in den österreichischen Printmedien, vom Boulevard bis zu den sogenannten Qualitäts- und Alternativzeitungen/schriften im Zeitraum 2013-14 zeigt, dass Altern fast ausschließlich über das Diskursfeld Pensionen abgehandelt wird (Interner Seminarbericht 2014). (Mediale) Alterspolitik wird demnach auf Rentenpolitik reduziert, und das zeugt von der engen Verflechtung der Medien mit gesellschaftlichen Institutionen, Diskursen und sozialen Praxen, die sie nicht nur beeinflussen, sondern auch mitkonstituieren. Die angeführten Argumente - das Pensionssystem sei zu teuer, die Menschen gingen zu früh in Rente und würden so zu einer zunehmenden finanziellen Belastung für die gesamte Gesellschaft - unterliegen einem starken Wiederholungszwang, nicht nur von konservativer Seite. 2011 gingen in Österreich Männer im Durchschnitt mit 59,1 und Frauen mit 57,6 Jahren in Pension. Im OECD-Vergleich lag das durchschnittliche Pensionsalter bei 63,6 bei den Männern und 62,4 Jahre bei den Frauen. Aufgrund der vorgenommenen Verschärfungen, nicht zuletzt bei der Hacklerregelung, weisen die Daten der Statistik Austria bereits Ende Dezember 2012 ein höheres Pensionsantrittsalter aus, Männer gingen im Schnitt mit 62,9 und Frauen mit 59,3 Jahren in die normale Alterspension. Im Kontext des Rück- und Umbaus des Sozialstaats verbreiten Mainstream-Medien fast ausschließlich solche Konzepte gegen die Gefährdung "unserer" Pensionssysteme, die auf eine Neuberechnung des Pensionsalters abzielen. Gegenwärtig werden wir mit dem ÖVP-Vorschlag "Pensionsautomatik" massiv konfrontiert, der ganz allgemein besagt, dass mit steigender Lebenserwartung das Pensionsantrittsalter automatisch angehoben werden soll. Ein Konzept übrigens, das bereits 2006 von der SPÖ-Spitze vorgeschlagen und mit Blick auf ihre alten Stammwähler_innen auch gleich wieder verworfen wurde. Diskutiert wird auch ein skandinavischer Pensionsentwurf, der vorsieht, das Rentenalter aus statistischer Lebenserwartung minus 17 Jahre zu berechnen (Vaupel 2014). Die in den Medien zu Wort kommenden Expert_innen sind durchweg sozial gesicherte, gesunde und gebildete (männliche) Alte, die der neoliberalen Logik verhaftet sind und keine konkreten gesellschaftlichen Utopien zu denken vermögen. So auch der Altersforscher Rosenmayr, der mit Beispielen aus Japan, wo über 80-jährige Universitätsprofessor_innen nach ihrer wissenschaftlichen Karriere noch als Lehrer_innen an Schulen tätig sind, wahrlich aufhorchen lässt. Leistungsverweigerung oder "Halbsimulantentum" schreibt er hingegen jenen zu, die mit "58 oder 59 Jahren im herbstlichen Garten nur mehr die Birnen" ernten (Der Standard, 28.10.2011). Keinen Eingang in den öffentlichen Diskurs findet das "Leben der Beherrschten"; nicht gehört werden jene, die Flexibilisierung und Vermarktlichung als Fremdbestimmung erleben und die vielleicht gerade in der (gemeinsamen) Gartenarbeit einen Weg aus Erschöpfungs- und Depressionszuständen sehen. Implizit und explizit ist die mediale Berichterstattung durchtränkt von repressiver Altersdiskriminierung, die an unterschiedlichen Schauplätzen auftritt und die als eine verkörperte Form von Unterdrückung verstanden werden muss, denn altersdiskriminierende Praktiken können nicht von den Körpern getrennt werden, auf die sie gerichtet sind oder auf deren Basis sie konstruiert werden (Laws 2009: 112).

