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GRUNDRISSE/024: zeitschrift für linke theorie & debatte, winter 2009


grundrisse - zeitschrift für linke theorie & debatte
nr. 32, winter 2009


INHALT

Editorial

Amerlinghaus bleibt!

Fuzi:
Bewegung der Studierenden in Österreich

Martin Birkner:
Do you remember Wissensfabrik?,
oder: Warum auch 2009 die Universität zerschlagen werden muss

Die Uni brennt?

Kommuniqué aus einer ausbleibenden Zukunft.
Über die Ausweglosigkeit des studentischen Lebens.

Das unsichtbare Komitee:
Der kommende Aufstand

Judith Revel:
Vom Leben in prekären Milieus

Peter Haumer:
"Wir haben uns selber angeführt!"
Über 1523 TextilarbeiterInnen in Novi Pazar, Serbien

Bahman Shafigh:
Die Staatskrise in Iran

Francois Naetar:
Freiheit für die Abahlali 13 - Raus mit dem ANC aus der Kennedy Road!

S'bu Zikode:
Die "dritte Kraft"

S'bu Zikode:
Land und Unterkunft

Elisabeth Steger:
Buchbesprechung: Eva Egermann, Anna Pritz (Hg.): school works -
Beiträge zu vermittelnder, künstlerischer und forschender Praxis

Raute

Editorial

Liebe Leserinnen und Leser,

ein Gespenst geht um - nicht nur in Europa, das Gespenst der besetzten Universität. Die gegenwärtige transnationale Protestbewegung an den Universitäten hat - nach einer langen Sommerpause - diesmal erstaunlicherweise von Wien ihren Ausgang genommen. Das freut uns. Ob und wie weit es durch die globale Dynamik möglich sein wird, dass der doch überraschend massive, breite und vielfältige Widerstand an den Unis auch auf andere gesellschaftliche Sphären ausstrahlt bzw. wie sich eine Verbindung und Überlappung zwischen den jeweiligen Kämpfe herstellen lässt, ist noch offen. Tatsache ist jedenfalls, dass es wohl nicht zufällig in Zeiten der schwersten Krise des Kapitalismus seit langer Zeit passiert und dass die Zyklen der Proteste schneller und intensiver werden - denken wir nur an die Revolten in den Banlieues, die Bewegungen gegen CPE in Frankreich, die Aufstände in Griechenland, die onda anormala in Italien oder die Widerstände gegen die Auswirkungen der Krise in der Türkei, in Island sowie die massiven Protestbewegungen im globalen Süden und nicht zuletzt an die Kämpfe der Sans-Papiers. Tatsache ist auch, dass die offizielle Politik weniger Antworten denn je hat - diese Tendenz zeigt sich in vielen Texten dieser Ausgabe. Die Bandbreite der in dieser Ausgabe vorgestellten theoretischen Positionen ist ebenso vielfältig wie die Protestformen selbst und reicht von neo-situationistischen Ansätzen, über (historische) Hintergrundberichte bis hin zu genealogischen Machtanalysen und Thesenpapieren.

Der komplexen Verknüpfung (oder doch Dialektik?) von kapitalistischer Krise, universitären Protestbewegungen und globalen Revolten im Detail nachzugehen, diese Aufgabe können wir wohl nicht leisten. Die vorliegende Schwerpunktnummer soll aber zumindest Schlaglichter auf die globale Dimension der Widerstandsbewegungen gegen die Zumutungen des globalen Krisenkapitalismus werfen. Der erste Teil beinhaltet daher Texte, Statements und Reflexionen zu den aktuellen Protesten an den Universitäten - nicht nur in Österreich; im zweiten werden Analysen und Hintergrundberichte zu lokalen Kämpfen, abseits der Universität, in verschiedenen Ländern (Frankreich, Serbien, Iran) vorgestellt und im dritten Teil folgt schließlich eine Auseinandersetzung mit der Bewegung der BarackenbewohnerInnen in Südafrika. Wenn wir damit einen bescheidenen Beitrag zur Kommunikation und Verfugung der verschiedenen Kämpfe leisten können, sind wir schon zufrieden. Eine Buchrezension beschließt diese Nummer, Karl Reitters Auseinandersetzung mit der Marx-Kritik von Marcel van der Linden den Herausgeber des soeben erschienenen Sammelbandes "Über Marx hinaus" musste leider aus Platzgründen auf die nächste Ausgabe verschoben werden.

Abschließend freuen wir uns, euch zu zwei Veranstaltungen einladen zu dürfen - Details findet Ihr im Kasten nebenan. Ja, und wer noch mehr zur Unibewegung in Österreich und international lesen mag, sei auf die soeben erschienene umfangreiche Textsammlung Jenseits von Humboldt - Von der Kritik der Universität zur globalen Solidarischen Ökonomie des Wissens verwiesen, die die Plattform MASSENUNI, an der auch die grundrisse beteiligt sind, soeben herausgegeben hat. Mehr unter massenuni.blogsport.de, Bestellungen an redaktion@grundrisse.net.

Noch mehr Texte zu Wissensproduktion im Kapitalismus und Alternativen dazu gibt's übrigens auf unirot.blogsport.de, der Seite des von den grundrissen initiierten Workshops.

Abschließend möchten wir uns bei Birgit Mennel bedanken, ohne deren Nachtschichten dieses Schwerpunktheft wohl nicht zustande gekommen wäre! Unser Dank gilt außerdem den nicht namentlich in Erscheinung tretenden ÜbersetzerInnen, die unter enormem Zeitdruck Unglaubliches möglich gemacht haben.

Raute

AMERLINGHAUS BLEIBT!

Seit 31 Jahren ist das als "das Amerlinghaus" bekannte Kulturzentrum Spittelberg hartnäckig ein linker Freiraum, Treffpunkt, Veranstaltungsort für viele verschiedene politische Gruppen, soziale Initiativen und für basis- und gegenkulturelle Projekte. Nun ist das Kulturzentrum gefährdet. Die Struktur wird seit langer Zeit sukzessive finanziell ausgehungert, nun ist das Limit erreicht!


1975: Während eines Vier-Tage-Festes im Amerlinghaus machten rund 3.000 BesucherInnen diese Veranstaltung zu einem Erfolg und unterzeichneten ein Manifest, das die Forderungen nach dem selbstverwalteten "Kultur- und Kommunikationszentrum Amerlinghaus" enthielt. Das Manifest wurde den anwesenden GemeindevertreterInnen überreicht - gleichzeitig erfolgte die Ankündigung, dass dieses Haus ab sofort für einen "Modell-Betrieb" auf unbestimmte Zeit besetzt sei. Die Gemeindeverwaltung tolerierte diese weiche "Besetzung". Das zu diesem Zeitpunkt baufällige Haus wurde generalsaniert, am 1. April 1978 eröffnet und dem Verein Kulturzentrum Spittelberg übergeben.

Das Amerlinghaus war ursprünglich als autonomes Stadtteilzentrum im damals proletarischen und migrantischen Spittelberg konzipiert. Die Gemeindesubventionierung und das später so bezeichnete Konzept der "MitarbeiterInnen-Selbstverwaltung" bildeten für Teile der aktiven und kämpferischen sozialen Bewegungen der Zeit Kritikpunkte am Haus. Vieles hat sich seitdem verändert. Das Viertel um den Spittelberg ist ein Musterbeispiel für Gentrifizierung. Das Kulturzentrum Spittelberg ist aber durch viele gesellschaftliche Veränderungen hindurch ein linkes Zentrum und ein wichtiger Treffpunkt für über 50 Gruppen, eine Vielzahl von Initiativen und Einzelpersonen geblieben. Von früh bis spät ist das Haus aktiv:

Deutschkurse für MigrantInnen, Kinderbetreuung, interkulturelle Projekte in den Bereichen Literatur, Musik, Malerei, Tanz und Crossover, Romakulturveranstaltungen, Improvisations- und Mitspieltheater, linke Gruppen, die sich mit politischer Theorie & Praxis beschäftigen, selbstorganisierte SeniorInnen-Treffen, Selbsthilfegruppen und Selbstermächtigungsprojekte in verschiedensten Themenbereichen wie Essstörungen, sexuelle Orientierung, Prekarisierung, Marginalisierung, Migration,... Marxismuskongresse, Literaturveranstaltungen, kritische Filmabende, juristische Beratung von und für Erwerbsarbeitslose und vieles mehr findet im Kulturzentrum Raum. Und wir wollen, dass das so bleibt!


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:
1975: "Junge Spittelbergbewohner marschierten ins Rathaus, um ihr Amerling-Haus zu retten"


*


Seit Jahren werden die allerletzten Sozial- und Freiräume durchkapitalisiert. Ursprünglich als autonom konzipierte Initiativen werden vereinnahmt und zentralisiert, Subventionen für alternative gesellschaftliche und kulturpolitische Projekte gekürzt und gestrichen, kleineren Initativen das Wasser abgegraben.

Das Kulturzentrum Spittelberg / Amerlinghaus ist noch einer der wenigen Räume, in denen linke Gruppen, Initiativen und Einzelpersonen, die kaum oder gar keine Kohle haben, ohne kapitalistische Kontrollmechanismen, ohne Konsum- und Leistungszwang selbstbestimmt ihre Arbeit tun können. Das besondere am Amerlinghaus ist auch, dass hier eine Vielfalt an Menschen und Gruppen mit heterogenen Strategien und Interessen zusammenkommen können.

Für viele dieser Initiativen wäre der Wegfall des Amerlinghauses als nicht-kommerzieller Ort existenzgefährdend.

Das Amerlinghaus erhält eine jährliche Subvention, die seit vielen Jahren nicht valorisiert, das heißt, der Inflationsrate angepasst wurde, während die Fixkosten für Miete, Infrastruktur, Energie und die Gehälter selbstverständlich laufend steigen.

Jahrelang wurde sowieso schon an allen Ecken und Enden eingespart, um mit dem real immer weniger werdenden Geld auszukommen. Notwendige Renovierungsarbeiten können seit Jahren nicht durchgeführt werden, die technische Infrastruktur fällt auseinander.

Ohne Valorisierung ist das Haus im Sommer 2010 pleite und muss den Betrieb in der jetzigen Form einstellen.

Und nein, wir wollen nicht, dass das Haus zu einem weiteren hippen Seminarzentrum wird, in das nur wirtschaftlich rentable Gruppen Zugang haben, wir fordern eine politische Lösung! Daher hat der Vorstand des Vereins Kulturzentrum Spittelberg im Oktober 2009 ein Budget für das Jahr 2010 eingebracht, das den laufenden Betrieb decken würde und über der zugesagten Subvention liegt.

Das Amerlinghaus ist nicht das einzige Projekt, das finanziell ausgehungert oder weggespart wird. Noch verfügen wir über ein Haus, während andere Projekte immer wieder auf die Strasse gesetzt oder ausquartiert werden.

Schluss damit!

Wir, als Plenum des Amerlinghauses, meinen, dass das Amerlinghaus als linkes Zentrum nur mit vereinten Kräften erhalten werden kann.

Tun wir uns zusammen, handeln wir solidarisch, lasst uns unbequem sein!
Mehr Freiräume müssen her, mehr unabhängige und selbstorganisierte Projekte, mehr autonome Hausprojekte, mehr Wagenplätze!
Für mehr und nicht weniger soziale, kulturelle, kommunikative Zentren!

Verein Kulturzentrum Spittelberg | Amerlinghaus www.amerlinghaus.at Stiftgasse 8 1070 Wien

Raute

Bewegungen der Studierenden in Österreich

zusammengestellt von Fuzi

Wegen der ungenügenden Kapazität der Universitätsräumlichkeiten ereignen sich schon zu Beginn der 1960er Proteste (bis hin zu Krawallen). Sind diese noch von den rechten Organisationen getragen, so ändert sich das Bild in der zweiten Hälfte der 1960er. Neben der allgemein gesellschaftspolitischen und internationalistischen Politik dominiert eine von linken Minderheiten getragene Kritik an den konservativen Uni-Strukturen. Noch in den 1970ern und den 1980ern bleibt die Hochschüler_innenschaft in der Hand von ÖVP-nahen Rechten. Linke Gruppen sind aktiv, kleinere Proteste finden auf Institutsebene statt, es gibt keine großen Bewegungen der Studierenden wie dann 1987, 1996, 2000 und 2009.

Vorgeschichte zu 1987
Schon seit Jänner 1987 wird immer wieder ein Sparpaket angekündigt. Unmut äußern die Lehrer_innen, Sozialkonferenzen im September 1987 beschließen eine Großdemonstration für den 24.10.1987. Wegen der Kürzung der Kinderbeihilfe, an die andere Leistungen der Studierenden geknüpft sind, kündigen linke Gruppen Aktionstage im Oktober an, die Aktionsgemeinschaft (AG, ÖVP-nahe) eine Demonstration im November.

Herbst 1987
Am 19.10. beschließt die GRUWI-GEWI-Hörer_innenversammlung in Wien einen Streik, das Audimax wird von Studierenden der Publizistik besetzt. Am nächsten Tag schließen sich viele Universitäten dem Streik an. Aus zuerst hunderten Aktivist_innen werden tausende, die durch die Hörsäle ziehen und spontane Demonstrationen in Wien und in vielen anderen Schul- und Universitätsstädten durchführen.

Am Freitag, den 23.10., streiken und demonstrieren viele Schüler_innen. Die Sozialabbaudemo am Samstag, den 24.10., wird mit 40.000 Teilnehmer_innen ein großer Erfolg. In der zweiten Woche unterstützt die Dienststellenversammlung der Hochschullehrenden die Studierenden. Die AG arbeitet daran, den Streik abzubrechen, auch linke Gruppen wie VSSTÖ und KSV suchen den Kompromiss, scheitern aber vorerst am Plenum im Audimax, das bis Mitte November besetzt bleibt. Immer wieder werden kleiner werdende Demonstrationen durchgeführt, nach den Weihnachtsferien ist die Bewegung vorbei.

Vorgeschichte zu 1996
Kleinere Aktionen finden im Herbst 1989 und 1992 statt, getragen von einzelnen Instituten und linken Gruppen, der Erfolg bleibt begrenzt. Im Jänner 1992 wird das Audimax besetzt, eine linke "Plattform gegen Studienverschärfungen" gegründet, eine brave AG-dominierte ÖH-Demo kann im März 1992 Zehntausend mobilisieren.

Nach der Ankündigung eines neuerlichen Sparpakets im September 1995 flammt eine Schüler_innenbewegung auf, an vielen Mittelschulen wird gestreikt, an einer Demonstration am 22.9. beteiligen sich Tausende. Widerstand an den Universitäten wird vorbereitet, als am 11.10.1995 die große Koalition aus SPÖ und ÖVP zerbricht. Aktionsankündigungen werden zurückgestellt, trotzdem wird gegen den ausdrücklichen Willen der AG am 17.10.1995 eine gut besuchte (10.000) und kämpferische Großdemonstration der Studierenden durchgeführt.

Frühjahr 1996
Die Neuwahlen bringen neuerlich eine große Koalition mit einer stärkeren SPÖ, die die Wahlen mit ihrer Gegner_innenschaft zu Sparmaßnahmen gewonnen hat. Die Ankündigung des Sparpakets löst die bisher breiteste Bewegung aus. Schon während der Ferien im Februar beginnen linke Gruppen und die erstmals linksliberale ÖH mit kleinen Aktionen. Zu Beginn des Semesters im März breitet sich der Streik von der Wirtschaftsuni ausgehend relativ schnell aus. Charakteristisch ist, dass der Streik auch an Universitäten und Instituten durchgeführt wird, die nicht als linke Bastionen gelten. Insgesamt ist die Bewegung dezentraler als 1987, das Audimax ist zwar besetzt, spielt aber nicht mehr die zentrale Rolle, sondern ist eher eine Bühne für Streitereien unter den linken Gruppen.

Der Höhepunkt ist eine große Demonstration am 14. März mit 40.000 Teilnehmer_innen. Der nächste Tag (15. März) soll noch breiter gegen das Sparpaket mobilisieren, an der Demo beteiligen sich aber weniger Menschen als am Vortag. Um das Abbröckeln der Bewegung zu verhindern, werden jeden Freitag Demos durchgeführt, an denen sich anfangs noch zehntausend Studierende beteiligen (ein Vorbild für die Donnerstagsdemos im Jahr 2000). Eine weitere Aktionsform, die dann von der Bewegung gegen die ÖVP-FPÖ-Regierung aufgenommen wird, ist die Durchführung spontaner und nicht angemeldeter Demozüge kreuz und quer durch Wien.

2000 und danach
An der Bewegung gegen die ÖVP-FPÖ-Regierung ab Februar 2000 beteiligen sich viele Studierende.

Am 19. September 2000 wird die Einführung der Studiengebühren bekannt und löst eine Spontandemo über den Ring aus. Immer wieder werden Aktionen, kleinere Demonstrationen von einigen Hunderten bis hin zu einigen Tausenden durchgeführt, auf den seit Februar regelmäßigen Donnerstagdemos werden die Studiengebühren thematisiert.

Am 11. Oktober beteiligen sich Zehntausende an einer Demonstration gegen die Bildungspolitik der Regierung. Anschließend wird wieder einmal das Audimax besetzt. Auch in allen anderen Universitätsstädten in Österreich finden Demonstrationen statt. In den folgenden Monaten werden weiter kleinere Aktionen durchgeführt, ein regelmäßiger Uni-Aktions-Dienstag kann sich nicht durchsetzen. Aktionen gibt es bis ins Frühjahr 2001, etwa zur Unterstützung streikender Uni-Lehrender im März.

2004 wird gegen das neue Universitätsgesetz protestiert, das die Mitsprache der Studierenden einschränkt, im Jänner wird das Rektorat besetzt und Rektor Winkler getortet. Kleinere Aktionen werden bis ins Frühjahr hinein fortgesetzt. Eine (nicht nur) studentische Gruppierung besetzt im Juni 2004 die leer stehenden Räume der Buchhandlung Facultas auf dem Gelände des Uni-Campus im Alten AKH, um ein Soziales Zentrum für Studierende zu schaffen. Sie werden sehr schnell vertrieben.

Besetzungen
In den letzten Jahren entwickelt sich in Österreich eine Kultur der Besetzungen. Dabei verbinden sich Aktivitäten gegen die Bedrohung Sozialer Zentren wie des Ernst-Kirchweger-Hauses, das seit 1990 besteht, und des Studierendentreffpunkts TÜWI bei der Universität für Bodenkultur mit aktivistischen Gruppen, die neue Projekte verwirklichen wollen. Die Initiative Pankahyttn besetzt über zwei Jahre in unregelmäßigen Abständen Häuser und bekommt im Herbst 2007 von der Gemeinde Wien ein Haus im 15. Bezirk zur Verfügung gestellt. Aus der Facultas-Besetzung entsteht die Gruppe "Freiraum", die immer wieder Häuser zur Errichtung Sozialer Zentren besetzt, darunter dreimal ein Wirtschaftsgebäude beim Narrenturm im Alten AKH. Auch andere Initiativen eignen sich immer wieder Häuser an, die meisten in Wien und in Graz. Diese werden zwar immer geräumt (eine "queer-feministische Hausbesetzung" im April 2008 sogar unterstützt durch einen Hubschraubereinsatz), was aber einiges Aufsehen erregt und breite Diskussionen auslöst. Zuletzt wird Anfang Oktober 2009 ein Gebäude in der Triesterstraße für eine Woche als Soziales Zentrum genutzt. Die Studierendenbewegung 2009 unterscheidet sich von früheren Uni-Aktivitäten auch dadurch, dass sie eine Besetzungsbewegung ist.

Studierende
Der Bildungs- und Ausbildungsbereich innerhalb und außerhalb der Unis wird schon seit einiger Zeit von Unruhe ergriffen. 2007, nach der Bildung einer großen Koalition von SPÖ und ÖVP unter Kanzler Alfred Gusenbauer, empören sich Teile der SPÖ, weil die von der schwarz-blauen Regierung eingeführten Studiengebühren nicht abgeschafft werden. Mit der Regierungsbildung 2008 unter Kanzler Werner Faymann wird ein Kompromiss gefunden, der die Studiengebühren für einen Teil der Studierenden aufhebt. Die Studienbedingungen verschärfen sich aber weiter durch Verschulung, Änderungen der Studienpläne und überfüllte Hörsäle.

Die Österreichische Hochschüler_innenschaft ist in den letzten Jahren zwar links dominiert (grün und sozialdemokratisch), scheint sich aber in den von den vorherigen konservativen Vertretungen hinterlassenen korrupten Strukturen festgefahren zu haben. Durch das Universitätsgesetz 2002 werden außerdem ihre geringen (schein) demokratischen Möglichkeiten noch einmal eingeschränkt.

Ausgehend von der Besetzungsbewegung und neben den bestehenden ÖH-Strukturen, gründen sich Aktivist_innen-Gruppen, die Workshops und Arbeitskreise durchführen wollen, die nicht unbedingt in den Uni-Betrieb passen, etwa "keineUni". In den letzten Jahren vermehrt sich diese Art von Initiativen, die auch Aktionen, etwa gegen das neue Universitätsgesetz vorbereiten: das "Widerstandscafé", "edu-meltdown", IRDEI (Initiative for the Re-Democratisation of Educational Institutions), das "Netzwerk Emanzipatorische Bildung".