Alten als Risiko und Chance

Wie Subjekte altern, hängt - schwere Schicksalsschläge beiseite gelassen - immer auch davon ab, wie sie ihr Leben in der Vergangenheit gelebt haben und wie sie es weiter entwerfen werden. Somit stellt sich die grundlegende Frage, inwieweit persönliche Lebenswege, oftmals durch Mehrfachbelastungen und schwere körperliche Arbeit gekennzeichnet, verallgemeinerbare Elemente aufweisen und ob in der Folge ein staatlich festgelegtes einheitliches Pensionsantrittsalter nicht überhaupt infrage gestellt werden muss.

Das Leben selbst ist ein Risiko, Alter(n) wird zum besonderen Risiko; diese Risiken werden intersubjektiv geteilt bzw. verteilt und als unentrinnbare Gefährdungen erlebt. Simone de Beauvoir drückt dies so aus: "Eine begrenzte Zukunft, eine erstarrte Vergangenheit - das ist die Situation, der sich der alte Mensch gegenübersieht" (Beauvoir 2000: 492). Diese Form des Erlebens von Alter(n) ist zwar individuell situiert, aber gesellschaftlich konstruiert. Beauvoir, die das Verhältnis von Lebensalter und Altersabbau vorrangig mit der Klassenzugehörigkeit argumentiert, führt den gesellschaftlichen Umgang mit alten Menschen auf ein "Scheitern unserer Zivilisation" zurück (ebd.: 711f). Sie fordert, dass in einer idealen Gesellschaft das Alter gewissermaßen gar nicht existieren sollte. Das letzte Alter entspricht ihrem Wunsch nach einer Existenzphase, die sich von der Jugend und dem Erwachsenenalter unterscheidet, aber ihr eigenes Gleichgewicht besitzt und das dem Menschen eine weite Skala von Möglichkeiten offen lässt.

Ihre Vorstellung vom letzten Alter eröffnet die Möglichkeit eines Gegendiskurses zum hegemonialen Diskurs des "alterslosen Selbst" das auf einer Illusion basierend, durch die Gestaltung des Körpers mittels propagierter Maßnahmen wie Faltenreduktion, Fitnessprogramme, Lifestyle-Medikamente und Schönheitschirurgie gestützt wird. In der Frage nach der "weiten Skala von Möglichkeiten" erschöpft sich Denkbares in der neoliberalen Alterskultur ganz schnell im Aktivitätsdogma, das durch die "jungen Alten" repräsentiert wird. Sie sind aktuell Ausgangspunkt einer (sozial)politischen Steuerung der "alternden" Gesellschaft und somit wert- und stilprägend für das soziale Leben der Zukunft (van Dyk/Lessenich 2009: 405). Katz (2009) spricht von einer "Aktivitätsmanie" der Alten, von "geschäftigen Körpern in der aktiven Gesellschaft", die auch in der Werbewelt und Medienlandschaft vorherrschend sind und denen es ein Leichtes scheint, auch in sozial unsicheren und instabilen Zeiten gesellschaftliche Erwartungen aus den Bereichen Leistung, Gesundheit und Ästhetik locker und leicht zu realisieren. Mit dem Aufstieg des als aktiv gedachten und gewünschten Alters werden die "jungen Alten" in erster Linie angehalten, für den Arbeitsmarkt bereitzustehen, obwohl gegenwärtig jede/r vierte arbeitslos Vermerkte über 50 Jahre alt ist und Eingliederungsmaßnahmen und Bemühungen um eine Optimierung der Zusammenarbeit zwischen Jung und Alt (Age Diversity Management) so gut wie keine Erfolge zeigen. Die Konstruktion des alten Körpers als aktiver Körper, der eine Verherrlichung der Jugend darstellt, ist daher als Disziplinarstrategie zu begreifen, die nicht nur die Alten nötigt, die sozialpolitischen Folgen ihres Alt werden (mit)zutragen, sondern auch aktiv an der Konsumökonomie zu partizipieren. Mit der Aufwertung des Alters erfolgt die Anweisung, auch im Ruhestand eine konsumorientierte Lebensweise fortzusetzen und das durchaus mit Erfolg: Denn seit den 1980er ist eine neue Generation von alten Konsument_innen in Erscheinung getreten, die mit dem Bild der "bedürfnislosen Alten" aufgeräumt hat.

Innerhalb dieser Disziplinarkonstellation von Wissen, Macht, Lifestyle und Gesundheit tritt die - auch mit Konsum verbundene - ununterbrochene Aktivität an die Stelle der persönlichen Entwicklung. Diejenigen, die ihre Innenwelten der äußeren Welt vorziehen, dem Müßiggang huldigen und sich dem propagierten Aktivitätsideal entsagen, gelten fortan als Problemfälle. Damit diese wertprägenden normierenden Altersstandards erkannt und erreicht werden können, werden die Alten angehalten, an ihrem Selbst zu arbeiten, um die Art von Person zu werden, die innerhalb dieses Aktivitätsdiskures gehört und gesehen werden kann (Katz 2009). Beauvoirs Denken von einer "weiten Skala von Möglichkeiten" im Alter endet somit im neoliberalen Aktivitätsdiskurs; einem Diskurs, der Anwendungen und Orientierungen für die Umsetzung in Handlungen gegen das Altern als Form der Marginalisierung und gegen die "negativen" Kräfte, die in Gestalt von Abhängigkeit, Krankheit und Einsamkeit im untergehenden Sozialstaat daherkommen, bereitstellen soll.

Wie wollen wir im Alter leben?

Leben in der Stadt oder auf dem Land? In den eigenen vier Wänden, in der Senior_innenresidenz, in intergenerationellen Wohnbauten, in queeren Wohngemeinschaften? Nicht leben wollen wir in krankenhausähnlichen Institutionen, in schlecht geführten Pflegeeinrichtungen, in sogenannten Alten-Ghettos, die bestimmten (sozialen) Ordnungsvorstellungen unterliegen. Foucault spricht vom heterotopischen Ort Altersheim, ein Raum, in den Individuen, deren Verhalten abweichend ist im Verhältnis zur Norm, gesteckt werden. Das Altersheim liegt an der Grenze zwischen der Krisenheterotopie und der Abweichungsheterotopie; "denn das Alter ist eine Krise, aber auch eine Abweichung, da in unserer Gesellschaft, wo die Freiheit die Regel ist, der Müßiggang eine Art Abweichung ist" (Foucault 1999: 151-154). Und damit rückt im Alter das Alltagsleben und der Primat des Wohnens wieder in den Fokus. Gegen den entfremdeten, urbanisierten Alltag, als Produkt einer technokratischen Regulierung und ökonomischen Bewirtschaftung (Lefebvre 2014), entwickeln generationenübergreifende Gruppen und Kollektive urbane Praxen, die sich zunehmend gegen die Untergrabung des Wohnraumes, reduziert auf elementare Funktionen wie Essen, Schlafen und Fortpflanzung, richten. In diesen neuen Formen des Zusammenlebens verbindet sich soziales Miteinander mit gesicherter Lebensführung; zugleich spiegelt sich auch eine Widerstandshaltung gegen die neoliberale Raumverwertung. Diese gemeinschaftlichen Entwicklungen sind auch im Kontext prekarisierter Arbeits- und Lebenszusammenhänge zu begreifen, weil die damit einhergehende soziale Unbestimmtheit zu einem verstärkten Sicherheitsbedürfnis, allen voran in der Mittelklasse führt, die von sozialen Abstiegsängsten geplagt wird. Alternativ konzipierte Wohnmodelle, die auf Selbstorganisation und Partizipation basieren, umschließen private Rückzugsräume und große Gemeinschaftsräume, Arbeitsräume und soziale Räume, Betreuungsmöglichkeiten für die Alten, Biogärten und stellen Commoning, das Tauschen und Teilen von Gütern, wieder in den Mittelpunkt des Handelns. Durch die kollektive Nutzung von Ressourcen stellen Commons eine Strategie gegen neue Verelendungsformen im untergehenden Sozialstaat, wie die zunehmend sichtbare (Alters-)Armut, dar (Helfrich 2013).