Aktivist_innen organisieren im Juni 2009 eine Spontandemonstration gegen die UG-Novelle vor dem Haus der EU und im Juli 2009 wird eine Kundgebung einiger hundert Studierender von der Polizei eingekesselt, weil diese drohen, die Bannmeile um das Parlament zu durchbrechen.

Unruhe im Bildungsbereich
Als die Unterrichtsministerin Claudia Schmied im März 2009 die Lehrverpflichtungen für die Lehrer_innen erhöhen will, zeigen sich 95 Prozent der Lehrer_innen streikbereit, die Gewerkschaft droht mit Kampfmaßnahmen. Der ganze April 2009 wird durch die Diskussionen über die Forderungen der Lehrer_innen bestimmt. Nachdem Schmied nachgibt, aber die schulfreien Tage für Schüler_innen einschränken will, streiken und demonstrieren am 24. April mehrere zehntausend Schüler_innen in Wien und in den anderen Bundesländern.

Aktiv wird auch das "Kollektiv Kindergartenaufstand". Diese sich außerhalb der Parteien und Gewerkschaften gegründete Gruppe von Kindergartenpädagog_innen und Betreuer_innen organisiert im Frühjahr 2009 Aktionen mit einigen hundert Beteiligten. Am 17.10.2009 demonstrieren dann 3000 Menschen für bessere Bedingungen in den Kindergärten (und noch einmal am 21.11.). "Kindergartenaufstand" ist auch eine der ersten Gruppierungen, die sich aktiv mit den Besetzungen der Studierenden solidarisiert.

International
Auch wenn es jetzt umgekehrt erscheint. Die aktuellen Kämpfe der Studierenden sind auch in Zusammenhang mit internationalen Protesten zu sehen, die schon seit längerem andauern. Bildungsproteste überziehen im Herbst 2008 Frankreich und Spanien, und in Italien zwingt zur gleichen Zeit "onda" (die Welle), eine Bewegung von Studierenden und Schüler_innen, die Bildungsministerin zur Rücknahme von "Reformen", die eine stärkere Kapitalisierung der Bildung bedeutet hätten. In Griechenland gehen Bildungsproteste im Dezember 2008 direkt in die Unruhen nach der Erschießung eines Jugendlichen durch die Polizei über. Im Frühjahr 2009 werden von der Uni Zagreb ausgehend zwanzig kroatische Universitäten besetzt. Und in Deutschland finden im Sommersemester 2009 in vielen Städten Aktionen von Studierenden mit hunderttausenden Beteiligten statt. Die Besetzungsbewegung in Wien knüpft von Anfang an Kontakte nach Deutschland und in die USA, auch Aktivist_innen aus Kroatien werden eingeladen.

Von der Akademie ins Audimax
Am Dienstag, den 20.10.2009, wird nach einer Pressekonferenz zu Mittag die Aula der Akademie der Bildenden Künste besetzt. Die Akademie soll als eine der letzten Universitäten in Österreich das Bachelor-System einführen, gegen das sich Studierende und Lehrende wehren. Am Abend wird eine Party gefeiert und ein Programm für die nächsten Tage vorgestellt.

Für Donnerstag, den 22.10.2009, kündigen die Besetzer_innen der Akademie mit anderen unabhängigen Gruppen eine Demonstration im Sigmund-Freud-Park in der Nähe der Uni an. Die Polizei vertreibt die Demonstrant_innen, die daraufhin in das Alte Universitätsgebäude ziehen. Mit Unterstützung der dort gerade anwesenden Biologie-Studierenden wird das Audimax, der größte Hörsaal der Universität Wien, besetzt. Nachdem sich die Nachricht von der Besetzung verbreitet und Tausende ins Audimax strömen, schafft es der private Sicherheitsdienst nicht, die Studierenden aufzuhalten. Es wird die Polizei gerufen, die das Audimax (unzulänglich) abriegelt. Um eine Eskalation zu vermeiden, zieht die Polizei am späten Nachmittag ab. Am gleichen Tag beginnt die Selbstorganisation, in der Nacht legen DJs auf und am nächsten Tag springt der Funke auf Graz über, dort werden Hörsäle in der Vorklinik besetzt.

Am Freitag, den 23.10., gibt es einige kleinere Demonstrationszüge, die Zeitungen berichten über die Besetzungen, Wissenschaftsministerminister Johannes Hahn macht sich über die "Sponti-Aktion" lustig. Die Medien haben Probleme mit der basisdemokratischen Selbstorganisation, die keine Pressesprecher_innen zulässt, und außerdem den Forderungskatalog einer andauernden Diskussion unterzieht. Erst im Lauf der nächsten Woche verstehen auch die Journalist_innen, dass die Ansprechpersonen rotieren und nur jeweils für sich selbst sprechen oder über die Beschlüsse in den besetzten Räumlichkeiten. Es wird beschlossen, das Audimax (und die Aula der Akademie) über das lange Wochenende (Montag, der 26.10., ist österreichischer Staatsfeiertag) besetzt zu halten. Hunderte beteiligen sich, Musikveranstaltungen finden statt und Prominente treten auf. Nicht nur das Audimax wird besetzt, sondern auch umliegende Räume und Hörsäle, um eine funktionierende Infrastruktur aufzubauen. Diese auf längeres Besetzen ausgerichteten Strukturen mit Volksküche, Schlaf-, Ruhe- und Veranstaltungsräumen unterscheiden diese Besetzung von früheren Besetzungen des Audimax.

Die Schaffung solcher Strukturen findet Nachahmung in weiteren Besetzungen von Hörsälen an Universitäten in Wien und in den anderen Universitätsstädten. Besetzung als Raum für das ganze Leben, auch eingebettet in den weiter laufenden Unibetrieb, ist charakteristisch für 2009, auch wenn sich nur ein kleiner Teil der Aktivist_innen mit der aus den USA kommenden Parole anfreunden kann: "Fordert nichts, besetzt alles."

Schon von Beginn an wird Sexismus und Antisexismus thematisiert. Bei den Partys kommt es zu sexuellen Übergriffen und außerdem wird kritisiert, dass ein großer Teil der auftretenden Prominenz männlich ist. Auch das Redeverhalten von Männern wird angegriffen. In der Öffentlichkeit treten fast nur Frauen auf. Im Prinzip setzt sich in den Plena ein antisexistischer Konsens durch, was aber bedeutet, dass jeden Tag neu mit sexistischen Arschlöchern diskutiert werden muss, die ihre männlichen Privilegien bedroht sehen. Um einen Schutz vor sexuellen Übergriffen in der Nacht zu gewährleisten, wird ein Hörsaal als frauen_lesben_inter_trans Raum ("flit flat") besetzt.

Fordert nichts, besetzt alles
Nach dem langen Wochenende breitet sich am 27.10.2009 die Besetzungsbewegung weiter aus, in Linz wird der Hörsaal 1 besetzt, in Graz ein weiterer Hörsaal, der HS II der alten Technik der Technischen Universität. Auch in Wien werden weitere Räumlichkeiten angeeignet, das Freihaus der TU und das BOKUMAX, das Haus der Studierenden bei der Universität für Bodenkultur. Der zweitgrößte Hörsaal der Uni Wien, der C1 am Campus im Alten AKH, wird besetzt, aber nach einem Auftritt der Vizerektorin wieder geräumt.

Am 28.10.2009 demonstrieren Zehntausende in der Wiener Innenstadt, einige Hundert in Salzburg, am nächsten Tag einige Tausend in Graz.

Nach der Demo wird der C1 wiederbesetzt, in Salzburg ein Hörsaal an der Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät und ebenso die Aula der Fakultät für Sozial- und Wirtschaftswissenschaften in Innsbruck (am 29.10.).

Am 7.11.2009 wird der HS 1 in Linz zwar freiwillig geräumt, allerdings am 10.11.2009 ein anderer Hörsaal (HS 3) besetzt. An den meisten anderen Unis (so etwa in Klagenfurt oder am Juridicum in Wien) entstehen Aktionsgruppen.

Der als EU-Kommissar nominierte Wissenschaftsminister Hahn trifft sich am 29.10. zu einem ergebnislosen Gespräch mit Vertreter_innen der ÖH, die aber erkannt haben, dass sie kein Verhandlungsmandat haben. Die Besetzungsbewegung organisiert sich an den offiziellen Organisationen (der ÖH) vorbei. Am nächsten Tag will Hahn 34 Mio. Euro für die Universitäten aus einer Notfallreserve bereitstellen. Sowohl ÖH wie Besetzer_innen sprechen von einem Tropfen auf dem heißen Stein. Die ersten kleinen Erfolge (die Öffentlichkeit wird von der Bildungsdiskussion dominiert und Bildungsminister Johannes Hahn gibt ein bisschen Geld her) sind möglich, gerade weil es keine Verhandlungen um "realistische" Kompromisse gibt.

Internationale Resonanz
Demonstrationen in der ersten Novemberwoche mobilisieren mehrere Tausend am 1.11.2009 in Innsbruck, am 5.11.2009 über 10.000 in Wien (ungefähr halb so viele wie die Woche davor) und zwischen 1000 und 2000 in Graz und Linz.

Während die Bewegung auf hohem Niveau stagniert (der Uni-Alltag holt viele ein) und sich (noch) nicht auf andere Bereiche der Gesellschaft ausbreitet, passiert etwas Unerwartetes: Die Besetzungen in Wien und Österreich strahlen international aus. Anfang November beginnen Besetzungen von Unis in Deutschland, aber auch in Basel, Belgrad, Lublin etc.

Zum Bildungsaktionstag am 17.11. demonstrieren 300.000 in Deutschland, Frankreich, Italien und anderen europäischen Ländern, und bis 20.11. sind bereits an über 70 Universitäten (und Schulen) Räumlichkeiten besetzt. Inzwischen werden auch in Kalifornien Universitäten besetzt und meist brutal von der Polizei geräumt. Und auch in Kroatien beginnt eine neue Besetzungsbewegung.

Ganz egal, wie die Bewegung der Studierenden endet, es wurden Fragen aufgeworfen, die für die zukünftige Entwicklung im und gegen den Kapitalismus von Bedeutung sind: Die Aneignung von Freiräumen wird praktiziert, mit Selbstorganisation und Selbstverwaltung wird experimentiert, die patriarchale Geschlechterordnung wird angegriffen und nicht zuletzt hat die Bewegung einen internationalen Charakter. Und gesellschaftliche Wirksamkeit wurde auch 1968 erst mit Verzögerung erreicht!


Literatur (genauer über 1968, 1987 und 1996, aber auch über die Bewegung gegen die FPÖ-Regierungsbeteiligung 2000): Foltin, Robert (2004): Und wir bewegen uns doch. Soziale Bewegungen in Österreich. Wien, edition grundrisse.

Raute

Martin Birkner

Do you remember Wissensfabrik?

oder: Warum auch 2009 die Universität zerschlagen werden muss

12 Thesen und ein unausgewiesenes Zitat zur Universität in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung des postfordistischen Kapitalismus und deren Überwindung(*)

Im Folgenden soll thesenartig der Stellenwert der gesellschaftlichen Arbeitsteilung für die Aufrechterhaltung aber auch für die Überwindung kapitalistischer Verhältnisse nachgezeichnet werden. Im Zentrum dabei steht dabei einerseits "analytisch" die gegenwärtige postfordistische Transformation des Kapitalismus und andererseits "politisch" die Perspektive gesellschaftlicher Befreiung eingedenk dessen, dass es kein Außerhalb kapitalistischer Verhältnisse mehr gibt, zumal in den metropolitanen Regionen der Welt. Ein derartiger Blickwinkel hilft hoffentlich ein Stück weit dabei, die Unmöglichkeit fortschrittlicher bildungspolitischer Bewegungen und Forderungen ohne Berücksichtigung des gesellschaftlichen Kontextes sichtbar zu machen sowie die Suche nach kollektiven Formen eines emanzipativ orientierten Widerstandes gegen die Zumutungen der "Wissensgesellschaft" voranzutreiben.

1. Wir leben im Zeitalter der reellen Subsumption der gesamten Gesellschaft unter das Kapitalverhältnis. Nicht mehr nur die Arbeit, sondern das ganze Leben wird - zumindest tendenziell - den Reproduktionserfordernissen des Kapitals unter- bzw. eingeordnet. Es gibt kein Außerhalb des Kapitalismus mehr - es sei denn, wir stellen künftig eines her.

2. Dies gilt auch für die Widerstände und emanzipativen Bewegungen gegen den Kapitalismus. Angesichts der Tatsache, dass selbst jene Bewegungen, an die sich historisch am ehesten anknüpfen ließe, letztlich zumindest zur Weiterentwicklung, wenn nicht zur Verfeinerung und Dynamisierung kapitalistischer Herrschaftsverhältnisse beigetragen haben, kann es keinen archimedischen Punkt emanzipativer Kritik mehr geben. Der (National)Staat war dies ohnehin nie, aber auch die Parteiform oder das Sich-Berufen auf revolutionäre Subjekte "an sich" ist Schnee von gestern. Stattdessen gilt es, den kapitalistischen Betrieb der Universität am Funktionieren zu hindern und gleichzeitig und gleichwertig eigene Formen der Wissensproduktion, -distribution und -aneignung zu entwickeln, eben eine transnationale solidarische Ökonomie des kommunen Wissens.

3. Die materialistische Lehre von der Veränderung der Umstände und der Erziehung vergisst, dass die Umstände von den Menschen verändert und die Erzieherin bzw. der Erzieher selbst erzogen werden muss. Sie muss daher die Gesellschaft in zwei Teile - von denen der eine über ihr erhaben ist - sondieren. Das Zusammenfallen des Änderns der Umstände und der menschlichen Tätigkeit oder Selbstveränderung kann nur als revolutionäre Praxis gefasst und rationell verstanden werden. Da auch der postfordistische Kapitalismus zentral auf der Teilung der gesellschaftlichen Gesamtarbeit beruht, gilt es die Veränderungen dieser Arbeitsteilung zu erkennen. Diese Veränderungen aber sind selbst wieder von (vorangegangenen) Widerstandsbewegungen und sozialen Kämpfen abhängig (siehe These 2). Die Veränderung der klassischen kapitalistischen Arbeitsteilung zwischen "Kopf-" und "Handarbeit" wurde nicht zuletzt durch die 1968er-Bewegung und die zweite Frauenbewegung theoretisch und praktisch in Frage gestellt.

4. Das Bildungssystem und insbesondere die Universitäten waren und sind zentrale Institutionen dieser Arbeitsteilung. Ein Universitätsabschluss garantierte in hochfordistischen Zeiten mehr oder weniger die Teilnahme an der "kopfarbeitenden" Elite. Der Übergang zur Massenuniversität, begleitet von den massiven sozialen Kämpfen der 1960er und 70er Jahre, führte zu einer Veränderung der zuvor relativ klaren und stabilen Trennungslinie zwischen Intelligenz und Proletariat. Damit einhergehend wurde der akademische Titel als allgemeines Äquivalent universitärer Bildung entwertet. Um dieser Entwertung entgegenzutreten, griff und greift der kapitalistische Staat zu administrativen Maßnahmen wie Zugangsbeschränkungen, Studiengebühren, knock-out-Prüfungen etc. Aber nicht nur das:

5. Die Veränderungen im postfordistischen Universitätsbetrieb führten zu einer verfeinerten Abstufung der Bildungsabschlüsse. Die scheinbare Paradoxie: Wir haben es mit Prozessen von Verschulung und neuer Elitenbildung gleichzeitig zu tun! Die Einführung von Fachhochschulen, Privatuniversitäten oder unzähligen Post-Graduate-Studiengängen soll eine eng an die ökonomischen Bedürfnisse angeschmiegte feinunterteilte Ausbildungslandschaft produzieren, ebenso die andauernden Reformen, Reformen der Reformen etc. Dies lässt jedoch auch auf eine gewisse Hilflosigkeit der Herrschenden hinsichtlich der An- und Einpassung des postmodernen "Menschenmaterials" an die Bedürfnisse des Arbeitsmarktes erkennen. Etwas besser ist dagegen die ideologische Reform gelungen: Kaum jemand studiert wirklich noch länger als die Mindeststudiendauer, die jetzt auch Regelstudiendauer heißt und der Anrufung der Studierenden als künftige ArbeitskraftunternehmerInnen wir weitgehend Folge geleistet.

6. Wer Elite sein wird, ist durch die Universität gegangen, der Umkehrschluss aber gilt nicht: Ein Universitätsabschluss ist heute eher Garant einer prekären Ich-AG-Zukunft als ein Sprungbrett in die Elite. Auf diese Veränderungen muss die kritische Selbstreflexion der studierenden Subjekte reagieren. Wir werden prekarisiert und proletarisiert. Studentischer Widerstand sollte sich daher auch als Klassenkampf, verstanden als verallgemeinerungswürdiger Kampf gegen das Klassifiziert-Werden, begreifen.

7. Ohne die konstitutive Miteinbeziehung genderkritischer und antirassistischer Analysen kann der komplexen Realität der universitären Landschaft - zumal in kritischer Absicht - nicht adäquat Rechnung getragen werden. Die sexistischen und rassistischen Arbeitsteilungen und Ausschlussmechanismen begrenzen einerseits (institutionell) den Zugang zu den Wissensinstitutionen, andererseits depotenzieren die herrschaftskonformen Varianten des ehemals subalternen Wissens (Stichworte: Diversity Management oder Gender Mainstreaming) die Sprengkraft von Theorie und Praxis eben dieses Wissens.

8. Kritische Wissenschaft darf sich nicht ausschließlich auf Wissensinhalte beschränken sondern muss mit Wissenschaftskritik, d.h. der Infragestellung der Identität als StudentIn bzw. WissenschaftlerIn ebenso einhergehen wie mit der Suche nach neuen, antihierarchischen und partizipativen Formen der Wissensaneigung bzw. -vermittlung. Theoretische und praktische Ideologiekritik ist nicht obsolet, ebenso wenig eine Kritik der wissenschaftlichen Arbeitsteilung in Disziplinen als herrschaftlich verfasste universitäre Funktionsäquivalente der Abteilungen in Fabriken und Ämtern oder der militärischen Waffengattungen.

9. Eine Kritik des postfordistischen Kapitalismus darf die Kritik der Universität ebenso wenig ausklammern wie eine universitäre Protestbewegung das Eingebundensein der Bildungsinstitutionen in den kapitalistischen Reproduktionszyklus. Das humboldtsche Bildungsideal war nie in Einklang mit dem kommunistischen Streben nach Herrschaftslosigkeit zu bringen, sondern basierte auf den humanistischen Vorstellungen bürgerlicher Gesellschaft - also herrschaftlicher verfasster und von Eliten geleiteter sozialer Verhältnisse.

10. Im zunehmend wissensbasierten Kapitalismus wird das Wissen heute selbst zur vergesellschafteten Produktivkraft. Dies bedeutet sowohl die Unterwerfung der Wissensproduktion unter den Akkumulationsimperativ des globalen Kapitalismus, ist jedoch gleichzeitig auch eine Chance, da die assoziierten WissensproduzentInnen des Postfordismus nicht mehr auf eine außerhalb ihrer Assoziation existierende planende oder anleitende Instanz angewiesen sind. Tendenziell kehrt das gesellschaftliche Wissen zu den ProduzentInnen zurück - die starren Trennungen des Fordismus - allen voran jene zwischen Hand- und Kopfarbeit - wurden und werden aufgeweicht. Dazu hat gesellschaftliches Wissen eine Eigenschaft, die es von materiellen Waren unterscheidet: Es verschwindet nicht beim Konsum, im Gegenteil vermehrt es sich dadurch und wird angereichert. Diese bietet der Perspektive der Wiederaneignung gesellschaftlicher Produktion in solidarischer Absicht einen optimalen "kommunen" Nährboden: Wir brauchen zur Wissensproduktion weder Staat noch Kapital, vielleicht aber ganz rasch ein bedingungsloses Grundeinkommen.

11. Laut aktuellen Studien lebt rund die Hälfte der Studierenden in diesem Land an oder unter der Armutsgrenze, während Privatuniversitäten, Exzellenz-Cluster, Forschung im Dienste der neuen Kriege, industrienahe Lehrstühle und Drittmittelfinanzierung den Kapitalismus immer unvermittelter die ehemaligen Elfenbeintürme in deterritorialisierte Werkshallen der nunmehr gesellschaftlich gewordenen Fabrik verwandeln. Die Universität im Kapitalismus wird direkt zur kapitalistischen Universität: sie produziert als kapitalistisch strukturierte Bildungsinstitution mittels ECTS-Punkten und Noten als allgemeinen Äquivalent warenförmiges Wissen und damit die für den Kapitalismus wertvollste Ware: die Ware Arbeitskraft, einerseits vollständig unter das Kapitalverhältnis subsumiert und gleichzeitig, wie vorhin bereits angesprochen, potenziell autonom von seiner kapitalistischen Form. Da müssen wir durch.

12. Mögen die Räte der Massenintellektualität sich mit den multiplen Widerstandsbewegungen gegen die kapitalistischen Zumutungen vernetzen. Es gibt jedenfalls keine Chance mehr für ein Zurück zu halbstaatlichen Interessensvertretungen, fordistischen Mitsprachemodellen, es gibt keine vom gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang loszulösende "Bildungspolitik", die nicht Standes- und somit Standortpolitik wäre. Die Perspektive kann also nur lauten: "Bildung für alle und zwar umsonst!" als antikapitalistische Parole zur Geltung zu bringen, Räume besetzen, die Kosten in die Höhe treiben, die Zeit zurückerobern, solidarische Bildungsformen entwickeln, die Proteste ausdehnen und mit anderen verknüpfen, also letztlich, angelehnt an einen von Andre Gorz bereits 1970 unterbreiteten Vorschlag: die kapitalistische Universität am Funktionieren hindern. Es lebe die solidarische Ökonomie des globalen kommunen Wissens!


(*) Die Thesen entstanden im Rahmen zweier Workshops im Kontext der universitären Protestbewegung an der Universität Wien.

Mehr dazu unter unirot.blogsport.de und massenuni.blogsport.de

Raute

Die Uni brennt?

In den vergangenen Jahren wurden an den verschiedenen Universitäten zahlreiche Reformen umgesetzt, die auf eine grundlegende Umgestaltung der Universität zielen. Diese waren zwar von Protesten begleitet, die aber keine länger anhaltende Dynamik entfalteten. Im Herbst 2009 wurde von Studierenden und Lehrenden ausgehend von der Akademie der Bildenden Künste und der Universität Wien eine Protestbewegung angestoßen, die für viele sehr überraschend kam (Geil!). Hier ein Gespräch von und mit in den Protesten involvierten Studierenden.


Zu den Hintergründen und der Entwicklung des Protests

Claude Spivak: Viele Studierende hatten über Jahre hinweg in Bezug auf bildungspolitische Fragen Vorarbeit geleistet. So kam es etwa anlässlich der Novelle des Universitätsgesetzes, wohl aus taktischen Gründen im Sommer beschlossen, zu Demonstrationen, an denen sich jedoch nur wenige Studierende beteiligten. Ende Oktober 2009 sollten nunmehr die "Leistungsvereinbarungen" der Akademie vom Ministerium unterzeichnet werden. Dies hat für viel Unruhe gesorgt: Erstens hatten die Studierenden kein Mitspracherecht in der Ausarbeitung der Leistungsvereinbarung und zweitens hätten die sogenannten Bologna-Richtlinien umgesetzt werden sollen. Anlässlich dessen kam es zu einer Pressekonferenz am Dienstag, den 20.10.2009 und zu einer ersten Demonstration sowie im Anschluss daran zur Besetzung der Akademie. Wir hatten sofort sehr viel Kontakt zu Studierenden der Hauptuniversität Wien, insbesondere zu Studierenden der Politikwissenschaft (POWI) und der Internationalen Entwicklung (IE) und kamen gemeinsam zum Schluss, dass es um Bildungspolitik in einem sehr weiten Kontext bzw. auch um gesellschaftspolitische Fragen geht. Am Donnerstag folgte seitens der Akademie zusammen mit der IE und der POWI die temporäre Besetzung des Hörsaals C1 und die Demonstration vor der Votivkirche, von der aus dann das Audimax besetzt wurde.

Hans Maria Wolpertinger: Vielleicht kann ich hier auf ein paar Details zum Ablauf eingehen: Bei der Vollversammlung am Tag vor der Besetzung ging es zumeist um die Frage, ob wir die Akademie verlassen, uns also rauswerfen lassen sollten - vielleicht auch verbunden mit dem Gedanken eine eigene Akademie zu gründen - oder ob wir bleiben sollten, wohin die Diskussion uns führte. Die Entscheidung zur Besetzung war ein sehr wichtiger Punkt. Nach der Hauptversammlung folgte eine relativ kleine Kundgebung mit 200-250 Personen vor der Akademie, auf der Unsicherheit, ein "noch nicht genau wissen, was", noch spürbar war. Die Leute mussten erst aufgefordert werden, sich ihren Raum zu nehmen. Schließlich wurde die Akademie besetzt, wobei bis Donnerstag, der Tag an dem die "Leistungsvereinbarungen" hätten unterzeichnet werden sollen, offen blieb, ob die Besetzung mit diesem Tag ihr Ende finden würde. Obwohl sich der Protest insbesondere auch gegen das Rektorat richtete, haben wir dem Rektor damit paradoxerweise irgendwie den Rücken gestärkt, da er nun mit der Gewissheit in die Sitzung mit dem Ministerium gehen konnte, dass sich unter den Studierenden der Akademie Unmut über die vorgesehenen Vereinbarungen breit gemacht hat. Bis Donnerstag ging es zunächst nur um die Akademie. Ein Kernmoment dafür, dass es nicht dabei bleiben sollte, war sicherlich, dass wir ins Audimax gingen.

Claude Spivak: Mir scheint aber auch wichtig zu betonen, dass sich die BesetzerInnen an der Akademie von Anfang darüber klar waren, dass diese Aktion in einem internationalen Kontext verortet war; deshalb haben wir auch den internationalen Austausch gesucht. Darauf werden wir später noch zurückkommen.


Besetzung oder Streik?

Claude Spivak: Innerhalb des Protests gab es sehr unterschiedliche Ansichten in Bezug auf die Frage Besetzen oder Streiken. Bei einer Besetzung geht es darum, neue Strukturen zu entwickeln - also einen Raum zu schaffen, an dem alles anders funktioniert, anstatt nur Veränderungen zu fordern.

David Schrittesser: Mir scheint die Eröffnung von Raum ein sehr wichtiger Moment in diesem Protest zu sein; plötzlich gibt es einen Raum, in dem etwas anderes passieren kann und in dem zumindest in diesem Protest sehr viel passiert (ist). Das ist wohl einer der wesentlichen Gründe, warum dieser Protest besser abläuft als in den vergangenen Jahren: Es gibt sehr viele inhaltliche Diskussionen. Es haben sich sehr rasch sehr viele Arbeitsgruppen gegründet etc. Bei den meisten wird wohl das den größten Nachdruck hinterlassen: Dass sie ganz anders leben können, wenn sie wirklich wollen - und wenn nur genügend andere an der Ausgestaltung eines anderen Lebens beteiligt sind. Auf der Hauptuniversität hat sich alles sehr rasch nach Innen gekehrt, auch bedingt durch den intensiven Prozess der Auseinandersetzung miteinander, was dazu geführte, dass wir nicht genug an die anderen Studierenden, die nicht im Audimax waren, herangetreten sind. Es wurde nur sehr wenig Material produziert, mit dem die anderen Studierenden zugespammt werden können; alles hat sich zunächst auf Straßentheater, Arbeitsgruppen und Aktionismus konzentriert. Ein Streik wäre die Möglichkeit gewesen, so scheint mir, rauszugehen und die anderen Studierenden zu involvieren. Vermutlich gab es mehr Kontakt mit JournalistInnen als mit anderen Studierenden.

Claude Spivak: Bei uns wurde parallel zur Besetzung auch zum Generalstreik aufgerufen, an dem sich fast alle Lehrenden beteiligt haben. Damit waren wir nicht in der Situation, dass wir uns ständig fragen mussten, was passiert, wenn ich zu dieser oder jener Vorlesung nicht gehe, da die meisten Vorlesungen entweder überhaupt nicht stattfanden oder sich einzelne Institute wie etwa das Institut für Kunst- und Kulturwissenschaften mit den Studierenden solidarisiert haben.


Wieso haben ausgerechnet die Studierenden an der Akademie der Bildenden Künste diese Protestbewegung losgetreten?

Katharina Hajek: Vorab muss man schon erwähnen, dass auch auf der Hauptuniversität sehr viel Vorarbeit geleistet wurde: Etwa die Institutsvollversammlungen auf der Politikwissenschaft im letzten Jahr oder die Gründung des Widerstandcafés durch einige Studierende der Internationalen Entwicklung, die auch bisher aufgrund der sehr prekären Situation ihres nicht vorhandenen "Instituts" sehr aktiv waren. Und trotzdem war die Besetzung auf der Akademie der Bildenden Künste der Auslöser für den Protest.

Claude Spivak: Dafür, dass der Protest dort losging gibt es, wie ich glaube, mehrere Gründe: Sicher hat sich die Tatsache begünstigend ausgewirkt, dass die Akademie eine sehr kleine Uni ist; die Leute kennen sich und stehen in einem klassenübergreifenden Austausch, was an der Hauptuniversität viel schwieriger ist. [Klasse bezieht sich hier auf die Ausbildungsklassen. Anm. Red.] Außerdem gibt's sehr viele Lehrende und Klassen, wie etwa die Konzeptkunstklasse, die politisch schon sehr lange sehr aktiv sind. Wir haben auch von Anfang an darauf hingewiesen, dass wir nicht gegen eine Lehre sind, weil diese Form des Unterrichts uns ermöglicht hat, ein Bewusstsein zu entwickeln, sie hat uns also die Instrumente gegeben, um uns gegen diese universitären Strukturen zu stellen.

Hans Maria Wolpertinger: Außerdem wird auf der institutionellen Ebene an der Akademie nicht so viel Druck ausgeübt. Ich weiß nicht, wie ich reagieren würde, wenn das an der Akademie stärker der Fall wäre - wie etwa an der Hauptuniversität, die ja den Master und die Bachelor-Studien schon hat. Das scheint mir ein entscheidender Punkt. Deutlich wird dies auch am Beispiel des Instituts für Kunst und Architektur, die das Bachelor-/Mastersystem als einzige Abteilung der Akademie bereits umgesetzt hat; die Studierenden sind erst viel später dazugestoßen und haben extreme Probleme, irgendwie mit ihrem Lehrstoff weiterzukommen, auch weil sie von den Lehrenden nicht im selben Maß unterstützt werden.

David Schrittesser: Spannend find ich, dass an dem, was ihr gesagt habt deutlich wird, wie depolitisierend sich die Einführung bestimmter Strukturen in einem Studium auswirkt. Zu sagen "Ich streik jetzt ein Semester lang", wird schwieriger, wenn man es immer mit überfüllten Hörsälen, mit Internet-Learning-Plattformen, wo die Leute zum Lernen zu Hause bleiben, mit einem Punktevergabesystem, um überhaupt in ein Seminar reinzukommen zu tun hat und man für die Absolvierung des Studiums in der Zeit richtig kämpfen muss. Hier zeigt sich deutlich, dass die Bildung an den Wiener Universitäten, mal abgesehen von der Akademie, eher wie in einem Supermarkt oder wie in einer Fabrik vertrieben wird; und das macht es viel schwieriger, politisch tätig zu sein. Es gibt also bildlich gesprochen Inseln, auf denen noch Elitenbildung von früher praktiziert wird, während sich die Politisierung an den Massenuniversitäten, wie sie seit den siebziger Jahren bestehen, und die jetzt nach dem Vorbild eines Supermarkts bzw. einer Fabrik umstrukturiert werden, viel schwieriger vonstatten geht.


(De)politisierende Mobilisierung?

David Schrittesser: In der großen Bewegung in Wien wurde bisher jede Woche zu einer Riesendemonstration aufgerufen. Das heißt, der Protest hat sich sehr stark an symbolischen Aktionen orientiert. Das wiederum scheint mir ab einem bestimmten Punkt eine depolitisierende Wirkung gezeitigt zu haben, wie man beispielsweise an der dritten Demo erkennen kann: Es wurden sehr viel weniger Menschen mobilisiert; es wurde eigentlich nichts Neues mehr gesagt; alle haben sich verausgabt, zuerst in der Vorbereitung der Demo und dann in dem Gefühl als Masse um den Ring zu stolzieren. Die Leute wurden auf das Ziel eingeschworen "Wir machen jetzt eine Demo, wir präsentieren uns als Masse mit Transparenten, auf denen draufsteht: 'Liebe Politiker, tut doch was für uns'" und das war's dann. Eine Demonstration ist eine gute Sache um mediales Echo auszulösen, aber wichtiger scheint mir, über andere Protestformen nachzudenken, wie etwa einen Streik, über die mehr inhaltliche Arbeit gemacht werden kann und die Leute politisieren werden können.

Hans Maria Wolpertinger: Ich hatte das Gefühl, dass die erste Großdemonstration sehr wichtig war um erstmal vom "lokalen Protest gegen Hahn" wegzukommen. Allerdings wurde nach der ersten Demo, die eine Woche nach der Besetzung des Audimax vonstatten ging, durch die Medien ein unheimlicher Druck aufgebaut, der auch in den Plena spürbar war. Dass diese Anspannung nunmehr nachgelassen hat ist wichtig, weil Diskussionen zu gesellschaftspolitischen Fragen mehr Raum haben. Diese verlangen ein unglaubliches Vorwissen und viel Arbeit; wir brauchen Zeit, um uns in Arbeitsgruppen mit diesen Fragen auseinanderzusetzen und Infotage zu veranstalten. Demos sind nicht gerade der geeignete Ort für intensive Auseinandersetzungen.


Freie Bildung für alle - und zwar umsonst?

David Schrittesser: Die Forderung nach einem freien Hochschulzugang ist als solche bereits eine klassenkämpferische Position. Von Anfang an war in allen Diskussionen eine Spannung da: Es gab genug Studierende, die gesagt haben: "Ich will eine bessere Uni; wir brauchen eine bessere Ausbildung; die Unis brauchen mehr Geld, aber ich bin nicht gegen Zugangsbeschränkungen." Und solche Leute agieren dann auch in Bezug auf die Frage, wie die Bewegung gestaltet werden soll. Mit einem solchen Protest haben Leute, die nicht gerade an der Uni verortet sind, sehr wenig Grund, sich zu solidarisieren. Die Position eines freien Hochschulzugangs dagegen hat die Qualität, die alle teilen können und eine enorme Sprengkraft hat, insofern damit in Frage gestellt wird, dass Bildung einer Verwertungslogik unterliegen muss.

Hans Maria Wolpertinger: Zur Frage des freien Hochschulzugangs möchte ich sagen, dass ich eine Aufnahmeprüfung gemacht habe und an einer elitären Hochschule mit knapp über 1000 Studierenden in drei verschiedenen Gebäuden studiere, während pro Semester allein 800 Menschen Medizin zu studieren beginnen. Ich bin mir nicht sicher, wie eine exzellente Massenuniversität gestaltet werden kann und eigentlich weiß ich nicht, ob ich diese Forderung unterstütze.

David Schrittesser: Die Ausstattung der Universität Wien ist im internationalen Vergleich, insbesondere in Bezug auf die Anzahl der Studierenden, absurd schlecht. Man muss nur die an der Akademie notwendigen Facilities für knapp 1000 Studierende auf 50.000 Studierende hochrechnen, um zu sehen, welche und wie viele Mittel der Universität Wien fehlen, um eine wirklich exzellente Massenuniversität zu sein. Aber trotz dieser schlechten Situation an den großen Universitäten haben diese grundsätzlich eine starke kritische und emanzipatorische Rolle inne, wie ich glaube. Erstens ist es wohl kein Zufall, dass historisch immer wieder an den Universitäten ein Protest losgeht; zweitens wird sehr viel produziert, wovon auch ein politischer Kampf zehren kann. Vieles, was in der Wissenschaft geschieht, hat kritische Relevanz. Wenn der Kampf einen theoretischen Teil hat, dann findet der zu einem gewissen Prozentsatz wohl auch auf den Unis statt. Es braucht Geld und Freiraum, dass Forschungen dieser Art weiter umgesetzt und betrieben werden können.

Hans-Maria Wolpertinger: Die Uni ist für mich persönlich ein Raum, wo ich mein Selbst bilden kann, dieser Raum ist für mich örtlich wie auch zeitlich sehr wichtig. Ein Studium braucht Zeit, weil jede/r mit unterschiedlicher Geschwindigkeit lernt. Die Uni bietet mir diesen Raum mir eine Meinung zu bilden, die für mein restliches Leben entscheidend ist. Es geht mir aber hier nicht nur um eine persönliche selbstverliebte Entwicklung und Selbstverwirklichung, sondern quasi um das Ich als Transformator_in und als Informationsträger_in. Ich denke da auch an Ai Weiweis "Fairytale", eine sozialpolitische Arbeit auf der Documenta 11.

David Schrittesser: Das Humboldt'sche Bildungsideal war doch immer ein Privileg der herrschenden Klasse. Dass mittlerweile so viele Menschen daran partizipieren können, hat einen emanzipatorischen Gehalt. Diese Öffnung wurde erkämpft, und dadurch hat sich die Uni - zumindest zeitweilig - in einen emanzipatorischen Raum verwandelt, wovon wir auch heute noch zehren. Ich will allerdings keinesfalls sagen, dass die Universitäten ein herrschaftsfreier Raum sind, in dem irgendeine Utopie gelebt werden kann. An der Universität wird sehr viel Herrschaftsideologie produziert und die Uni spielt eine wichtige Rolle in der Reproduktion kapitalistischer Verhältnisse. Aber es gibt beide Seiten: Wohl ist man an der Uni nicht frei, aber dort zu sein, politisiert anscheinend: Zumindest wird der Audimax bedeutend häufiger besetzt als sonst wo gestreikt wird...

Katharina Hajek: Hm, das stimmt. Ohne 1968 könnte man sich die Uni gar nicht vorstellen. Aber wir verhandeln die Uni in einem gewissen Sinne als Freiraum; und es bleibt die Frage, wer daran partizipieren kann, wer in den Genuss kommt, ein Studierendenleben für einige Jahre führen zu können. Das heißt, wir haben es auch mit anderen Zugangsbarrieren zu tun. Was ist die Rolle der Unis in kapitalistischen Gesellschaften? Einerseits produzieren sie "Humankapital" für spezifische Märkte und Ökonomien; und andererseits kann man sich aus einer herrschaftskritischen Perspektive auch fragen, was für Wissen wird denn da überhaupt produziert - insbesondere weil Wissen ja auch eine Form von Herrschaft ist. Aus kritischer Perspektive muss die Schlussfolgerung wohl sein: "Weg mit den Unis in dieser Form, weil wir wollen keine Herrschaft mehr."

David Schrittesser: Aber wenn die Unis weg sollen, was bleibt dann über? Ein emanzipativer Bildungsraum?


Fragen der Repräsentation, des Inhalts und der Form

Claude Spivak: An der Akademie war von Anfang an klar, dass es sich bei diesem Protest um einen Protest der Basis und nicht der Österreichischen HochschülerInnenschaft handelt: Das heißt konkret, basisdemokratische Diskussionen und konsensuale Entscheidungsfindung. Nach außen arbeiten wir mit einem Versuch der Entpersonifizierung: Niemand tritt jemals unter seinem/ihrem wirklichen Namen in Erscheinung; meistens treten mehrere Personen gemeinsam auf, die sich ein geschlechtsneutrales Pseudonym zulegen. Die Medien reagieren teilweise sehr seltsam darauf, vermutlich weil sie ein solches Auftreten überhaupt nicht gewohnt sind. Wir hatten Auseinandersetzungen mit einigen JournalistInnen, die uns erklärten, dass sie über das Gesagte nichts schreiben können, wenn wir unsere "richtigen Namen" nicht bekannt geben. Grundsätzlich ist aber jede Person legitimiert, in ihrem eigenen Namen zu sprechen. Es ist klar, dass es verschiedene Positionen gibt; und es ist für uns auch überhaupt keine Frage, dass wir im Detail gar nicht mit einer einzigen Position nach außen gehen können. Wer wo spricht, wird an der Akademie meistens im Plenum besprochen; auch um sicherzustellen, dass nicht immer nur dieselben Leute reden.

David Schrittesser: Bei uns im Audimax wurde die Frage der Repräsentation ununterbrochen heftigst diskutiert - und es gab immer nur eine Antwort: Wir machen alles basisdemokratisch. Aber im Grunde fiel die Entscheidung darüber, wer spricht, überhaupt nicht basisdemokratisch, sondern sehr konspirativ. Die Presse hat ständig InterviewpartnerInnen gesucht und eine Gruppe von Leuten aus dem Presseteam hat dann über informelle Netzwerke Interessierte akquiriert, die dann für die Bewegung gesprochen haben. Ich hab das Gefühl, dass es im Audimax eine wahnsinnige Angst vor der Diskussion gibt, wer spricht und was diese Personen sagen sollen. Niemand will etwas abgeben, weil das dann heißen könnte, dass eine RepräsentantIn gewählt wird, die dann für immer bleibt und sich irgendwie verselbstständigt ... Dass es auf einer Uni Leute gibt, die viel und solche, die wenig wissen, verlangt quasi natürlicherweise nach einer Hierarchie, während die eigenen Hierarchien ganz böse sind und man folglich lieber gar nicht darüber diskutieren mag. Das läuft auf darauf hinaus, dass man sich selbst entmachtet und die eigenen Belange nicht ernst nimmt. Hier herrscht eine wahnsinnige Naivität vor.

Katharina Hajek: An die Pressegruppe kommen extrem viele Interviewanfragen von diversen Medien. Das Presseteam bestand in den ersten drei Tagen und wohl darüber hinaus aus nicht mehr als drei Leuten, die alle Interviews geführt haben und vollkommen überarbeitet waren; die waren heilfroh, wenn irgendwer sich bei ihnen gemeldet hat und gesagt hat, ich helf euch, diese Flut von Interviewanfragen zu bewältigen. Worauf ich damit hinaus will: Es reicht in der Umsetzung nicht, zu sagen "Wir sind für Basisdemokratie; wir wollen keine Delegierten etc." und darüber hinaus geschieht nichts und die ganze Arbeit bleibt an zwei oder drei Leuten hängen, die das selbst eigentlich gar nicht wirklich machen wollen!