Es gilt jedoch grundlegendere politische Veränderungen aus unterschiedlichen Perspektiven zu denken. Ausgehend von einer grundsätzlichen Infragestellung der "Aktivgesellschaft" und der daraus resultierenden Zwangsaktivierung müssen sich widerständische Praxen konkret gegen den Zwang zum Verkauf der Arbeitskraft bis ins hohe Alter richten bei gleichzeitiger Wahlfreiheit für jene, die länger im Erwerbsarbeitsprozess stehen wollen. Gegen soziale Gefährdungen in "entsicherten Verhältnissen" stellt das Recht auf Existenzsicherung in Form eines bedingungslosen Grundeinkommens, mit dem sich soziales Leben reproduzieren lässt, eine Alternative dar, die nicht auf Arbeitszwang basiert. Zudem würde diese Form der Existenzsicherung die Rahmenbedingungen für generationenübergreifende Commons-Initiativen in Bezug auf Wohnen, Energie, gesunde Nahrungsmittel etc. enorm verbessern. Eine relevante Rolle spielt in diesem neuen Gesellschaftsentwurf die Verfügbarkeit über Zeit, die ja mit der dritten Lebensphase idealiter verknüpft wird. Zeitautonomie ist Voraussetzung für den Aufbau von sozialen Beziehungen und Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen, die es uns erlauben, unseren Möglichkeitssinn für ein gutes Leben (für alle) zu schärfen. Zum guten Leben gehört auch die Aufteilung der Reproduktionsarbeit auf alle Geschlechter, bei ihrer gleichzeitigen Verortung im gesellschaftlichen Zentrum, denn die Sorge um das Leben ist vorherrschend in der Welt der Alten. In einer alternden Gesellschaft - in Österreich sind rund 1,5 Millionen Menschen über 65 Jahre alt - bedeutet Teilhabe am urbanen Leben, dem Wohlbefinden des Körpers und seines Lebensraumes vermehrte gesellschaftliche Aufmerksamkeit zuteilwerden zu lassen, nicht zuletzt in der Umsetzung von Handlungs- und Bewegungsfreiheit im öffentlichen Raum.


Literatur:

Amann, Anton (2004): Die großen Alterslügen. Generationenkrieg, Pflegechaos, Fortschrittsbremse? Wien - Köln - Weimar: Böhlau Verlag.

Aulenbacher, Brigitte (2009): "Die soziale Frage neu gestellt - Gesellschaftsanalysen der Prekarisierungs- und Geschlechterforschung". In: Castel, Robert/Dörre, Klaus (Hg.): Prekarität, Abstieg, Ausgrenzung. Die soziale Frage am Beginn des 21. Jahrhunderts. Frankfurt/New York: Campus Verlag, 65-77.

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Buchbesprechung von Stefanie Klamuth

Thomas Schmidinger: Krieg und Revolution in Syrisch-Kurdistan. Analysen und Stimmen aus Rojava

Wien: Mandelbaum Verlag, 2014, 264 Seiten, Euro 16,90

"Diese Publikation ist eine Momentaufnahme einer sich in Echtzeit abspielenden Entwicklung (...) Die Geschichte der politischen Entwicklung Rojavas wird erst zu schreiben sein."

Bücher zu aktuellen gesellschaftlichen Konflikten und Umbrüchen zu schreiben, ist für AutorInnen stets eine Herausforderung, da sie nie den Anspruch erfüllen können, tagesaktuell zu sein und mit den schnelllebigen Medien - allen voran dem Internet - nicht mithalten können. Bücher, wie jenes des Politikwissenschafters Thomas Schmidinger mit dem Titel "Krieg und Revolution in Syrisch-Kurdistan. Analysen und Stimmen aus Rojava" leisten allerdings einen wichtigen Beitrag, wenn es darum geht, aktuelle Entwicklungen besser zu verstehen und historisch wichtige Fakten für gegenwärtige Auseinandersetzungen aufzubereiten. Genau darin liegt auch die größte Stärke von Schmidingers Buch: "Ziel dieses Buches ist nicht eine Prognose der Zukunft Syriens, sondern eine aktuelle Darstellung der Entwicklung des zweiten kurdischen Para-Staates".