Anna Wundersam: Trotz alledem scheint die Medienstrategie ganz gut zu funktionieren. Es sind immer andere Leute in den Medien, die sich in keinster Weise als VertreterInnen des Audimax bzw. der Studierenden ausgeben, sondern ganz klar machen, dass es sich um zwei Positionen aus dem Plenum der Besetzung handelt. Und sie sind auch nicht gewillt, sich auf eine von den Medien an sie herangetragene Vertretungslogik einzulassen. Die Frage, die ich mir dabei gestellt hab, war: "Woher kommt dieses Wissen?"

David Schrittesser: Okay, die Pressearbeit hat eh gut funktioniert, aber bei der Plenumsvorbereitung ist vieles sehr undemokratisch gelaufen. Das hat sich basisdemokratisch geschimpft, war aber in Wirklichkeit überhaupt nicht demokratisch. Es sind ganz schlimme Fehler passiert, wie etwa, dass der Arbeitsgruppe "Studieren statt Blockieren", den VertreterInnen der Jungen Liberalen sowie Leuten, die gegen den Antisexismus aufgetreten sind usw. wiederholt überproportional viel Raum eingeräumt wurde. Es war nicht möglich, diese Leute, die die Plena vorbereitet haben, zur Verantwortung zu ziehen, weil sich alle immer auf basisdemokratische Entscheidungsprozesse rausreden konnten, die eigentlich nicht existiert haben.


Fragen der Basisdemokratie

Katharina Hajek: Ein Manko dieser Bewegung scheint mir zu sein, dass Basisdemokratie - und ich beziehe mich hier nur auf die Hauptuni - immer nur als Selbstzweck bzw. selbst-referentiell diskutiert wird. Das heißt, die Frage, wieso wir ohne SprecherInnen/Delegierte nach außen auftreten, was wir damit transportieren wollen und was das eigentlich bezwecken soll, wurde überhaupt nicht angesprochen. Alle sollen sprechen dürfen, was dazu geführt hat, dass in einer Institutsversammlung der Politikwissenschaften Leute aus der Besetzung gesagt haben, sie möchten, dass die Wissenschaftssprecher der Freiheitlichen Partei Österreichs eingeladen werden im Audimax zu sprechen.

Hans Maria Wolpertinger: Das entscheidende Problem mit der Basisdemokratie scheint mir das der Verantwortung. Einerseits muss sich jede/r verantwortlich fühlen, aber andererseits ermöglicht gerade auch die Forderung nach Basisdemokratie, dass sich jede/r der Verantwortung entledigen kann. Das kann dahin führen, dass Basisdemokratie einem repräsentativen System zu gleichen beginnt - nicht weil's von oben kommt, sondern von unten oder von der Seite. Außerdem macht sich bei vielen, die nicht regelmäßig an den Plena beteiligt sind, oft das Gefühl breit, dass die anderen einen Wissensvorsprung haben, weswegen Erstere sich nicht mehr trauen, sich einzubringen, weil sie meinen, dass Sachen bereits vorbesprochen wurden und viele Insider-Gespräche am Laufen sind. Das kann eine große Hürde sein. Wenn es um basisdemokratische Entscheidungsprozesse geht, scheint ein sehr idealisiertes Bild von lauter gleichen und gelevelten Menschen vorzuherrschen, obschon die Leute ganz unterschiedlich laut und dominant sind bzw. ihre Positionen in den Plena stark vertreten können, was aber noch nichts darüber sagt, ob sie tatsächlich auch Wissen haben. Das macht die ganze Sache sehr viel schwieriger und ist - zumindest an der Akademie - ein häufig wiederkehrender Diskussionspunkt.

Katharina Hajek: Abgesehen davon, dass Basisdemokratie reichlich entpolitisiert diskutiert wird, scheint mir auch ein Problem, dass auch heute bei Diskussionen im Audimax immer wieder die gleichen "alten Männer" ans Mikro kommen und sich äußern. Es gibt noch ziemlich viel zu lernen, wenn es um das Tun von anderen Strukturen geht. Aber die Öffnung sowohl des Raumes wie auch solcher Diskussion ist ein solcher Lernprozess.


Feminismen und Anti-Sexismen?

David Schrittesser: Zu dieser Frage gibt es unterschiedliche Einschätzungen: Ich hatte bisher bei früheren Bewegungen nie das Gefühl, dass ein dermaßen großer Konsens bezüglich etwa gegenderter RednerInnenlisten vorherrscht etc. In dieser Besetzung wird ununterbrochen darauf aufmerksam gemacht, dass Männer sich in der Länge und Häufigkeit ihrer Redebeiträge einschränken sollen etc. Dennoch gibt's auf der Homepage sehr viel Protest bspw. gegen die Verwendung des Binnen-I; und gleichzeitig gibt's Diskussionen darum, ob ein Frauen-Lesben-Transgender-Raum überhaupt notwendig ist und ob das nicht zur Spaltung der Bewegung führt etc. Auch im Audimax selbst gab's recht viele Wortmeldungen dahingehend, dass der Anti-Sexismus in der Bewegung zu präsent wäre - auch Frauen haben darauf gepocht, das solle nicht so viel Raum einnehmen, das sei kein Studierendenthema.

Hans Maria Wolpertinger: Es scheint, dass feministische Forderungen kein Problem darstellen bzw. fast alle damit einverstanden sind, solange sie sich nicht selber damit beschäftigen müssen. Ganz bestimmte Leute erklären sich zuständig und viele sind dann erleichtert, weil sie das Thema abhaken und abnicken können.

Katharina Hajek: Als beispielsweise die AG Antisexismus am Podium im Audimax ihre Forderungen vorgelesen haben, wurden diese mit etwa 10 Gegenstimmen angenommen und es gab sehr großen Applaus. Als es dann aber zur Diskussion um die sexistischen Übergriffe im Audimax kam, war die Antwort sofort: Das waren die von außen, die Partyleute, weil linke Männer machen so was nicht. Ganz allgemein gesagt, ich find es schade, dass Antisexismus und Antidiskriminierungsfragen in den Forderungen fast ausschließlich in Bezug auf eine Quote thematisiert werden und nicht darüber hinaus - und das obwohl diesbezüglich schon sehr viel Vorarbeit geleistet wurde. Es wurde wohl nicht genügend darauf hingewiesen, was eine Geschlechterpolitik jenseits von Quotenfragen sein könnte. Vielleicht hat das auch mit einem spezifischen Zugang zum Feminismus zu tun, dass Fragen der Arbeitsteilung, der Ökonomie durch diesen spezifischen Feminismus, der stark auf Identitäten und Heteronormativität fokussiert - was sehr notwendig ist - zusehends aus dem Blick geraten.


Rolle der institutionalisierten Studierendenorganisationen

Hans Maria Wolpertinger: Die Österreichische HochschülerInnenschaft (ÖH) in ihrer Funktion als Interessensvertretung der Studierenden spielt auf der Akademie in diesem Protest überhaupt keine Rolle. Die ÖH-Leute sind zwar sehr aktiv, deklarieren sich aber nicht als FunktionärInnen, obgleich sie etwa in Senatssitzungen dabei sind, in denen die anderen nicht anwesend sein können, obwohl auch das hinterfragt und aufgebrochen wird. Ich find ganz interessant, was Sprache hier vermag: Das ÖH-Büro an der Akademie heißt etwa seit der Besetzung nicht mehr ÖH-Büro, sondern Dezentrale. Das scheint mir ein sehr wichtiger Punkt zu sein: Wie verändert sich der Raum, der früher das ÖH-Büro war, wenn er Dezentrale genannt wird.

David Schrittesser: Auch im Audimax machen die Leute von der ÖH sehr viel Arbeit, was sehr wichtig ist. Institutionell treten sie überhaupt nicht in Erscheinung, es gibt nicht mal eine Dezentrale ... Aber die ÖH hat sehr viele Ressourcen in die Besetzung rein gesteckt und Einzelne haben sehr, sehr viel Arbeit investiert. Was mir ganz allgemein mit diesen institutionalisierten Leuten, wie etwa auch der Sozialistischen Jugend, immer wieder problematisch erscheint, ist, dass sie wie wild zu organisieren beginnen und andere nach Hause schicken, weil sie Angst davor haben, dass zu viele zusammenkommen und Emotionen hochgehen könnten. Ich hab den Eindruck, dass sie nicht mit politischen bzw. radikalen Bewegungen umgehen können, wahnsinnige Panik kriegen und dann oft de-radikalisierend wirken.

Katharina Hajek: Gleichzeitig muss man auch sehen, dass von Seiten der Politik (dem Wissenschaftsminister Hahn) die Stellungnahme kam, dass nur mit der ÖH Gespräche geführt werden, weil sie sonst diese "chaotischen Zustände" legitimieren könnten. Grundsätzlich: Was heißt das, wenn die formell gewählte Vertretung der Studierendenschaft einfach abgesetzt wird. Es gab von Anfang an einen Konsens, dass die ÖH überhaupt keine Vertretungsansprüche stellen darf.

David Schrittesser: Zwar werden die gewählten Strukturen abgesetzt; allerdings ändert das nichts daran, dass die Medien, das Rektorat etc. die ÖH trotz alledem als einzig legitime Instanz erkennen und akzeptieren. Und was die sagen hat viel mehr Gewicht als das, was pseudoanonymisierte MediensprecherInnen sagen.


Strategien der Rektorate und der offiziellen Stellen

David Schrittesser: Die offiziellen Stellen, also das Rektorat und das zuständige Ministerium, haben sich sehr ruhig verhalten. Der Vorteil davon ist, dass die Frage von Verhandlungen und Kompromisslösungen gar nicht erst aufkommen konnte.

Katharina Hajek: Es war ja ziemlich bald klar, dass sie keine Räumung durchführen lassen werden, vielleicht auch weil die Uni sonst wirklich gebrannt hätte. Derzeit scheint das Rektorat die Strategie zu verfolgen, diese Proteste auszusitzen - das ist ein meiner Ansicht nach ein viel zu wenig diskutierter Punkt. Gleichzeitig wird immer mit den unterschiedlichsten Kosten argumentiert, die der Protest der Uni verursacht, was in der Folge von reaktionärer Seite immer wieder mal aufgegriffen wird und gegen die Bewegung verwendet wird. Ein solcher Umgang mit dem Protest steht in einer sehr spezifischen Logik. Und gleichzeitig herrscht eine irrsinnige Unklarheit darüber, wer nun eigentlich zuständig ist für die Verfassung der Uni: Einerseits erklärt das Ministerium die Rektorate für zuständig und die Rektorate ihrerseits wiederum das Ministerium. Wieso aber kamen die Rektorate nicht unter Beschuss, wo doch die für die Umsetzung und Implementierung der Reformen zuständig waren. Die Rektorate entscheiden darüber, wie diese umgesetzt werden.


Auswirkung des Bologna-Prozesses auf Studium, Forschung und Lehre

Claude Spivak: Entdemokratisierung, Normierung und Standardisierung des Studiums, Produktion von Humankapital gegen freie Lehre - das ist in aller Kürze, was ich zu Bologna zu sagen habe.

David Schrittesser: Man muss den Bologna-Prozess als Teil einer großen Strategie sehen, wie Bildungspolitik insgesamt verfährt. Seit den 1970-er Jahren gab es den "freien Hochschulzugang" und sehr viele Leute sind auf die Unis geströmt. Gleichzeitig werden die ArbeiterInnen im Postfordismus sehr oft an der Universität ausgebildet. Es hat sich daher nicht nur die Arbeitsweise, sondern auch das Ausbildungswesen verändert. Im Zuge der letzten Jahre hat sich die Taktik offensichtlich dahingehend entwickelt, dass einerseits die Universitäten teilweise wieder elitärer gemacht werden (u. a. durch die Wiedereinführung von Zugangsbeschränkungen jeglicher Art) und andererseits ihre Effizienz erhöht wird. Während früher nur sehr wenige Menschen in den Genuss einer universitären Elitebildung gekommen sind, haben wir es nunmehr mit einem Kontinuum zu tun, das von vielen Filterungsmechanismen durchzogen ist: Vom Bachelor zum Master zum PhD, etc.

Katharina Hajek: Ich find erstaunlich, wie widersprüchlich die Argumentation in Bezug auf Bologna tatsächlich ist. Einerseits wird mit der Lissabon-Strategie die Ausbildung von immer mehr AkademikerInnen angestrebt; es kommen Argumente wie jenes, dass Österreich zu wenige AkademikerInnen und eine der niedrigsten AkademikerInnenquoten überhaupt in der EU hat und dass LohnarbeiterInnen für den Dienstleistungssektor produziert werden müssen. Und gleichzeitig hört man überall, dass die Unis überflutet werden und diesem Ansturm nicht standhalten können. Also was nun: Zu wenig Studierende oder zu viele?

David Schrittesser: Die Lösung scheint doch zu sein, dass ganz viele den Bachelor machen können, die allerdings ihr Studium sehr rasch absolvieren müssen; schon sehr viel weniger Menschen werden für den Master zugelassen und auch diese sollen sich noch beeilen; der PhD schließlich dient als Ersatz für das, was früher die Uni insgesamt war: Dort werden die WissenschaftlerInnen oder ManagerInnen herangezogen. Das scheint mir die langfristige Strategie zu sein.


Transnationale Proteste und mögliche Synergieeffekte

David Schrittesser: Allein die Tatsache, dass es international Proteste gibt, dass Menschen eingeladen werden aus Kroatien oder aus Italien, um über ihre Protestformen zu sprechen, hat einen sehr hohen Stellenwert, weil die Leute hier merken, dass die Probleme, nicht nur sie betreffen, sondern dass es einen Kontext gibt, in dem das alles steht: Damit werden die bildungspolitischen Strategien, die die EU vorgibt, in die Überlegungen zur eigenen Bewegung einbezogen.

Claude Spivak: Aus Santa Cruz gibt es den sehr wichtigen Text "Communiqué From an Absent Future" [Kommuniqué aus einer ausbleibenden Zukunft] und wir werden mit ihnen gemeinsam einen neuen Text verfassen mit dem Titel "Communiqué From a Feminist Future". Wir haben auf zwei Ebenen sehr viel Kontakt: einerseits gibt es einen Theorieaustausch mit einer ziemlich stabilen Gruppe von zehn Leuten aus Santa Cruz, die bei allen Besetzungen immer aktiv und dabei waren und mit denen wir theoretische Texte und Ansätze diskutieren. Auf der zweiten Ebene gibt's einen Praxisaustausch: Wir hatten gerade am Samstag, den 14.11. eine Konferenz mit ihnen, weil sie gerade wieder eine neue Besetzung gestartet haben und es wurde der Wunsch geäußert mit ihnen eine Live-Schaltung zu machen, auch um den dort neu dazukommen Leuten die die Dimension der Proteste zu verdeutlichen. Organisatorisch haben sich an der Bildenden verschiedene Personen dazu bereit erklärt, den Kontakt mit anderen Orten zu halten, damit nicht zehn verschiedene Personen mit einer Person über dieselben Dinge sprechen und die einen nicht wissen, was der andere gesagt hat. Ich bin die Ansprechperson für Santa Cruz und Berkeley, es gibt aber auch intensive Kontakte nach London und natürlich gibt's über die Arbeitsgruppe Vernetzung sehr viel Kontakte innerhalb des deutschsprachigen Raums. Ich glaub allerdings, dass es Unis gibt, die ein bisschen rausgefallen sind, weil ich eigentlich niemanden kenn, der nach Polen oder Albanien Kontakt hätte. Es gibt unterschiedliche Intensitäten in der Auseinandersetzung, bedingt durch den selbst gesetzten Theorieschwerpunkt. Wir haben weniger mediale Öffentlichkeit als etwa die Hauptuni; daher haben wir uns von Anfang an auf einen intensiven theoretischen Austausch mit Santa Cruz konzentriert - obwohl die Situation in den USA eine völlig andere ist - die sind mit Polizeistationen am Campus konfrontiert, die BesetzerInnen müssen sich verbarrikadieren und die Special Forces sind sofort da.

Katharina Hajek: Anders als das Ganze zumindest europaweit aufzuziehen, hat, wie mir scheint, sehr wenig Sinn. Den Bologna-Prozess als Teil der Lissabon-Strategie, als Teil eines neoliberalen hegemonialen Projektes in Europa zu fassen, heißt in Konsequenz auch, dass es nur überall bekämpft werden kann. So waren Leute vom SDS aus Deutschland hier, die von ihren Aktionen berichtet haben und einige der Audimax-BesetzerInnen sind auf einer kleinen Aktionstour zu den Besetzungen in Deutschland, wobei viele Fragen zu "technischen" Details, etwa die Umsetzung und Organisierung von Protesten, ausgetauscht wurden.


Strategien der Verstetigung und Ausweitung des Protests

Katharina Hajek: Es ist einer der zentralen Knackpunkte dieser Bewegung, den Unmut der Studierenden mit gesellschaftspolitischen Forderungen aus anderen Bereichen zu verbinden. Das geschieht teilweise schon, insbesondere auf der Akademie, wo ein Mindestlohn eingefordert wurde. Dadurch wird sofort klar, dass es hier nicht nur um Studierende geht. Das ist einerseits ein politisches Ziel, um sich nicht ausspielen zu lassen - Kürzung von Sozialleistungen und dagegen mehr Geld für die Universitäten - und um Solidarisierungen zu schaffen, wie etwa die Versuche mit den GewerkschafterInnen, die derzeit grad in Tarifverhandlungen stecken, um den Protest auszuweiten und klar zu machen, dass es um etwas Größeres als nur um einen Protest gegen Bologna geht. Insbesondere weil der Bologna-Prozess seinerseits in einem spezifischen politischen Kontext steht, der von anderen Unternehmungen zur Neoliberalisierung nicht gesondert betrachtet und bekämpft werden kann. Und gleichzeitig ist das für mich einer der wichtigsten Punkte der Verstetigung, wenn man das nicht als unispezifisches Thema diskutiert, sondern als sozialpolitische Angelegenheit. Dann wäre es auch nicht so tragisch, wenn das Audimax in zwei Monaten vielleicht nicht mehr besetzt ist, weil sich die Proteste in andere Bereiche ausgedehnt haben bzw. dort artikuliert werden oder im Falle der Uni auf den Instituten diskutiert wird, was derzeit sehr stark geschieht. Dass an den Instituten zunehmend gemeinsam mit den Lehrenden und teilweise auch den ProfessorInnen überlegt wird, wie der Protest nachhaltig an der Uni verankert werden kann.

Hans Maria Wolpertinger: Strategien der Ausweitung des Protests haben für uns viel mit dem Thema Arbeit zu tun - und also mit dem, was wir eigentlich sind: nämlich Arbeitende und Studierende. Schließlich arbeiten in Österreich 80% der Studierenden und gehen zumeist prekärer Lohnarbeit nach, um ihr Studium zu finanzieren, sodass die Studierenden innerhalb des universitären Systems niemals nur Studierende sind, sondern unterbezahlte Arbeitende. Daher rührt die ganze Diskussion um den Mindestlohn - ein Thema, das sich durch die ganze Gesellschaft zieht.


P.S.: Dieses oder ähnliches, aber jedenfalls mehr findet ihr in einer führenden Theoriezeitschrift Wiens (Danke!), den Perspektiven Nr. 10

Raute

Kommuniqué aus einer ausbleibenden Zukunft.

Über die Ausweglosigkeit des studentischen Lebens.

Der hier vorliegende Text wurde im Zuge der Besetzung eines Teils der Universität von Santa Cruz vor einigen Wochen von dem Kollektiv research&destroy verfasst und Anfang Oktober 2009 online publiziert. Eine darauf einsetzende Diskussion des Kommuniqués kann auf der Website von AK Press nachgelesen werden[1]. Nach einer kurzen Pause, setzten übrigens auch die Kämpfe an kalifornischen Universitäten Mitte November wieder ein und scheinen sich weiter auszudehnen.

Die deutschsprachige Übersetzung ist ein kollektives Ergebnis, von Leuten aus dem Umfeld der Zeitschrift grundrisse und der edition PROLLpositions, in der der Text Ende November als erster Band in einer Reihe zum Thema Universitäten und Wissensproduktion erschien.

Einleitung: 7 gegen Pompeii

WIR LEBEN ALS TOTE ZIVILISATION. Wir können uns das gute Leben gar nicht mehr vorstellen, außer in einer Aneinanderreihung von vorausgewählten Spektakeln zu unserer Zerstreuung: ein schimmerndes Menü von Illusionen. Das erfüllte Leben ebenso wie unsere eigenen Vorstellungen wurden systematisch durch eine Bilderwelt ersetzt, die nicht nur viel reichhaltiger und auch unmenschlicher ist als all das, was wir uns jemals selbst ausdenken hätten können, sondern die gleichzeitig unerreichbar bleibt. Niemand glaubt mehr an solche Ergebnisse.

Die Lebenswirklichkeit nach der Universität ist ein erbärmlicher und spießiger Wettbewerb mit Unbekannten wie auch unseren Freund*innen um Ressourcen: Ein Gerangel um einen Posten im unteren Management, der uns (mit Glück) ein paar von Furcht und Schrecken sowie zunehmender Ausbeutung zerrüttete Jahre bescheren wird - bis sich das Unternehmen auflöst und wir nörgelnd an "Plan B" denken. Aber das ist auch eine exakte Beschreibung des Universitätslebens heute; wir leben dieses erbärmliche und spießige Leben längst.

Nur um zu überleben, sind wir dazu verdammt, verschiedene Haltungen gegenüber diesem Zwiespalt - Bankrott gegangenen Versprechungen und dem wirklichen Angebot - einzunehmen. Einige gewöhnen sich eine naiv-romantische Einstellung in Bezug auf Bildung als Selbstzweck an und reden sich ein, dass sie keine weiteren Erwartungen haben. Andere wiederum schreiten mit ehernem Zynismus und Verachtung fort und hetzen sich durch das aberwitzige Affentheater, um das letzte Geldbündel im stickigen Gewölbe der Zukunft zu ergattern. Wieder andere verschreiben sich dem altmodischen Glauben, dass ihre zunehmend harte Arbeit eines Tages ganz sicher belohnt wird, wenn sie nur so agieren, wie jemand der daran glaubt, präsent ist, zusätzliche Abschlüsse und noch mehr Schulden anhäuft - noch härter arbeitet.

Die Zeit, das eigentliche Material unserer Existenz, entschwindet: Die Stunden unseres täglichen Lebens verfliegen. Die Zukunft wird uns im Voraus gestohlen und dient nur noch dem Anhäufen von Schulden sowie dazu unsere Nachbar*innen an den Bettelstab zu bringen. Möglicherweise verdienen wir die Zinsen für unsere Langeweile, wahrscheinlich nicht einmal das. Uns erwarten keine 77 Jungfrauen, ja nicht einmal Plasmafernseher, auf dem wir die Todeskämpfe der USA als globale Supermacht mitverfolgen können. Der Kapitalismus wurde endgültig zur wahren Religion, in der die Reichtümer des Himmels überall versprochen, aber nirgends gegeben werden. Der einzige Unterschied ist, dass in der unendlichen Zwischenzeit jede nur erdenkliche Grobheit und Grausamkeit tatkräftig bestärkt wird. Wir leben als tote Zivilisation, als die letzten Bewohner*innen von Pompeii.

Romantische Naivität, eherner Zynismus, Verachtung und Hingabe. Die Universität und das Leben, das sie reproduziert, waren von diesen Dingen abhängig. Sie haben sich auf unsere menschlichen Fähigkeiten verlassen, sowohl für ihren Fortbestand wie auch um das katastrophale Scheitern jener Welt noch ein paar Jahre mehr aufrechtzuerhalten. Aber warum sollen wir ihren Kollaps nicht beschleunigen? Die Universität hat sich von innen heraus zersetzt: Das "Humankapital" von Mitarbeiter*innen, Unterrichtenden und Studierenden würde die Universität heute ebenso wenig verteidigen wie eine Stadt der Toten.

Romantische Naivität, eherner Zynismus, Verachtung und Hingabe: All das muss nicht aufgegeben werden. Die Universität zwang uns dazu, diese Eigenschaften als Werkzeuge zu gebrauchen; sie werden als Waffen wiederkehren. Die Universität, die uns zu sprachlosen und abgestumpften Instrumenten ihrer eigenen Reproduktion macht, muss zerstört werden, damit wir unsere eigenen Leben produzieren können. Romantische Naivität bezüglich der Möglichkeiten; eherner Zynismus, was die Methoden angeht; Verachtung für die erniedrigenden Lügen der Universität hinsichtlich ihrer Situation und ihrer guten Absichten; Hingabe für die absolute Transformation - nicht der Universität, sondern unserer eigenen Leben. Das ist der Anfang der Wiederkehr der Vorstellungskraft. Wir müssen beginnen, uns wieder zu bewegen, uns von der vereisten Geschichte zu lösen, vom glühenden Abbild dieses vergrabenen Lebens.

Wir müssen unsere eigene Zeit leben, unsere eigenen Möglichkeiten. Das sind die einzigen wahren Existenzberechtigungen der Universität, auch wenn sie diesen nie nachgekommen ist. Auf Seite der Universität stehen: Bürokratie, Trägheit, Inkompetenz. Auf unserer Seite: alles andere.


I

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Die Universität ist genauso bankrott wie die Gesellschaft, deren willfährige Dienerin sie war. Dieser Bankrott ist nicht nur ein finanzieller. Er ist das Anzeichen für eine viel grundlegendere sowohl politische wie auch ökonomische Insolvenz, die sich schon seit geraumer Zeit abzeichnet. Niemand weiß, wozu die Universität heute noch gut ist. Das fühlen wir intuitiv. Das alte Projekt der Schaffung einer kultivierten und gebildeten Bürger*innenschaft ist an sein Ende gekommen; auch die Vorteile, die Akademiker*innen auf dem Arbeitsmarkt einst hatten, sind dahin. Dies sind nunmehr Phantastereien, gespenstische Überbleibsel, die schlecht instand gehaltenen Hörsälen anhaften. Eine unpassende Architektur, die Geister entschwundener Ideale, der Ausblick auf eine tote Zukunft: Das sind die Überreste der Universität. Inmitten dieser Überreste sind die meisten von uns wenig mehr als eine Ansammlung verdrießlicher Gewohnheiten und Pflichten. Wir folgen den durch Prüfungen und Aufgaben vorgegebenen Abläufen mit einer Art gedankenlosem und unveränderlichem Gehorsam, der auf nicht ausgesprochenem Frust beruht. Nichts weckt Interesse, nichts löst Empfindungen aus. Das Weltgeschichtliche mit seinem katastrophischen Pomp ist nicht realer als die Fenster, in denen es sich zeigt.

Für diejenigen, deren Jugend von der nationalistischen Hysterie im Gefolge des 11. Septembers vergiftet wurde, ist öffentliche Meinungsäußerung nichts anderes als eine Reihe von Lügen, und öffentlicher Raum ist ein Raum, in dem Dinge möglicherweise explodieren (obwohl das niemals passiert). Getrieben von der vagen Sehnsucht danach, dass irgendetwas geschehen möge - ohne uns jemals vorzustellen, dass wir selbst etwas machen könnten - wurden wir von der nichts sagenden Eintönigkeit des Internets gerettet: Dort finden wir Zuflucht unter Freund*innen, die wir niemals zu Gesicht bekommen, deren ganze Existenz auf einer Reihe von Ergüssen und dummen Bildern beruht und deren Diskurse nichts als anderes sind als das Geschwätz von Waren. Unsere Losungen waren demnach Sicherheit und Komfort. So gleiten wir durch das Fleisch der Welt, ohne berührt oder bewegt zu werden, und hüten allerorts unsere Leere.

Aber wir können für diese unsere Not dankbar sein: Entmystifizierung ist nunmehr eine Voraussetzung und kein Projekt mehr. Die Universität erscheint schließlich als das, was sie immer schon war: eine Maschine zur Herstellung willfähriger Produzent*innen und Konsument*innen. Selbst die Freizeit ist eine Art Jobtraining. Die Idiotentrupps der Verbindungsbuden lassen sich mit der Hingabe von bis spätnachts im Büro arbeitenden Anwält*innen regelmäßig volllaufen. Jugendliche, die in der Schule noch Gras geraucht und geschwänzt haben, schlucken jetzt Amphetamine und gehen an die Arbeit. Wir betreiben die Diplomfabriken auf den Laufbändern der Fitnessstudios. Wir laufen unermüdlich in elliptischen Bahnen.

Es macht daher wenig Sinn, sich die Universitäten als Elfenbeintürme - entweder idyllisch oder nutzlos - in Arkadien vorzustellen. "Hart arbeiten, feste feiern" [work hard, play hard][2] war das übereifrige Motto einer ganzen Generation in Ausbildung für ... was? - Für das Malen von Herzen in Cappuccinoschaum oder das Eintippen von Namen und Nummern in Datenbanken. Die schillernde Technozukunft des amerikanischen Kapitalismus wurde schon vor langer Zeit zusammengepackt und für noch ein paar Jahre Schrott auf Pump nach China verkauft. Ein Universitätsdiplom ist heute nicht mehr wert als eine Aktie von General Motors.

Wir arbeiten und wir machen Schulden, nur um zu arbeiten und Schulden zu machen. Die Jobs, auf die wir hinarbeiten, sind die Jobs, die wir bereits haben. Nahezu dreiviertel aller Studierenden arbeiten während sie noch in Ausbildung sind, viele davon Vollzeit; für die meisten ist das Beschäftigungsniveau, das wir als Studierende erlangen, das gleiche wie jenes, das uns nach unserem Hochschulabschluss erwartet. Zwischenzeitlich erwerben wir keine Bildung, sondern machen Schulden. Wir arbeiten, um Geld zu verdienen, das wir bereits ausgegeben haben; unsere zukünftige Arbeit wurde längst schon auf dem schlimmsten aller Märkte verkauft. Der durchschnittliche Verschuldungsgrad der Studierenden stieg in den ersten fünf Jahren des einundzwanzigsten Jahrhunderts um 20 Prozent - und um 80 bis 100 Prozent für students of color. Das Darlehensvolumen von Studierenden - eine Zahl, die sich umgekehrt proportional zur staatlichen Bildungsfinanzierung verhält - stieg von 1977 bis 2003 um knapp 800 Prozent. Was wir mit unseren auf Pump bezahlten Studiengebühren kaufen, ist das Privileg für den Rest unseres Lebens monatliche Zahlungen zu leisten. Was wir lernen, ist die Choreografie des Kredits: Du kannst keinen Kurs besuchen, ohne eine weitere Plastikkarte zu erhalten, wofür 20 Prozent Zinsen anfallen. Die auf das Finanzwesen spezialisierten Studierenden von gestern, kaufen ihre Sommerhäuser mit der düsteren Zukunft der heute auf Geisteswissenschaften [humanities] spezialisierten Studierenden.

Das ist die Aussicht, auf die wir uns seit der Grundschule vorbereiten. Diejenigen von uns, die hierher kamen, um sich ihre Privilegien bestätigen zu lassen, lieferten unsere Jugend einem Bombardement von Dozent*innen, einem Geschützfeuer von psychologischen Tests sowie den obligatorischen Angestellten des öffentlichen Dienstes aus - somit einer zynischen Zusammenstellung von Halbwahrheiten, die auf ein ausgewogenes Bewerbungsprofil verweisen. Kein Wunder, dass wir uns daran machen, uns selbst zu zerstören, und zwar in der Sekunde, in der wir der Rute der elterlichen Fürsorge entkommen. Anderseits wissen diejenigen von uns, die zur Überwindung der ökonomischen und sozialen Benachteiligungen ihrer Familien bis hierher gekommen sind, dass auf jede Einzelne, die "es schafft", zehn weitere folgen - dass die Logik hier auf einem Nullsummenspiel beruht. Der sozioökonomische Status ist ohnehin die beste Vorhersage, was den Studienerfolg betrifft. Denjenigen von uns, die Demograph*innen "Einwanderer", "Minderheiten" und "people of color" nennen, wurde eingetrichtert, an die Aristokratie der Leistung zu glauben. Wir aber wissen, dass wir nicht trotz, sondern gerade wegen unserer Errungenschaften gehasst werden. Und wir wissen auch, dass die Kreisläufe, durch die wir uns möglicherweise aus der Gewalt unserer Herkunft befreien können, nur das Elend der Vergangenheit in der Gegenwart anderer an anderen Orten reproduzieren.

Wenn die Universität uns vor allem lehrt, wie man sich verschuldet, wie wir unsere Arbeitskraft verschwenden und wie wir unbedeutenden Ängsten anheimfallen können, so lehrt sie uns dadurch auch, wie wir zu Konsument*innen werden. Bildung ist eine Ware, ebenso wie alles andere, wonach wir streben, ohne uns etwas daraus zu machen. Sie ist ein Ding und sie verwandelt, die die sie erwerben, in Dinge. Die eigene sozioökonomische Stellung im System, das eigene Verhältnis zu anderen, wird zunächst mit Geld und später durch die fortwährende Demonstration von Gehorsam erworben. Zuerst zahlen wir und dann wird "hart gearbeitet". Und da ist der Riss: Man ist zugleich Befehlende*r und Befehlsempfänger*in, Konsumierende*r und Konsumierte*r. Es ist das System selbst, dem man gehorcht, den kalten Gebäuden, die Gehorsam erzwingen. Die Unterrichtenden werden mit dem Respekt eines automatischen Nachrichtenübermittlungssystems behandelt. Hier gilt nur die Logik der Kund*Innenzufriedenheit: War der Kurs einfach? Ist der/die Lehrende cool? Kann jedes dumme Arschloch ein Sehr Gut bekommen? Wozu Wissen erwerben, wenn es mit ein paar Mausklicks abrufbar ist? Wozu ein Gedächtnis, wenn wir das Internet haben? Eine Einübung ins Denken? Das kann doch nicht dein Ernst sein! Eine moralische Vorbereitung? Dafür gibt es doch Antidepressiva!

Die graduierten Studierenden, scheinbar die politisch aufgeklärtesten unter uns, sind indessen auch die gehorsamsten. Die "Berufung", für die sie arbeiten, ist nichts anderes als die Einbildung aus dem Raster zu fallen bzw. aus dem Arbeitsmarkt ausgeschlossen zu werden. Alle graduierten Studierenden sind angehende Robinson Crusoes, die von einer den Markterfordernissen nicht unterworfenen Inselökonomie träumen. Aber diese Einbildung speist sich selbst aus einer unablässigen Unterordnung unter den Markt. Man spürt nicht den geringsten Widerspruch, wenn es tagsüber um das Unterrichten einer fundamentalen Kapitalismuskritik geht und nachts um das Feilen am eigenen Vorsingen. Dass wir Vergnügen an unserer Arbeit haben, erleichtert den Umgang mit unseren Symptomen. Ästhetik und Politik kollabieren, da die Geschichte freundlicherweise durch Ideologie ersetzt wird: Sauferei und Schöne Künste und noch ein weiteres Seminar zur Frage des Seins, die Unschärfe des Schriftbilds, jedes Pixel von irgendjemandem irgendwo bezahlt, irgendein Nicht-Ich nicht hier, wo alles, was erscheint, gut ist und alle Güter mittels Kredit erreichbar scheinen.

Die Hochschule ist einfach der verschwindende Rest eines feudalen an die Logik des Kapitalismus angepassten Systems - von den Kommandohöhen der Starprofessor*innen bis zu den dicht gedrängten Reihen von Assistent*innen und Lehrbeauftragten, deren Bezahlung zumeist auf falschen Versprechungen beruht. Hier herrscht eine Art Klosterleben vor, mit den gotischen Ritualen einer Benediktinerabtei, mit seltsamen theologischen Forderungen nach Anerkennung dieser noblen Arbeit und ihrer wesenhaften Selbstlosigkeit. Die Rädchen im Getriebe sind überglücklich, die Lehrlinge ihrer Meister*innen zu mimen, ohne eins und eins zusammenzuzählen und zu kapieren, dass neun Zehntel von uns vier Kurse pro Semester unterrichten werden, um die Gehaltsschecks jenes einen Zehntels aufzufetten, das die Fiktion aufrechterhält, wir alle könnten dieses eine Zehntel sein. Selbstverständlich werde Ich der Star sein; Ich werde eine Professur auf Lebenszeit in einer großen Stadt bekommen und in ein eben gentrifiziertes Wohnviertel umziehen.

Schließlich interpretieren wir die 11. Feuerbachthese von Marx: "Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt darauf an, sie zu verändern." Bestenfalls lernen wir wir die phönixhafte Fähigkeit, auf die absoluten Grenzen der Kritik zu stoßen und daran zugrunde zu gehen, nur um erneut mit den scheinbar unausrottbaren Wurzeln beginnen zu müssen. Bewundernswert erscheint uns der erste Teil dieser Performance: Sie leuchtet unseren Weg. Wir aber wollen die Werkzeuge, um jenen Punkt selbstmörderischen Denkens zu durchbrechen, seinen Angelpunkt in der Praxis.

Gerade die Leute, die "Kritik" üben, sind auch am empfänglichsten für Zynismus. Wenn aber Zynismus einfach nur die Kehrseite von Enthusiasmus ist, dann verbergen sich hinter allen frustrierten linken Akademiker*innen latente Radikale. Schulterzucken, ausdruckslose Gesichter, betretenes Sich-Winden bei Diskussionen darum, dass die USA zwischen 2003 und 2006 im Irak eine Million Menschen ermordet haben, dass den ärmsten amerikanischen Bürger*innen ihr letzter Cent abgepresst und in die Bankindustrie eingespeist wird, dass die Meeresspiegel ansteigen und Milliarden Menschen sterben werden und dass wir nichts dagegen tun können - diese Unbehagen verursachende Haltung resultiert aus dem Gefühl der Zerrissenheit zwischen dem "Ist" und dem "Sollte" des gegenwärtigen linken Denkens. Man spürt, dass es keine Alternative gibt, und dass andererseits eine andere Welt doch möglich ist.

Wir wollen nicht so bockig sein. Die Synthese dieser Positionen liegt direkt vor uns: Eine andere Welt ist nicht möglich; sie ist notwendig. Der Soll- und das Ist-Zustand sind eins. Der Kollaps der globalen Ökonomie ereignet sich hier und jetzt.


II

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Die Universität hat keine eigene Geschichte; ihre Geschichte ist die Geschichte des Kapitals. Ihre wesentliche Funktion ist die Reproduktion des Verhältnisses von Kapital und Arbeit. Obwohl sie kein richtiges Unternehmen ist, das gekauft und verkauft werden kann, das Gewinne an seine Investor*innen ausschüttet, leistet die öffentliche Universität diese Aufgabe nichtsdestotrotz so effizient wie möglich, indem sie sich der Unternehmensform ihrer Komplizen immer mehr angleicht. Wir erleben gerade die Endphase dieses Prozesses, in dem die Fassade der Bildungsinstitution der unternehmerischen Rationalisierung weicht. Selbst im goldenen Zeitalter des Kapitalismus, das auf den Zweiten Weltkrieg folgte und bis in die späten 1960er Jahre andauerte, war die liberale Universität bereits dem Kapital untergeordnet. Auf dem Höhepunkt der öffentlichen Finanzierung des Hochschulwesens in den 1950er Jahren erfolgte bereits die die Umgestaltung der Universität hin zu einer Produktion von Technokrat*innen mit den notwendigen Sachkenntnissen zur Bezwingung des "Kommunismus" und zur Aufrechterhaltung der US-Hegemonie. Ihre Aufgabe während des Kalten Krieges war die Legitimation der liberalen Demokratie und die Reproduktion einer imaginären Gesellschaft freier und gleicher Bürger - und zwar aus einem einfachen Grund: Niemand war frei und gleich.

Wenn jedoch diese ideologische Funktion der öffentlichen Universität nach dem Zweiten Weltkrieg zumindest ausreichend finanziert wurde, dann veränderte sich diese Situation in den 1960er Jahren auf unumkehrbare Weise, und kein wie auch immer gearteter sozialdemokratischer Stepp wird die tote Welt des Nachkriegbooms wieder herbeiführen können. Zwischen 1965 und 1980 begannen die Profitraten von Unternehmen zuerst in den USA und dann im Rest der industrialisierten Welt zu sinken. Wie sich herausstellte, konnte der Kapitalismus das gute Leben, das er ermöglichte, nicht aufrecht erhalten. Für das Kapital erscheint der Überfluss als Überproduktion, die Befreiung von der Arbeit als Arbeitslosigkeit. Anfang der 1970er Jahre trat der Kapitalismus in eine Phase endgültigen Abschwungs ein, im Zuge derer sich die Normalarbeit in Gelegenheitsarbeit verwandelte und die Löhne der Arbeiter*innenschaft stagnierten, während diejenigen an der Spitze zeitweilig für ihre undurchsichtige finanzielle Totenbeschwörung belohnt wurden, was sich mittlerweile längst als unhaltbar erwiesen hat.

Für die öffentliche Bildung erwies dieser lang anhaltende Abschwung als Verringerung von Steuereinnahmen, und zwar sowohl aufgrund abnehmender ökonomischer Wachstumsraten wie aufgrund der Bevorzugung von Steuererleichterungen für angeschlagene Unternehmen. Diese Plünderung der öffentlichen Mittel traf Kalifornien und den Rest der Nation in den 1970er Jahren. Jeder weitere Konjunkturabschwung trifft sie aufs Neue. Obwohl sie dem Markt nicht direkt verpflichtet ist, werden die Universität und ihre Folgeerscheinungen der gleichen Kostensenkungslogik unterworfen wie alle anderen Industriezweige: Rückläufige Steuereinnahmen haben die Gelegenheitsarbeit unvermeidbar werden lassen. Professor*innen, die in Ruhestand gehen, machen nicht Anstellungen auf Lebenszeit Platz, sondern prekär beschäftigten Assistent*innen, Gehilf*innen und Lektor*innen, die dieselbe Arbeit für viel weniger Geld leisten. Die Erhöhung der Studiengebühren kompensiert die Kürzungen, während sich die Arbeitsplätze, für die die Studierenden bezahlen, um eine Ausbildung zu bekommen, in Luft auflösen.