Der Konflikt in Syrisch-Kurdistan (Rojava) bestimmt seit Monaten die mediale Berichterstattung und linke Debatten. Spätestens mit dem Erstarken des "IS" ("Islamischer Staat") in der Region des Nordirak und Nordsyriens vergeht kaum ein Tag, an dem nicht über die Situation der KurdInnen vor Ort berichtet wird. In österreichischen Medien ist der Politikwissenschafter Thomas Schmidinger mit seinen Expertisen und Einschätzungen präsenter als jedeR andere ExpertIn. Er hat mit der Arbeit an seinem Buch bereits im Frühjahr 2014, also vor dem Vormarsch des "IS" begonnen, die Region mehrere Male bereist (zuletzt Anfang 2014) und dabei zahlreiche Interviews mit VetreterInnen verschiedener kurdischer Organisationen geführt. Diese Interviews bilden den zweiten Teil des Buches, die "Stimmen aus Rojava", und geben vielfältige persönliche Einblicke in die Konflikte der Region in den letzten Jahren wieder. Schmidinger hat sich dabei bemüht, unterschiedliche Standpunkte und Haltungen einzufangen, und diese seinen Analysen - dem ersten Teil des Buches - nachzustellen. Die InterviewpartnerInnen sind nicht durchgängig linke oder "klassenbewusste" AktivistInnen, dennoch liefern sie auch für die linke Debatte interessante und teilweise auch kontroverse Einschätzungen, die sonst kaum oder nur sehr verkürzt ihren Weg in europäische Köpfe und Debatten finden.

"Feldforschung ist (...) derzeit nur kurz und nur in Begleitung möglich. In einer hochgradig politisierten Gesellschaft bedeutet dies selbstverständlich immer auch, gefährdet zu sein, sich bestimmte Sichtweisen und Perspektiven eines konkreten Akteurs, nämlich des jeweiligen Begleiters, zu eigen zu machen und damit gewissermaßen analog zu Embedded Journalism Embedded Research zu betreiben", so Schmidinger, der aber gleichzeitig betont, dass er versucht habe, diese Gefahr zu minimieren.

Die komplexe, vielschichtige aktuelle Situation in Rojava ist ohne historische Hintergrundinformationen kaum zu fassen. Schmidinger leistet mit seinem Buch einen wichtigen Beitrag, vorhandene Lücken zu schließen. Er hat es geschafft, den LeserInnen eine Region und ihre Geschichte näherzubringen, ohne sich hierfür einer allzu akademischen Sprache zu bedienen. Verschiedene Karten, die an den Beginn einzelner Kapitel gestellt wurden, erleichtern die Orientierung, wenn es um die Sprachen, die Religionen der jeweiligen Mehrheitsbevölkerung und die ethnische Vielfalt in Rojava geht. Da Schmidinger großteils die kurdischen Bezeichnungen für Städte und Regionen verwendet, die sich teils eklatant von den eher geläufigen deutschen Bezeichnungen unterscheiden, sind die beigefügten Karten für das Verständnis nützlich.

In seinem Buch widmet sich der Autor auch der Geschichte der KurdInnen und ihrer Staatenlosigkeit. In dem Kapitel "Kurdistan: Land ohne Staat oder Land gegen den Staat" erläutert er, wie es zum heutigen Gebiet Kurdistan gekommen ist und schreibt: "Für die überwiegende Mehrheit kurdischer Intellektueller ist die Nichterrichtung eines kurdischen Staates nach dem Ersten Weltkrieg bis heute das Grundproblem der Kurdischen Frage". Nach wie vor sind die verschiedenen kurdischen AkteurInnen und Parteien in ihren Forderungen nach Autonomie allerdings uneins.

Im Speziellen beschreibt Schmidinger natürlich die Entwicklungen der letzten Jahrzehnte in Syrisch-Kurdistan und geht hierbei unter anderem auf den Konflikt zwischen links und rechts ein. Er beschreibt, welche repressiven Auswirkungen die 1958 mit Ägypten eingegangene Union (ein de-facto-Anschluss Syriens an Ägypten unter Nasser) für syrische KurdInnen hatte: "Von 1958 bis 1960 baute er (Abd al-Hamid as-Sarraj, Anm.) als Innenminister Syrien in einen Polizeistaat um, der mit dazu betrug, das positive Image von Nasser in Syrien nachhaltig zu zerstören. In seiner Amtszeit als Innenminister richtete sich die Repression zunächst vor allem gegen die Kommunistische Partei und die Syrische Sozial-Nationalistische Partei, die sich für einen großsyrischen, statt eines großarabischen Staates stark machte". Weiters erläutert er, wie KurdInnen nach wie vor Menschen zweiter Klasse in Syrien sind und um ihre Rechte betrogen wurden und werden.