Inmitten der langen und sich hinziehenden gegenwärtigen Krise wünschen sich viele auf der Linken das goldene Zeitalter des öffentlichen Bildungswesens wieder herbei. In ihrer Naivität stellen sie sich vor, dass die Krise der Gegenwart eine Gelegenheit dafür ist, die Rückkehr der Vergangenheit zu fordern. Aber die Sozialprogramme, die auf hohen Gewinnraten und lebhaftem Wirtschaftswachstum beruht haben, sind unweigerlich verloren. Wir dürfen nicht der Versuchung erliegen, vergeblich nach dem Unwiederbringlichen zu greifen, während wir die offensichtliche Tatsache ignorieren, dass es in einer kapitalistischen Gesellschaft keine autonome "öffentliche Universität" geben kann. Die Universität ist der realen Krise des Kapitalismus unterworfen und das Kapital braucht längst keine liberalen Bildungsprogramme mehr. Die Funktion der Universität war seit jeher die Reproduktion der Arbeiter*innenklasse durch die Ausbildung zukünftiger Arbeiter*innen, und zwar entsprechend den sich wandelnden Anforderungen des Kapitals. Die Krise der Universität heute ist die Krise der Reproduktion der Arbeiter*innenklasse, die Krise einer Periode, in der uns das Kapital nicht länger als Arbeiter*innen braucht.

Wir können die Universität nicht von den Markterfordernissen befreien, indem wir die Wiederkehr des öffentlichen Bildungssystems fordern. Wir erleben das Ende eben jener Marktlogik, auf die sich das System gründet. Die einzige Autonomie, die wir zu erreichen hoffen können, existiert jenseits des Kapitalismus.

Für unseren Kampf bedeutet das, dass wir nicht zurück können. Die früheren Kämpfe von Studierenden sind die Relikte einer niedergegangenen Welt. In den 1960er Jahren, als der Boom der Nachkriegszeit abzuebben begann, haben Radikale innerhalb der Grenzen der Universität verstanden, dass eine andere Welt möglich war. Studierende, die vom technokratischen Management genug hatten, die die Ketten einer konformistischen Gesellschaft aufbrechen wollten und in einem Zeitalter der Fülle entfremdete Arbeit ablehnten, weil sie überflüssig geworden war, versuchten sich mit den radikalen Lagern der Arbeiter*innenklasse zusammenzutun. Aber ihre Weise der Radikalisierung, die sich zu sehr der ökonomischen Logik des Kapitalismus verschrieb, verhinderte die Festigung dieses Zusammenschlusses. Da sich ihr Widerstand gegen den Vietnamkrieg vor allem in einer Kritik am Kapitalismus als kolonialer Kriegsmaschine äußerte, aber die Ausbeutung durch binnenländische Arbeit nicht ausreichend in den Blick nahm, war die Abspaltung der Studierenden von der Arbeiter*innenklasse, die mit anderen Problemen beschäftigt war, ein leichtes Unterfangen. Mit dem Aufkommen des Nachkriegsbooms wurde die Universität nicht im gleichen Maß unter das Kapital subsumiert wie jetzt und auch die Proletarisierung der Studierenden durch Schulden und einen verwüsteten Arbeitsmarkt vollzog sich nicht im selben Maß.

Deshalb ist unser Kampf grundlegend anders. Die Armut des studentischen Lebens ist ausweglos: Der versprochene Ausstieg bleibt aus. Wenn die ökonomische Krise in den 1970er Jahren aufkam, um das Rückgrat der politischen Krise der 1960er Jahre zu brechen, dann verweist die Tatsache, dass die ökonomische Krise heute dem kommenden politischen Aufstand vorangeht darauf, dass wir schlussendlich die Vereinnahmung und Neutralisierung jener vergangenen Kämpfe ablösen können. Es wird keine Rückkehr zum Normalzustand geben.


III

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Wir wollen die Kämpfe an den Universitäten, bis zum Äußersten treiben.

Obwohl wir die Privatisierung der Universität und ihrer autoritäres System der Lenkung ablehnen, streben wir nicht nach strukturellen Reformen. Wir fordern keine freie Uni, sondern eine freie Gesellschaft. Eine freie Universität inmitten einer kapitalistischen Gesellschaft ist wie ein Lesesaal in einem Gefängnis; sie dient lediglich der Ablenkung vom tagtäglichen Elend. Stattdessen versuchen wir, die Wut der enteigneten Studierenden und Arbeiter*innen in eine Kriegserklärung einmünden zu lassen.

Wir müssen einen Anfang machen, indem wir verhindern, dass die Universität funktioniert. Wir müssen den normalen Fluss von Körpern und Dingen unterbrechen, und sowohl die Arbeit als auch die Unterrichtsstunden zum Stillstand bringen. Wir werden blockieren, besetzen und uns nehmen, was uns gehört. Anstatt solche Betriebsstörungen als Hindernisse für Dialog und gegenseitiges Verständnis zu betrachten, erkennen wir sie als das, was wir zu sagen haben und wie wir verstanden werden wollen. Dies ist die einzig sinnvolle Haltung, die es eingenommen werden kann, sobald Krisen die gegenläufigen Interessen, auf denen unsere Gesellschaft fußt, bloßlegen. Rufe nach Einheit sind völlig leer. Es gibt keine gemeinsame Basis zwischen denen, die den Status quo aufrecht erhalten wollen und denjenigen, die ihn zu zerstören versuchen.

Der universitäre Kampf ist einer unter vielen, ein Bereich, in dem ein neuer Zyklus von Verweigerung und Aufstand begonnen hat - an den Arbeitsplätzen, in den Wohngegenden und in den Slums. All unsere Zukunftsperspektiven sind miteinander verknüpft, und darum wird sich unsere Bewegung mit jenen anderen zusammentun müssen; sie wird die Mauern der Universitätsgelände durchbrechen und auf die Straßen überschwappen müssen. In den letzten Wochen haben die Lehrenden, die an öffentlichen Schulen in der Bay Area[3] unterrichten, die Beschäftigten des Bay Aera Rapid Transit und die Erwerbsarbeitslosen mit Demonstrationen und Streiks gedroht. Jede dieser Bewegungen antwortet auf verschiedene Facetten eines neuerlich erstarkten Angriffs des Kapitalismus auf die Arbeiter*innenklasse in einem Moment der Krise. Für sich genommen, erscheinen all diese Antworten klein, kurzsichtig und ohne Hoffnung auf Erfolg. Zusammen hingegen verweisen sie auf die Möglichkeit einer umfassenden Verweigerung und eines weitverbreiteten Widerstands. Unsere Aufgabe ist es, auf die gemeinsamen Bedingungen hinzuweisen, die - wie ein verborgenes Reservoir - in alle Kämpfe einfließen.

Wir haben diesen Aufschwung in der jüngeren Vergangenheit erlebt: Eine Rebellion, die von den Klassenzimmern ihren Ausgang nimmt und nach Außen ausstrahlt, um die gesamte Gesellschaft zu erfassen. Vor nur zwei Jahren hat die Anti-CPE-Bewegung[4] in Frankreich im Kampf gegen ein neues Gesetz, das den Arbeitgeber*innen ermöglichte junge Arbeitnehmer*innen grundlos zu entlassen, eine riesige Zahl von Menschen auf die Straßen gebracht. Schüler*innen und Studierende, Lehrende, Eltern, die breite Masse der Gewerkschaftsmitglieder sowie erwerbsarbeitslose Jugendliche aus den Banlieues fanden sich gemeinsam auf derselben Seite der Barrikaden. (Diese Solidarität war indessen oft sehr zerbrechlich. Der Aufruhr von jugendlichen Migrant*innen am Stadtrand und Studierenden in den Stadtzentren floss niemals zusammen und von Zeit zu Zeit kam es zu Spannungen zwischen diesen beiden Gruppen.) Die französischen Studierenden durchschauten die Illusion der Universität als Ort der Zuflucht und der Aufklärung und begriffen, dass sie dort lediglich eine Arbeitsausbildung erhielten. Sie gingen als Arbeiter*innen auf die Straße und protestierten gegen ihre prekäre Zukunft. Ihre Haltung ließ die Trennung zwischen Schule und Arbeitsplatz einstürzen und löste umgehend die Unterstützung vieler Lohnarbeitenden und erwerbsarbeitsloser Menschen in Form einer proletarischen Massenverweigerung aus.

Die Entwicklung der Bewegung ließ eine wachsende Spannung zwischen Revolution und Reform manifest werden. Ihre Form war radikaler als ihr Inhalt. Während sich die Rhetorik der studentischen Anführer*innen lediglich auf eine Rückkehr zum Status quo beschränkte, machten die Aktivitäten der Jugend - Krawalle, umgestürzte und in Brand gesetzte Autos, Straßen- und Eisenbahnblockaden, Besetzungswellen, die Schulen und Universitäten lahm legten - das Ausmaß der Enttäuschung und des Zorns dieser neuen Generation deutlich. Trotz alledem zerfiel die Bewegung rasch, nachdem die Regierung das CPE-Gesetz schließlich fallen gelassen wurde. Während der radikalste Teil der Bewegung die Ausweitung der Rebellion zu einer allgemeinen Revolte gegen den Kapitalismus anstrebte, konnte dafür keine wesentliche Unterstützung gewonnen werden; die Demonstrationen, Besetzungen und Blockaden wurden immer weniger und blieben bald völlig aus. Letztlich war die Bewegung nicht zur Überwindung der Grenzen des Reformismus in der Lage.

Der griechische Aufstand vom Dezember 2008 brach viele jener Beschränkungen auf und markierte den Anfang eines neuen Klassenkampfzyklus. Ausgelöst von Studierenden in Reaktion auf die Ermordung eines Athener Jugendlichen durch die Polizei, bestand der Aufstand aus wochenlangen Unruhen, Plünderungen und Besetzungen von Universitäten, Gewerkschaftsbüros sowie Fernsehstationen. Ganze Finanz- und Einkaufsviertel brannten und was der Bewegung an Anzahl fehlte, machte sie durch ihre geographischen Breite wett; sie verbreitete sich von Stadt zu Stadt, um schließlich ganz Griechenland zu umfassen. Wie in Frankreich war auch dies ein Aufstand der Jugend, für die die ökonomische Krise für die völlige Verneinung der Zukunft stand. Die Protagonist*innen der Bewegung waren Studierende, prekär Beschäftigte und Migrant*innen; diese erreichten ein Niveau an Einheit, das die fragilen Solidaritäten der Anti-CPE-Bewegung bei Weitem übertraf.

Genauso bezeichnend war, dass sie fast keine Forderungen stellten. Obwohl selbstverständlich einige Protestierende das Polizeisystem reformieren oder bestimmte Regierungsprogramme kritisieren wollten, verlangten sie im Allgemeinen überhaupt nichts von der Regierung, der Universität, den Arbeitsstätten oder von der Polizei. Nicht, weil sie dies für die bessere Strategie hielten, sondern weil sie nichts wollten, was ihnen auch nur eine dieser Institutionen bieten konnte. Hier waren Inhalt und Form in Einklang. Während sich die optimistischen Slogans, die auf allen französischen Demonstrationen auftauchten, an den Bildern von brennenden Autos und Glasscherben brachen, war die Randale in Griechenland das naheliegende Mittel, um einen Anfang zu machen mit der Zerstörung eines ganzen politischen und ökonomischen Systems.

Letztlich waren es dieselben Dynamiken, die den Aufstand hervorgebrachten und die seine Grenze festlegten. Möglich gemacht wurde der Aufstand durch eine ansehnliche radikale Infrastruktur in städtischen Gebieten, insbesondere im Stadtviertel Exarchia[5] in Athen. Die besetzten Häuser, Bars, Cafés und Sozialzentren, die von Studierenden und migrantischen Jugendlichen frequentiert werden, haben das Milieu entstehen lassen, aus dem dieser Aufstand hervorging. Allerdings war dieses Milieu den meisten Lohnabhängigen mittleren Alters fremd; sie betrachteten den Kampf nicht als ihren. Obwohl sich viele mit der aufständischen Jugend solidarisierten, nahmen sie diese als eine Bewegung war, die nach Zugang verlangte - das heißt, als eine Bewegung aus jenem Teilbereich des Proletariats, das einen Zugang zum Arbeitsmarkt begehrte, aber formell nicht in Vollzeitarbeit beschäftigt war. Der Aufstand, stark verankert in den Schulen und in den migrantischen Vororten, griff nicht auf die Arbeitsstätten über.

Unsere Aufgabe in der gegenwärtigen Auseinandersetzung wird es also sein, den Widerspruch zwischen der Form und dem Inhalt der Proteste deutlich zu machen, und die Bedingungen für die Überwindung reformistischer Forderungen sowie für die Durchsetzung eines wirklich kommunistischen Inhalts zu schaffen. Ebenso wie die Gewerkschaften und die Studierenden- und Fakultätsgruppen ihre verschiedenen "Themen" forcieren, müssen wir die Spannung solange erhöhen, bis klar wird, dass wir etwas ganz anderes wollen. Wir müssen die Unstimmigkeit der Forderungen nach Demokratisierung oder Transparenz fortwährend bloßstellen. Was nützt das Recht, zu erkennen, dass die Dinge untolerierbar sind? Was nützt es uns, jene zu wählen, die uns dauernd verarschen? Wir müssen die Kultur des Studiaktivismus mit seinen moralistischen Mantras von Gewaltlosigkeit und seiner Fixierung auf Einzelursachen hinter uns lassen. Der einzige Erfolg, mit dem wir uns zufriedengeben können, ist die Beseitigung der kapitalistischen Produktionsweise, der sicheren Verelendung und des Todes, den diese für das 21. Jahrhundert verheißt. Alle unsere Handlungen müssen uns dabei der Vergemeinschaftung näher bringen: das heißt, die Umgestaltung der Gesellschaft entsprechend einer Logik von freiem Geben und Nehmen sowie die sofortige Abschaffung des Lohns, der Wertform, des Zwangs zur Arbeit und des Tausches.

Besetzung wird eine entscheidende Taktik unseres Kampfes sein, aber wir müssen der Versuchung widerstehen, sie in einer reformistischen Weise einzusetzen. Die unterschiedlichen strategischen Verwendungen von Besetzung wurden im vergangenen Januar deutlich, als Studierende ein Gebäude an der New School[6] in New York besetzten. Eine Gruppe von Freund*innen, zumeist Graduierte, entschlossen sich das student center zu übernehmen und dieses den Studierenden und der Öffentlichkeit als Freiraum zugänglich zu machen. Bald schlossen sich andere dieser Gruppe an, aber viele von ihnen zogen es vor, die Aktion als Hebel zur Durchsetzung von Reformen, insbesondere zur Absetzung des Universitätsvorsitzenden zu nutzen. Die Unterschiede spitzten sich mit der Ausweitung der Besetzung zu. Während die studentischen Reformer*innen darauf aus waren, das Gebäude mit einem handfesten Zugeständnis seitens der Verwaltung zu verlassen, vermieden andere jegliche Forderung. Sie sahen im Moment der Besetzung eine kurzzeitigen Öffnung im kapitalistischen Raum-Zeit-Gefüge, eine Neuzusammensetzung, die die Konturen einer neuen Gesellschaft skizzierte. Wir stellen uns auf die Seite dieser anti-reformistischen Haltung. Obwohl wir wissen, dass diese Zonen nur teilweise und vorübergehend bestehen, können die Spannungen, die sie zwischen dem Wirklichen und dem Möglichen bloßlegen, den Kampf in eine radikalere Richtung treiben.

Wir beabsichtigen, diese Taktik solange beizubehalten, bis sie verallgemeinert wird. Im Jahr 2001 gaben die ersten argentinischen Piqueteros[7] die Form vor, die der Kampf der Menschen dort annehmen sollte: Straßenblockaden, die die Zirkulation von Gütern von einem Ort zum anderen zum Erliegen brachten. Innerhalb von Monaten breitete sich diese Taktik ohne eine formale Koordination zwischen den Gruppen im ganzen Land aus. Auf dieselbe Weise kann eine Wiederholung die Besetzung als intuitive und unmittelbare Methode der Revolte etablieren, die sowohl innerhalb wie auch außerhalb der Universität aufgegriffen wird. Im vergangenen Jahr haben wir in den USA eine neue Welle von Besetzungen in den Universitäten und in den Arbeitsstätten erlebt: In der New School und der New York University, ebenso wie im Falle der Arbeiter*innen in der Republic Windows Factory in Chicago, die gegen die Schließung ihrer Fabrik kämpften, indem sie diese übernommen haben. Nun sind wir an der Reihe.

Um unsere Ziele zu erreichen, können wir uns nicht auf jene Gruppen verlassen, die sich als unsere Vertreter*innen ausgeben. Wir sind bereit, mit Gewerkschaften und Studierendenorganisationen zusammenzuarbeiten, wenn wir es nützlich finden, aber wir erkennen ihre Autorität nicht an. Wir müssen sofort und für uns selbst handeln, ohne Vermittlung. Wir müssen mit all jenen Gruppen brechen, die versuchen, den Kampf zu beschränken, indem sie uns an die Arbeit oder in die Klassen zurückschicken bzw. uns zu Verhandlungen und Aussöhnungen drängen. Dies war auch in Frankreich der Fall. Die Aufrufe zum Protest gingen eigentlich von den nationalen Schüler*Innen- und Studierendenorganisationen sowie und von einigen Gewerkschaften aus. Als schließlich die repräsentativen Gruppen Ruhe forderten, drängten andere vorwärts. In Griechenland offenbarten die Gewerkschaften ihren konterrevolutionären Charakter, indem sie Streiks absagten und Zurückhaltung verlangten.

Als Alternative dazu, von Vertreter*innen als Herde zusammengehalten zu werden, rufen wir Studierende und Arbeiter*innen zu einer Organisierung über die Berufsgruppen hinweg auf. Wir rufen die Studierenden, die Assistent*innen, die Lehrenden, die Fakultätsbediensteten und die Dienstleistungserbringer*innen sowie die universitäre Belegschaft dazu auf, sich zusammenzusetzen und ihre Situation zu diskutieren. Je mehr wir selbst miteinander zu reden beginnen und unsere gemeinsamen Interessen entdecken, desto schwieriger wird es für die Verwaltung, uns in einem hoffnungslosen Wettbewerb um schwindende Mittel gegeneinander auszuspielen. Die jüngsten Kämpfe an der New York University und an der New School litten unter dem Fehlen dieser festen Bindungen, und wenn wir daraus etwas lernen können, dann das, dass wir dichte Netzwerke der Solidarität aufbauen müssen, die auf der Anerkennung eines gemeinsamen Feindes beruhen. Diese Netzwerke machen uns nicht nur resistent gegen Vereinnahmung und Neutralisierung, sondern begründen auch neue Formen kollektiver Bindungen. Und diese sozialen Bande sind die wirkliche Grundlage unseres Kampfes.

Wir sehen uns auf den Barrikaden.

Research & Destroy, 2009


Anmerkungen

[1] Das Original erschien erstmals unter http://researchanddestroy.wordpess.com; die weitere Diskussion um das kann unter
http://www.revolutionbythebook.akpress.org nachgelesen werden.

[2] Im Original: "Work hard, play hard". Bezieht sich auf eine Management-Losung, die besagt, dass intensives Arbeiten mit einer intensiven Freizeitgestaltung kombiniert werden soll. (Diese und alle folgenden FN sind Anm. d. Übers.)

[3] Zu den Protesten der letzten Monate im öffentlichen Bildungsbereich der USA, speziell in Kalifornien, siehe
http://indymedia.us/en/education .

[4] CPE steht für "Contrat première embauche", was so viel bedeutet wie "Vertrag zur Ersteinstellung".

[5] Universitätsviertel in Athen, dass stark von den antiautoritären Bewegungen geprägt ist.

[6] Siehe dazu auch http://www.newschoolinexile.com.

[7] Bedeutet eigentlich Streikposten, hat sich aber als Synonym für Aktivist*innen der Erwerbsarbeitslosenbewegung in Argentinien durchgesetzt.

Raute

Der kommende Aufstand

Das unsichtbare Komitee: In einer kollektiven Übersetzung aus dem Umfeld der Grundrisse

Vorbemerkung der Redaktion:
Das Buch L'insurrection qui vient [Der kommende Aufstand] wurde im Anschluss an die Krawalle in den Vorstädten vieler französischer Städte 2005 geschrieben und im März 2007 vom Comité invisible [Das unsichtbare Komitee] veröffentlicht. Größere Aufmerksamkeit erlangte es durch die Festnahme der "Tarnac9", einer Gruppe von Menschen, die aus der Stadt aufs Land gezogen waren, und zwar nach Tarnac, einer kleinen Stadt in der Region des Zentralmassivs in Frankreich. Im November 2008 wurden sie beschuldigt, einen TGV-Zug mit sogenannten Hakenkrallen lahm gelegt zu haben (eine Technik, die in Deutschland als Widerstandsaktion gegen AKWs sehr beliebt war), außerdem wurde Julien Coupat, Mitherausgeber der Zeitschrift, beschuldigt, L'insurrection qui vient geschrieben zu haben, was dieser abstritt, obwohl er zugab, ein Bewunderer des Textes zu sein. Schon vor dem Erscheinen der englischen Ausgabe, veröffentlicht im August 2009 unter dem Titel Coming Insurrection, erregte der Text Aufsehen durch eine unautorisierte Buchpräsentation in einer New Yorker Buchhandlung einschließlich Polizeieinsatz - außerdem malte der bekannte konservative Talkmaster Glenn Beck eine Bedrohung durch eine extreme Linke an die Wand, die zu den Waffen rufe. 'insurrection qui vient ist ein in anarchistisch-autonomen Vokabular verfasster und stark von situationistischen Anleihen geprägter Text, der auf Basis einer Analyse der herrschenden Gesellschaft zum organisierten Widerstand gegen diese aufruft - mit dem Ziel, den kommenden Aufstand vorzubereiten. Erste Ansätze für diesen machen die VerfasserInnen in den Revolten der letzten Jahre aus: etwa jener in den Banlieues oder auch der Anti-CPE-Bewegung in Frankreich, den Unruhen in Griechenland sowie dem "Schwarzen Frühling" in Algerien. Wir haben uns zur Übersetzung und zum Abdruck des Vorworts aus der englischen Ausgabe von L'insurrection qui vient entschlossen, um den deutschsprachigen LeserInnen einen ersten Einblick in die Sprache und die Vorschläge des Comité Invisble zu geben. Dieses Vorwort entstand kurz nach den Unruhen in Griechenland im Dezember 2008 - und ist somit auch gegenwartsnäher als der Haupttext selbst. Das Vorwort wurde im Jänner 2009 erstmals veröffentlicht.


Egal von welchem Blickwinkel aus betrachtet, die Gegenwart lässt keinen Ausweg. Und das ist nicht der geringste ihrer Vorzüge. Denen, die vor allem auf der Suche nach Hoffnung sind, entzieht sie jeden sicheren Boden. Jene, die beanspruchen Lösungen zu haben, werden nahezu sofort in Widersprüche verwickelt. Alle sind sich darin einig, dass alles nur noch schlimmer werden kann. "Die Zukunft hat keine Zukunft". Das ist die Weisheit eines Zeitalters, das trotz seines Anscheins von perfekter Normalität den Bewusstseinsgrad der ersten Punks erreicht hat.

Eine Klarstellung

Alle sind sich einig. Die Explosion steht bevor. In den Korridoren der Nationalversammlung wird dies mit ernster und selbstgefälliger Miene ebenso zugestanden, wie es gestern in den Kaffeehäusern weiter verbreitet wurde. Die Berechnung der Risiken bereitet ein gewisses Vergnügen. Wir werden bereits mit einer detaillierten Auflistung der vorbeugenden Maßnahmen zur Sicherung des Territoriums konfrontiert.

Die Neujahrsfeierlichkeiten nehmen eine entscheidende Wende -"Nächstes Jahr wird es keine Austern geben, also genießt sie, solange ihr noch könnt!" Um zu verhindern, dass die traditionelle Unordnung die Feiern zur Gänze verdrängt, entsendet Alliot-Marie (der französische Innenminister) eilends 36.000 Bullen und 16 Hubschrauber - derselbe Clown, der sich während der SchülerInnen-Demonstrationen im Dezember zitternd nach den geringsten Anzeichen für eine griechische Verseuchung umsah, während er vorsorglich den Polizeiapparat in Bereitschaft brachte. Unterhalb des beschwichtigenden Dröhnens können wir den Lärm der Vorbereitungen auf den offenen Krieg täglich deutlicher wahrnehmen. Die kalte und pragmatische Implementierung dieses Krieges, der sich längst nicht mehr damit aufhält, sich als "friedenserhaltende Maßnahme" darzustellen, können wir unmöglich ignorieren.

Die Zeitungen listen die Ursachen für plötzliche Unruhen gewissenhaft auf. Da ist selbstverständlich die Finanzkrise mit ihrer boomenden Arbeitslosigkeit, ihrem Anteil an Hoffnungslosigkeit und Sozialplänen, ihren Skandalen à la Kerviel und Madoff. Da ist der Zusammenbruch des Bildungssystems und seine schwindende Produktion von ArbeiterInnen und BürgerInnen - selbst mit den Kindern der Mittelklasse als Rohmaterial. Da ist die Existenz einer Jugend ohne politische Vertretung, eine Jugend, die zu nichts anderem taugt als zur Zerstörung von Gratisfahrrädern, die ihr die Gesellschaft so gewissenhaft zur Verfügung stellt.

Keines dieser lästigen Sujets sollte unüberwindlich scheinen in einer Zeit, deren vorherrschende Regierungsform gerade im Krisenmanagement besteht. Es sei denn, wir berücksichtigen, dass die Macht nicht bloß einer weiteren Krise gegenübersteht noch auch einer Serie von mehr oder weniger chronischen Problemen, von mehr oder weniger erwarteten Unruhen, sondern dass sie mit einer einzigartigen Gefahr konfrontiert ist: dass nämlich eine Form des Konflikts und Positionen entwickelt wurden, die eindeutig nicht kontrollierbar sind.

Diejenigen, die diese Gefahr überall ausmachen, müssen sich mehr Fragen stellen als jene unbedeutenden Fragen nach den Gründen von oder Wahrscheinlichkeiten für unvermeidliche Bewegungen und Auseinandersetzungen. Sie müssen sich beispielsweise fragen, wie das griechische Chaos in der französischen Situation einen Nachhall finden kann. Eine Erhebung hier kann nicht die einfache Umsetzung dessen sein, was dort drüben geschah. Der globale Bürgerkrieg hat immer noch seine lokalen Besonderheiten. Eine Situation allgemeinen Aufruhrs würde in Frankreich die Explosion eines anderen Sinns bewirken.

Die griechischen AufrührerInnen stehen einem schwachen Staat gegenüber, während sie aus ihrer starken Popularität einen Vorteil ziehen können. Wir dürfen nicht vergessen, dass sich die Demokratie selbst auf der Grundlage einer Praxis politischer Gewalt erst vor dreißig Jahren gegen das Obristenregime wieder eingesetzt hat. Diese Gewalt, deren Erinnerung noch nicht in weite Ferne gerückt ist, scheint für die meisten GriechInnen weiterhin unmittelbar gegeben zu sein. Selbst die AnführerInnen der sozialistischen Partei haben in ihrer Jugend ein oder zwei Molotowcocktails geworfen. Doch ist die klassische Politik mit variants ausgestattet, die sehr genau wissen, wie sie diese Praktiken aufnehmen und ihren ideologischen Mist bis ins Herz des Aufruhrs ausweiten können.

Wenn die griechische Schlacht nicht auf der Straße entschieden und niedergeschlagen wurde - die Polizei wurde sichtbar überlistet -, dann deshalb weil ihre Neutralisierung andernorts erreicht wurde. Es gibt nichts, was mehr Leere verbreitet, nichts Fataleres als diese klassischen Politiken mit ihren ausgehöhlten Ritualen, ihrem gedankenlosen Denken, ihrer kleinen geschlossenen Welt.

In Frankreich waren unsere hehrsten sozialistischen BürokratInnen niemals etwas anderes als verschrumpelte Schalen, die die Hallen der Nationalversammlung bevölkern. Alle verschwören sich miteinander, um selbst die geringste Form politischer Intensität zu vernichten. Das heißt, es ist immer möglich, die BürgerIn der bzw. dem Deliquenten gegenüberzustellen, und zwar in einem quasi-linguistischen Verfahren, das mit einer quasi-militärischen Operation einhergeht. Der Aufruhr vom November 2005 ebenso wie in einem anderen Kontext die sozialen Bewegungen im Herbst 2007 haben bereits mehrere Präzedenzfälle geschaffen. Das Bild rechter Studierender in Nanterre, die applaudierten, als die Polizei ihre KommilitonInnen von der Uni verwies, gibt einen flüchtigen Eindruck davon, was in Zukunft bevorsteht.

Es versteht sich von selbst, dass die Bindung der Franzosen und Französinnen an den Staat - der Garant universeller Werte, das letzte Bollwerk gegen die Katastrophe - pathologisch ist und sich kaum lösen lässt. Diese Bindung ist vor allem eine Fiktion, die nicht mehr weiß, wie sie fortgesetzt werden soll. Unsere Gouverneure selbst betrachten diese Bindung zunehmend als nutzlosen Balast, da sie den Konflikt immerhin für das halten, was er ist, nämlich ein militärischer. Sie haben keine Hemmungen, Elite-Antiterroreinheiten einzusetzen, um Aufruhre zu bändigen, oder um eine von ArbeiterInnen besetzte Wiederaufbereitungsanlage zu befreien. Während der Sozialstaat kollabiert, erleben wir das Auftauchen eines brutalen Konflikts zwischen denjenigen, die sich nach Ordnung sehnen, und denen, die das nicht tun. Alles, was die französische Politik zu deaktivieren vermochte, spielt sich gerade frei. Es wird ihr niemals möglich sein, all das zu verarbeiten, was sie verdrängt hat. Auf einer fortgeschrittenen Stufe sozialen Zerfalls können wir darauf zählen, dass die kommende Bewegung den notwendigen nihilistischen Atem finden wird. Das bedeutet nicht, dass sie nicht an andere Grenzen stoßen wird.

Revolutionäre Bewegungen finden nicht über Verseuchung, sondern über Resonanzen ihre Verbreitung. Etwas, das hier konstituiert wird, schwingt mit der Schockwelle mit, die von etwas, das sich anderswo konstituiert hat, ausgesendet wurde. Ein Resonanzkörper schwingt auf eine ihm eigene Weise mit. Ein Aufstand ist nicht vergleichbar mit einer Pest oder einem Waldbrand - ein linearer Prozess, der sich nach einem anfänglichen Zündfunken von einem Ort zum nächsten ausbreitet. Ein Aufstand nimmt eher die Form von Musik an, deren in Raum und Zeit verstreute Brennpunkte, es dennoch schaffen, den Rhythmus ihrer eigenen Vibrationen durchzusetzen, und zusehends an Dichte zu gewinnen. Bis zu dem Punkt, dass eine Rückkehr zum Normalen nicht länger wünschenswert oder vorstellbar ist.

Wenn wir vom Empire sprechen, benennen wir die Machtmechanismen, die präventiv und chirurgisch jedes revolutionäre Werden in einer Situation unterdrücken. In diesem Sinn ist das Empire kein Feind, der uns frontal gegenübersteht. Es ist ein Rhythmus, der sich aufzwingt, eine Weise, die Realität zu dispensieren und zu zerstreuen. Es ist weniger eine Weltordnung als deren traurige, wuchtige und militaristische Auslöschung.

Mit der Partei der Aufständischen meinen wir den Entwurf einer völlig anderen Zusammensetzung, einer anderen Seite der Wirklichkeit, die von Griechenland bis in die französischen Banlieues ihre Konsistenz sucht.

Es ist inzwischen selbstverständlich, dass Krisensituationen viele Gelegenheiten zur Restrukturierung der Herrschaft bieten. Deshalb kann Sarkozy, ohne den Anschein einer allzu großen Lüge zu erwecken, ankündigen, dass die Finanzkrise "das Ende einer Welt" bedeutet, und dass das Jahr 2009 Frankreich in eine neue Ära eintreten sehen wird. Diese Scharade einer Wirtschaftskrise soll eine Neuigkeit sein: Wir sollen glauben, dass wir am Beginn einer neuen Epoche stehen, in der wir alle zusammen gegen Ungleichheit und globale Erwärmung kämpfen werden. Aber für unsere Generation - die in der Krise geboren wurde und nichts als ökonomische, finanzielle, soziale und ökologische Krisen kennt - ist das kaum akzeptabel. Sie werden uns nicht wieder verarschen mit einem weiteren "Jetzt beginnen wir ganz von Neuem" und "Wir müssen nur eine Zeitlang unsere Gürtel enger schnallen". Um die Wahrheit zu sagen, die verheerenden Arbeitslosenzahlen lösen überhaupt kein Gefühl mehr in uns aus. Die Krise ist ein Mittel des Regierens in einer Welt, die scheinbar nur durch das unendliche Management ihres eigenen Kollapses zusammengehalten wird.

In diesem Krieg geht es nicht um unterschiedliche Weisen, die Gesellschaft zu managen, sondern um irreduzible und unversöhnbare Ideen von Glück und ihren Welten. Wir wissen das ebenso wie die MachthaberInnen. Die militanten Überreste, die uns beobachten - immer zahlreicher, immer leichter zu identifizieren - raufen sich die Haare und versuchen, uns in ihre kleinen Schubladen in ihren kleinen Köpfen zu stecken. Sie strecken uns ihre Hände entgegen, um uns besser ersticken zu können - mit ihren Fehlschlägen, ihren Lähmungen und ihren dummen Problematiken. Die Militanten werden - von Wahlen zu "Transitionen" - niemals etwas anderes sein als das, was uns stets ein wenig mehr von der Möglichkeit des Kommunismus abbringt. Glücklicherweise werden wir weder Verrat noch Täuschung länger Platz einräumen.

Die Vergangenheit hat uns viel zu viele schlechte Antworten gegeben, als dass wir nicht sähen, dass die Fehler in den Fragen selbst liegen. Es gibt keine Notwendigkeit zwischen dem Fetischismus der Spontanität und der organisatorischen Kontrolle zu wählen; zwischen dem "Entweder keiner oder alle" der aktivistischen Netzwerke und der Disziplin der Hierarchie; zwischen einer verzweifelten Handlung jetzt und einem verzweifelten Warten auf später; zwischen einem Einklammern dessen, was im Namen eines Paradieses gelebt und erprobt werden soll, eines Paradieses das zusehends als Hölle erscheint, je länger es hinausgezögert wird und dem Herumreiten darauf, dass der Anbau von Karotten ausreicht, um diesen Alptraum zu überwinden.


ORGANISATIONEN SIND HINDERNISSE FÜR UNSERE SELBSTORGANISIERUNG

In Wahrheit gibt es keine Diskrepanz zwischen dem, was wir sind, was wir tun und was wir werden. Organisationen - seien sie politisch oder gewerkschaftlich, faschistisch oder anarchistisch - beginnen immer damit, dass sie diese Aspekte der Existenz praktisch voneinander trennen. So ist es ihnen ein Leichtes, ihren idiotischen Formalismus als einziges Heilmittel gegen diese Trennung zu präsentieren. Organisieren bedeutet nicht, der Schwäche eine Struktur zu verpassen. Organisieren bedeutet vor allem, Bindungen einzugehen - Bindungen, die mitnichten neutral sind - furchterregende Bindungen. Der Grad der Organisation misst sich an der Intensität des - materiellen und geistigen - Teilens.

Materiell das Überleben zu organisieren heißt von nun an, materiell den Angriff zu organisieren. Überall muss eine neue Idee von Kommunismus ausgearbeitet werden. In den Nischen von Bars, in Copy-Shops, in besetzten Häusern, auf Bauernhöfen und in besetzten Gymnasien werden neue KomplizInnenschaften in die Welt gesetzt. Diese wertvollen Einverständniserklärungen dürfen nicht zurückgewiesen werden; sie sind die notwendigen Mittel für die Entwicklung der Kräfte.

Hier liegt die wahre revolutionäre Potentialität der Gegenwart. Die zunehmend häufiger auftretenden Auseinandersetzungen haben diese großartige Qualität: Sie bieten immer eine Gelegenheit für KomplizInnenschaften dieses Typs, manchmal vergänglich, aber manchmal auch untrüglich. Wenn einige tausend Jugendliche den Entschluss zum Angriff auf diese Welt fassen, müsste man so dumm sein wie ein Polizist, um eine finanzielle Spur, einen Anführer oder eine VerräterIn zu suchen.

Zwei Jahrhunderte Kapitalismus und Marktnihilismus haben uns zur extremsten Entfremdung gebracht - von uns selbst, von den anderen, von der Welt. Die Fiktion des Individuums hat sich ebenso rasch zersetzt, wie sie real wurde. Als Kinder der Metropole lassen wir uns auf diese Wette ein: Im schlimmsten Mangel der Existenz, fortwährend unterdrückt, fortwährend wegbeschworen, liegt die Möglichkeit des Kommunismus verborgen.

Wenn alles gesagt und alles getan ist, befinden wir uns mit der gesamten Anthropologie im Krieg; mit der Idee der Menschheit.

Kommunismus muss demzufolge als Voraussetzung und als Experiment verstanden werden. Als Teilen eines Empfindungsvermögens und als Erarbeiten eines Teilens. Als Enthüllung dessen, was gemeinsam ist und als Erzeugung einer Kraft. Kommunismus ist die Matrix eines akribischen und verwegenen Anschlags auf Herrschaft; ein Name für alle Welten und eine Aufforderung zum Widerstand gegen die imperialistische Befriedung, ein Name für alle nicht auf das Reich der Waren reduzierbaren Solidaritäten, für alle Freundschaften, die von den Notwendigkeiten des Krieges ausgehen. Kommunismus. Wir wissen, dass Kommunismus ein Begriff ist, mit dem ein vorsichtiger Umgang nötig ist. Nicht, weil er in der großen Weltenparade aus der Mode gekommen wäre, sondern weil unsere schlimmsten Feinde ihn verwendet haben und immer noch verwenden. Wir bestehen darauf: Bestimmte Wörter sind wie Schlachtfelder. Ihre revolutionäre oder reaktionäre Bedeutung ist ein Sieg, der den Klauen des Kampfes entrissen werden muss.

Die klassische Politik hinter sich zu lassen bedeutet, sich einem Krieg zu stellen, der auch im Bereich der Sprache ausgetragen wird; beziehungsweise in der Art und Weise, wie die Wörter, die Gesten und das Leben unauflöslich miteinander verknüpft sind. Wenn jemand dermaßen große Anstrengungen unternimmt, um einige junge KommunistInnen als TerroristInnen hinter Gitter zu bringen, weil sie angeblich an der Veröffentlichung von Der kommende Aufstand beteiligt waren, dann geht es nicht um ein "gedankliches Verbrechen", sondern vielmehr darum, dass sie möglicherweise eine gewisse Übereinstimmung zwischen Taten und Denken verkörpern. Und das ist etwas, was selten mit Nachsicht behandelt wird.

Die Schuld dieser Leute besteht nicht darin, ein Buch geschrieben zu haben, und auch nicht in einem physischen Angriff auf die sakrosankten Flüsse, die die Metropolen bewässern. Ihre Schuld besteht darin, dass sie diese Flüsse möglicherweise mit der Dichte eines politischen Denkens und einer politischen Position konfrontiert haben. Dass ein Akt Sinn gemacht haben könnte, und zwar einer anderen Konsistenz der Welt entsprechend denn jener des Empires. Anti-Terrorismus nimmt für sich in Anspruch, die mögliche Zukunft einer "kriminellen Vereinigung" zu attackieren. Tatsächlich handelt es sich aber um die Zukunft der Situation. Es handelt sich um die Möglichkeit, dass sich hinter jeder KrämerIn einige schlechte Intentionen verbergen und hinter jedem Gedanken die Tat, nach der dieser schreit. Diese Möglichkeit, zum Ausdruck gebracht durch eine - anonyme, aber einladende, verbreitete und damit unkontrollierbare - politische Idee, die nicht in den Stauraum der freien Meinungsäußerung verbannt werden kann.

Es besteht kaum mehr ein Zweifel darüber, dass es die Jugend ist, die die Macht als erste rigoros herausfordern wird. Die letzten paar Jahre, von den Unruhen im Frühling 2001 in Algerien bis zu jenen im Dezember 2008 in Griechenland, sind diesbezüglich nichts anderes als eine Reihe von Warnsignalen. Diejenigen, die vor dreißig oder vierzig Jahren gegen ihre Eltern revoltierten, werden nicht zögern, dies auf einen Generationenkonflikt zu reduzieren, wenn nicht sogar auf ein vorhersehbares Symptom der Adoleszenz.

Die einzige Zukunft einer "Generation" ist es, diejenige zu sein, die vorangeht auf einer Strecke, die unvermeidlich am Friedhof endet.

Die Tradition würde danach verlangen, dass alles mit einer "sozialen Bewegung" beginnt. Besonders in einem Moment, in dem die noch immer mit ihrer Selbstauflösung beschäftigte Linke heuchlerisch versucht, ihre Glaubwürdigkeit auf den Straßen zurückzuerlangen. Nur dass sie auf den Straßen längst kein Monopol mehr hat. Seht nur, wie sich mit jeder neuen Mobilisierung von OberschülerInnen - ebenso wie mit allem anderen, was die Linke zu unterstützen wagt - eine stets größer werdende Kluft zwischen ihren jammernden Forderungen und dem Grad der Gewalt und Entschlossenheit der Bewegung auftut.


AUS DIESER KLUFT MÜSSEN WIR EINEN SCHÜTZENGRABEN MACHEN

Wenn wir die Abfolge der Bewegungen betrachten, von denen eine auf die andere folgt, ohne irgendetwas Sichtbares zu hinterlassen, muss dennoch eingestanden werden, dass irgendetwas bestehen bleibt. Ein staubiger Pfad verbindet, was sich im jeweiligen Ereignis nicht hat einfangen lassen von der absurden Zeitlichkeit eines zurückgenommenen neuen Gesetzes oder irgendeinem anderen Vorwand. Stoßweise und mit einem eigenen Rhythmus können wir beobachten, wie etwas, das einer Kraft gleicht, Gestalt annimmt. Eine Kraft, die nicht ihrer Zeit dient, sondern ihre eigene Zeit auferlegt.