Das Buch beinhaltet neben Landkarten auch eine vom Autor selbst angefertigte schematische Darstellung der Entwicklung aller kurdischer Parteien. Auf den ersten Blick scheint die dargestellte Information unübersichtlich. Bei näherer Betrachtung liefert sie allerdings interessante Einblicke entlang einer zeitlichen Achse, die es den LeserInnen erlaubt, die Verbindungen und Brüche zwischen den kurdischen Parteien besser zu verstehen. Eingebettet in gesamtpolitische, revolutionäre, internationale und innerkurdische Konflikte kam es in den letzten Jahrzehnten zu massiven Verschiebungen, sowie Neu- und Umgründungen in der kurdischen Parteienlandschaft, deren Kenntnis wesentlich für die Einschätzung des aktuellen Konflikts ist.

Schmidinger stellt zudem in dem Kapitel "Von der Revolution in den Bürgerkrieg" hinreichend dar, dass die Proteste, die im Zuge des Arabischen Frühlings 2011 auch Syrien erfassten, keineswegs nur Auswirkungen auf die arabischen Teile des Landes hatten. Er beschreibt, wie sich Demonstrationen und Proteste in den kurdischen Gebieten gestalteten und ausbreiteten, und mit welchen Repressionen die AktivistInnen konfrontiert wurden. "Normalerweise fanden alle diese Demonstrationen nach dem Freitagsgebet statt. Dies bedeutet nicht, dass die Demonstrationen irgendeinen religiösen Charakter hatten oder nur von Muslimen besucht wurden. (...) Das Freitagsgebet ermöglichte allerdings, wie in ganz Syrien, dass eine bereits große versammelte Menge gemeinsam losmarschieren konnte und die syrischen Sicherheitskräfte solche Demonstrationen schwerer unterbinden konnten, als Demonstrationen, die erst die TeilnehmerInnen sammeln mussten".

Inhaltlich hat es Thomas Schmidinger mit seinem aktuellen Buch geschafft, eine komplexe Thematik und Geschichte für das Verständnis eines aktuellen Konflikts leserInnenfreundlich aufzubereiten. Als Leserin sehe ich daher an dieser Stelle über die leider inkonsequente geschlechterneutrale Schreibweise hinweg und kann die Lektüre von Krieg und Revolution in Syrisch-Kurdistan. Analysen und Stimmen aus Rojava jeder und jedem empfehlen, die/der sich dem tagesaktuellen Geschehen in den kurdischen Provinzen und Autonomiegebieten Syriens aus einer alternativen, historischen und vor allem authentischen Perspektive nähern will.

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IMPRESSUM

Erscheinungsdatum dieser Ausgabe: 6.12.2014

Alle Überweisungen bitte an: Verein für sozialwissenschaftliche Forschung, 1170 Wien
IBAN: AT02 1400 0010 1004 4347, BIC: BAWAATWW.

Medieninhaberin: Verein für sozialwissenschaftliche Forschung, 1180 Wien
Herausgeberin: Redaktion "grundrisse"

An dieser Ausgabe haben mitgearbeitet: Martin Birkner, Bernhard Dorfer, Jannik Eder, Robert Foltin, Maria Gössler, Stefan Junker, Franz Naetar, Karl Reitter, Walter S.

Layout: Karl Reitter

Erscheinungsort: Wien. Herstellerin: Digidruck, 1100 Wien

Offenlegung: Die Partei "grundrisse" ist zu 100% Eigentümerin der Zeitschrift "grundrisse"

Grundlegende Richtung: Förderung gesellschaftskritischer Diskussionen und Debatten.

Copyleft: Der Inhalt der "grundrisse" steht unter der GNU-Lizenz für freie Dokumentation, außer wenn anders angegeben.

ISSN: 1814-3156, Keytitle: grundrisse (Wien, Print)

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Quelle:
grundrisse - zeitschrift für linke theorie & debatte
nr. 52, winter 2014
Herausgeberin: Redaktion "grundrisse"
Antonigasse 100/8, 1180 Wien
E-Mail: grundrisse@gmx.net
Internet: www.grundrisse.net


veröffentlicht im Schattenblick zum 15. Januar 2015


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