Es geht nicht mehr darum, den Zusammenbruch vorherzusagen oder die Möglichkeiten von Freude zu schildern. Es ist nicht entscheidend, ob es früher oder später eintritt, jetzt geht es darum, sich darauf vorzubereiten. Wir müssen kein Modell dafür erarbeiten, was ein Aufstand sein sollte, sondern die Möglichkeit einer Erhebung als das verstehen, was diese immer hätte sein sollen: Ein lebenswichtiger Impuls der Jugend ebenso wie eine populäre Weisheit. Wenn jemand weiß, welche Bewegung vollzogen werden muss, dann ist das Fehlen eines Modells kein Hindernis, sondern eine Gelegenheit. Für die Aufständischen ist dies der einzige Raum, der das Wesentliche zu garantieren vermag, nämlich das Bewahren der Initiative. Was noch hervorgebracht und - wie ein Feuer - gepflegt werden muss, ist eine gewisse Vorhersage, ein gewisses taktisches Fieber, das sich, wenn es erst einmal auftritt, selbst als Determinante enthüllt - als ständige Quelle der Determination. Bestimmte Fragen, die gestern noch grotesk oder veraltet angemutet hätten, wurden neuerlich aufgeworfen: Sie müssen angegangen werden, nicht um endgültige Antwort zu finden, sondern um sie am Leben zu erhalten. Diese Fragen erneut aufgeworfen zu haben, ist nicht das geringste Verdienst der griechischen Erhebung.

Wie wird eine Situation verallgemeinerten Aufruhrs zu einer Situation des Aufstands? Was tun, wenn die Straßen erst eingenommen sind und die Polizei dort lautstark bezwungen wurde? Verdienen es die Parlamente noch, angegriffen zu werden? Was ist die praktische Bedeutung der lokalen Absetzung der Macht? Wie entscheiden? Wie existieren?

WIE EINANDER FINDEN?

Jänner 2009


Es handelt sich bei diesem Text um das Vorwort zum Buch The Coming Insurrection, das für die englische Übersetzung des Buches L'insurrection qui vient angefertigt wurde. Sowohl die französische wie auch die englische Version des Textes sind als PDF-Dateien im Netz zu finden (für die englische Version: http://deletetheborder.org/node/2216 ; für die französische Version: http://www.lafabrique.fr/IMG/pdf_Insurrection.pdf ).


Raute

Judith Revel

Vom Leben in prekären Milieus

(oder: Wie mit dem nackten Leben abschließen?)

Übersetzt von Birgit Mennel

Von Ende Oktober bis Anfang November 2005 waren viele von uns zögerlich angesichts der Frage, wie die Ereignisse in den Banlieues politisch zu lesen waren. Nicht dass die Revolte an sich eine Überraschung gewesen wäre - was das betrifft, stellte sich vielmehr die Frage, wie es kam, dass sie sich nicht schon viel eher entfesselt hatte. Auch war die dramatische Zuspitzung von Provokationen, die der Auslöser für die Geschehnisse war, keineswegs neuartig: In der Banlieue ist all das traurigerweise die Regel, leider; und man musste nicht bis 2005 warten, bis die Willkür, die uniformierte Gewalt und die täglichen Erniedrigungen mit Steinewerfereien, mitunter gewalttätigen Zusammenstößen und brennenden Autos beantwortet wurden. Nein, die eigentliche Überraschung bestand vielmehr darin, dass eine kollektive und tatkräftige Subjektivität in Erscheinung trat, die von erstaunlicher Dauer (drei Wochen) und Ausdehnung (in den "Quartiers", der Pariser Banlieue, aber auch der Provinz) war und wenn nicht eine Organisierung, so doch zumindest eine strategische Entfaltung von offenkundiger Effizienz erkennen ließ.

Es galt daher drei Fallgruben zu vermeiden, und es bleibt ungewiss, ob es uns immer gelungen ist, den Abstand zu den interpretatorischen Verführungen zu wahren, die sie anzubieten behaupten.

Die erste dieser Fallgruben bestand darin, in jenen drei Wochen der Revolte nichts weiter zu sehen als den verdichteten Ausdruck einer Wildheit, die - je nach Diskurs - auf unterschiedliche Faktoren zurückgeführt wurde: auf ein Erziehungsdefizit, das die ErzeugerInnen ihrerseits unter Anklage stellte, indem ihnen die Schuld an einer beschämenden Abdankung zugewiesen wurde sowie an einer Reihe von Pathologien, die das Soziale im Klinischen zu verorten erlaubten (in einem erstaunlichen Revival von lombrosianischen Theoretisierungen); oder auch auf einen äußerst allgemein formulierten und sehr bequem veranschlagten "Mangel an Ordnung", dessen Behauptung auf eine Verschärfung der Disziplinarisierungsprozesse an den für sie vorgesehenen Orten (d. h. insbesondere der Schule) hinauslief sowie auf das Eingreifen der Disziplinarinstitution schlechthin (der Armee) überall dort, wo sich die Schule als nicht ausreichend disziplinierend erwies. Wir werden hier nicht die - zahlreichen - AutorInnen zitieren, deren Vorschläge an die Eselskappen erinnerten, die man ungelehrigen oder unfügsamen SchülerInnen aufsetzte. Beschränken wir uns auf den Hinweis, dass sich besagte Vorschläge auf der Rechten wie auch auf der Linken auf eine gekonnte - und leider effiziente - Abmischung aus überkommener repressiver Rhetorik und pointierten pseudosoziologischen Behauptungen stützte, auf eine subtile Vermengung von moralischen Betrachtungen (v. a. über den Mangel an Werten bei den "Wildlingen") und einer holprigen politischen Diagnostik, die einen billigen "kulturellen Psychologismus" bemühte (die an der Bilingualität der Zuwandererkinder scheiternde Republik, die durch die Polygamie unmöglich gemachte Integration etc.).

Die zweite, weniger karikatureske Fallgrube bestand darin, ausländische Interpretationsmodelle zu importieren, um über die französischen Ereignisse Aufschluss zu geben. In bestimmten Fällen erlaubte es paradoxerweise eben diese Anleihe, die französische "Besonderheit" klarer auszuleuchten.[1] Die entsprechenden Modelle kamen in drei Varianten zur Anwendung: in einer kommunitaristischen Lesart (der sich die große Mehrheit der französischen Schriftpresse anvertraute und die beinahe ausschließlich die Lesart der ausländischen Medien war); in einer Analyse, die in Begriffen ethnischer Zugehörigkeit verfuhr (mithin einer Variante der ersteren Lesart, die die "kommunitäre Tatsache", ob kulturell, politisch oder religiös definiert, auf die Idee einer gemeinsamen "Abstammung" bezog, bei allen Interpretationsdifferenzen, die diese ihrerseits erfahren kann: als geographische, biologische, psychologische etc. "Abstammung"); und schließlich in einer Lektüre, die sich an den existierenden "Integrationsmodellen" orientierte, die in verschiedenen Nationen zur Anwendung kamen und Frankreich Anlass gaben, sich auf der Skala der möglichen öffentlichen Politiken dem einen Extrem zugerechnet zu sehen, während Großbritannien das entgegengesetzte Extrem repräsentierte.

Die dritte Fallgrube schließlich verband sich mit einer gegenläufigen Interpretationsrichtung. Man trug im Gegenzug einen bruchlosen Optimismus zur Schau und verschrieb sich in einem Aufwasch der Verteidigung des Spontaneistischen, einer erstaunlich unhistorischen Lesart der Geschichte sowie einer Ästhetisierung der Revolte - und zwar egal welcher Revolte -, die literarisch genug sein mag, um sympathisch zu wirken, die aber nicht ausreichend politisch ist, um wirklich zu überzeugen. Es wurde in wirrem Durcheinander von einer neuen "Pariser Kommune", von der französischen Variante der Aufstände in Los Angeles oder (die Steinewerfereien als wahren "Krieg der Steine" auffassend) von einer Intifada der Banlieues gesprochen - kurz, von einer handlungsmächtigen und denkenden Multitude, die sich in vollem Umfang in der konstituierenden Geste ihrer Revolte entfaltete. Im Oktober und November 2005 aber war das alles nicht mehr als eine Hypothese: Man konnte zwar Wetten abschließen - und der Wetteinsatz war von enormer Bedeutung, dessen waren wir uns alle bewusst -, aber wir wussten nicht, was dabei herauskommen würde. In einem der ersten Bücher, die unmittelbar nach den Ereignissen erschienen[2] - einer Arbeit, der man rückblickend zu ihrer Klugheit und Vorsicht gratulieren muss -, beschränkte sich der italienische Journalist Guido Caldiron darauf, eine Reihe von Hypothesen über 2005 zu formulieren, ausgehend von der Analyse der sporadischen Banlieue-Explosionen der vergangenen 15 Jahre sowie mit Blick auf das, wozu diese "Tour de France in 80 Konfrontationen" Anlass gab - und zwar sowohl unter dem Gesichtspunkt der Verschärfung von Kontroll- und Repressionsdispositiven als auch unter dem des Auftauchens mehr oder weniger selbstorganisierter "widerständiger Subjektivitäten". Tatsache ist, dass einige Wochen verstreichen mussten, ehe nicht nur verstehbar wurde, worin keines der erwähnten Interpretationsmodelle funktionierte - das der analphabetischen, gewalttätigen und unmoralischen Wilden, das des religiösen Kommunitarismus bzw. des ethnisch-kulturellen Identitarismus und das der politischen Modelle einer Integration der MigrantInnen in den ungespaltenen Körper der Republik -, sondern außerdem klar wurde, in welchem Ausmaß die Geschehnisse wirklich neu waren und eine subjektive und politische, widerständige und konstituierende Macht in sich bargen, die auch uns dazu zwang, eine ganze Reihe von Elementen unserer eigenen politischen Grammatik zu reformulieren. Diese Wochen waren entscheidend, denn sie ermöglichten eine Art von "doppelter Verifizierung" im politischen Sinn: durch die unmittelbare Wortergreifung seitens der betroffenen Subjekte selbst (und zwar in völlig neuen Modalitäten, auf die wir noch zurückkommen werden) sowie durch eine Reihe von politischen Verschiebungen, die auch Verschiebungen bezüglich der Konfliktstrategie bedeuteten. Mit diesen beiden Aspekten wollen wir uns nun beschäftigen.


Die Mystifizierung der Unproduktivität

Während der Tage der Revolte war im Diskurs der öffentlichen Machtinstanzen - und weiter gefasst im Diskurs einer sehr großen Mehrheit der Medien - die Weigerung wirksam, dem, was in den Banlieues vor sich ging, auch nur den geringsten politischen Wert zuzusprechen. Ausgangspunkt dafür war ein doppeltes Postulat, das allgegenwärtig war, zugleich jedoch nie offen gelegt wurde: die Abwesenheit von Sprache und die zunehmende Entropisierung sozialer Verhaltensweisen. Dieses doppelte Postulat wurde seinerseits auf der Basis einer selbstverständlichen Überzeugung errichtet: Einerseits muss, wer die Sprache der politischen Repräsentation nicht spricht, aphasisch sein (oder in einer radikaleren Variante: Wer die Sprache der politischen Repräsentation nicht spricht, ist notwendigerweise in-fans, infantil, und zwar mit dem ganzen Beigeschmack einer vor jeder Erziehung angesiedelten Animalität, den eine solche Argumentation in sich birgt - daher auch das Herumreiten auf dem Alter der Aufständischen - und in dem sich ziemlich offenkundig eine Wiederaufnahme des alten Kolonialdiskurses über die "Wilden als große Kinder" ausdrückt). Und andererseits sind diejenigen, die etwas zerstören (noch dazu mit Feuer), in Wirklichkeit zur Produktion unfähig: Wir begegnen hier dem Motiv der Unproduktivität der Banlieues (im besten Fall: einer strukturellen Unproduktivität, die fast "naturalisiert" wirkt, so sorgfältig wird ihre Hinterfragung vermieden; im schlimmsten Fall: einer Unproduktivität, die in jener den guten - wie auch den schlechten - Wilden unterstellten "natürlichen Faulheit" und "Liebe zur Ungezwungenheit" wurzelt, aus der die Unordnung hervorgeht und die nicht länger nur für den sozialen Bruch, die Arbeitslosenzahlen und die Verschlechterung der Existenzbedingungen in den Quartiers die Verantwortung trägt, sondern sich schlussendlich in der pathologischen Gestalt einer blinden und destruktiven Gewalt manifestiert).

Dieser Gebrauch der Kategorie der Unproduktivität als Instrument der sozialen Disziplinarisierung ist neu genug, um einen Moment dabei zu verweilen; nach unserer Ansicht besteht sogar eben hierin im Wesentlichen die Neuartigkeit der Kontrollstrategien, die seit einigen Jahren von den öffentlichen Machtinstanzen eingesetzt werden. Gehen wir, um diese Neuartigkeit zu bewerten, zehn Jahre zurück, und lesen wir etwa erneut die außerordentlich aussagekräftigen Analysen, die Giorgio Agamben in Homo Sacer[3] in Bezug auf die souveräne Geste der Verbannung vorgetragen hat - wobei es im Kopf zu behalten gilt, dass die ban-lieue im engeren Sinn der Ort des Banns [lieu du ban] schlechthin ist. Bezüglich der Verbannung, in der er die Besonderheit der Ausübung von Souveränität erblickt, schreibt Agamben Folgendes: "Doch die Beziehung des Banns und der Verlassenheit [abbandono] ist in der Tat dermaßen doppeldeutig, dass nichts schwieriger ist, als sich von ihr zu lösen. Der Bann ist wesentlich die Macht, etwas sich selbst zu überlassen, das heißt die Macht, die Beziehung mit einem vorausgesetzten Beziehungslosen aufrechtzuerhalten. Dasjenige, was unter Bann gestellt wird, ist der eigenen Abgesondertheit überlassen und zugleich dem ausgeliefert, der es verbannt und verlässt, zugleich ausgeschlossen und eingeschlossen, entlassen und gleichzeitig festgesetzt."[4]

Was hier als grundlegende Ambiguität des souveränen Banns beschrieben wird, erinnert selbstverständlich an einige der stärksten Seiten von Michel Foucaults Buch Wahnsinn und Gesellschaft bzw. daran, wie seit dem klassischen Zeitalter die Unvernunft durch die Vernunft zugleich ausgeschlossen wurde und in einen Bezirk eingeschlossen, den die Vernunft im Namen der von ihr beanspruchten Macht eben darum ausgestaltete, um ihrem Anderen einen Namen, einen Raum und eine Markierung zuzuweisen. Gelehrte bibliographische Referenzen und Effekthaschereien beiseite lassend, könnten wir indessen ebenso gut sagen, dass sich die Agamben'sche Analyse treffsicher auf die vor etwa vierzig Jahren erfolgte Konstituierung des Raums der neuen Banlieues in Frankreich anwenden lässt: Die Banlieue entsteht außerhalb der Stadt - als eine andere Stadt, die sich selbst genügt und unter dem Gesichtspunkt der Verwaltung oftmals autonom ist; als "Cité" und Satellitenstadt der eigentlichen Stadt, von der sie abgetrennt wurde -, und doch bleibt sie trotz allem ihre Banlieue. Dieses Possessivum muss ernst genommen werden, denn die Beziehung, die die der räumlichen Distanzierung doppeln wird, ist in der Tat eine Beziehung der Aneignung, Inbeschlagnahme und Ausbeutung: Die neuen Quartiers, errichtet während der Wachstumsperiode der Trente Glorieuses[5], dienten nämlich tatsächlich als Sammelbecken für wenig (oder nicht) qualifizierte fordistische Arbeitskräfte, die zur Einspeisung in die Produktion der benachbarten Fabriken bestimmt waren - und in eben diesen Zusammenhang, der durch die Dekolonisation zweifellos noch komplexer geworden ist, muss in Frankreich auch der massive Zuzug von migrantischen Arbeitskräften insbesondere aus dem Maghreb gestellt werden, der diese Jahre charakterisiert. Selbstverständlich gilt das, was wir hier über die in den 1960er und 1970er Jahren errichteten städtischen Ballungsräume sagen, nicht für jede Banlieue im strikten Sinn. Wenn man sich in einer Art Vereinfachung der Gegenüberstellung von Zentrum und Peripherie auf eine Definition der Banlieue als periurbaner Raum beschränkt, so ist der folgende Einwand zweifellos berechtigt: Saint-Denis, Aubervilliers oder Ivry sind Banlieues, Neuilly, Saint-Cloud oder Sceaux sind es nicht. Aber es wäre auch irreführend, allein die Einkommen der BewohnerInnen zur Interpretationsgrundlage zu machen; oder genauer: eben darum, weil die die "Quartiers" betreffenden Reichtumsunterschiede vielmehr auf einer vorgängigen Struktur der Ausbeutung beruhen, repräsentierte die Banlieue seit ihrem Auftauchen den Raum der Verwaltung, Aufteilung und Disziplinarisierung der Arbeitskraft schlechthin - und wir sprechen hier selbstverständlich nicht von den vornehmen "Wohnvierteln", den "Grünbezirken" oder den verschiedenen bukolischen Versionen des "Landlebens an den Toren von Paris".

Diese Verwaltung des Raumes der neuen Banlieues erwies sich daher von Anfang an als Biopolitik: Eben weil die Produktion nach Just-in-time-Prinzipien organisiert werden sollte und es sicherzustellen galt, dass nichts die Kontinuität des Produktionszyklus beeinträchtigte, war es wichtig, dass die Arbeitskräfte zufriedenstellende Lebensbedingungen vorfanden. Cités, die sicherlich weniger strahlend waren, als es Le Corbusier sich gewünscht hätte, die aber, jedenfalls ursprünglich, mit Diensten und Geschäften, Transportsystemen und kommunaler Infrastruktur ausgestattet und der gemeinsamen Organisation durch (oftmals kommunistische) BürgermeisterInnen und Betriebsräte anvertraut waren - alles in allem also einfache ArbeiterInnenschlafstätten, die sich buchstäblich in "kleine Städte" verwandelten, damit die ökonomische Einverleibung der Lebenskraft sowie die maximale Ausbeutung der Arbeitskraft sichergestellt werden konnte. Diejenigen, die sich an die letzten Pariser Barackensiedlungen [bidonvilles] Ende der 1960er Jahre - etwa in Nanterre - erinnern, werden die Freude nachvollziehen können, mit der die Menschen sich in den neuen "Quartiers" niederließen und Wohnungen bezogen, die mit Mauern, Türen, Sanitäranlagen und einer Zentralheizung versehen waren und in deren Umgebung es Nachbarschaftsläden, Schulen, Schwimmbäder und Kantinen gab; aber sie werden auch um den Preis wissen, der den BewohnerInnen für diese plötzliche "städtebauliche Philanthropie" abverlangt wurde: die Einrichtung eines Dispositivs, das das gesamte Leben radikal in Arbeit versetzte, die Einbeziehung des Lebensraums in den Raum der Produktion sowie die der alltäglichen Existenz auferlegte Rentabilität.

Aber wenn die Banlieue nur von dem her verstanden werden kann, was sie war - dann auch deshalb, weil ihre Interpretation heute von dem ausgehen muss, was sie aufgehört hat zu sein. Die Krise der fordistischen Produktion führte zu einem drastischen Rückgang des Bedarfs an unqualifizierten Arbeitskräften: der Produktionstyp hat sich gewandelt, die Arbeit ebenso. Der Übergang zum Postfordismus hätte für die Banlieue eine Gelegenheit sein können, die laufende Transformation zu begleiten, zugleich aber neu zu definieren, was sie war: die Schließung der Fabriken bedeutete nicht, dass es keine Arbeit mehr gab, sondern dass die Arbeit anderswo stattfand, eine andere war und anderen Erfordernissen entsprach. Das hätte einer Investition in Ausbildung, Lehre und Qualifikation bedurft. Und genau diese Anstrengung wollten die öffentlichen Machtinstanzen nicht unternehmen. Alles lief so ab, als hätte man die BewohnerInnen der Banlieues nicht nur in einem geschlossenen Raum, sondern auch in einer längst vergangenen Zeit eingesperrt. In den "Quartiers", wo die Jugendarbeitslosigkeit vierzig Prozent erreicht (und manchmal überschreitet), waren die Großväter Arbeiter, und ebenso die Väter, wenngleich unter schwierigeren Umständen; die älteren Brüder haben nur selten Zugang zu Beschäftigungen gehabt, und so kommt es vor, dass die Jüngsten, die Zwölf- bis Fünfzehnjährigen, niemals die Realität einer echten Beschäftigung in der Familie kennen gelernt haben. Die "Großen" haben zumindest noch eine Vorstellung davon oder eine Erinnerung daran: Sie wurden sogar zu Gefangenen ihrer eigenen Vorstellung bzw. Erinnerung gemacht, zumal die Unmöglichkeit, der sie sich gegenüber sehen, wenn es darum geht, eine Arbeit zu finden, im Allgemeinen mit der Krise der fordistischen Produktion erklärt wird, in einem scheinheiligen Fatalismus, der die Realität des ökonomischen Ausschlusses auf "strukturelle Ursachen" zurückführt, für die sich selbstverständlich niemand verantwortlich fühlen muss.[6] Kein Wort fällt über das neue Arbeitsparadigma heute; und auch wenn einige Politiken der lokalen Gestaltung (insbesondere in Bildungsangelegenheiten), Formen der Selbstbildung, der Solidarität, der sozialen Kooperation, der Zirkulation und des geteilten Umgangs mit Wissen - die in der Banlieue ebenso entwickelt werden wie andernorts - in diese andere Realität einzutreten scheinen, die jene der Produktion immaterieller Güter ist, so bleibt doch die gesamte Verwaltung des periurbanen Raumes so organisiert, dass das Aufkommen dieser neuen sozialen Formen verhindert wird. Eine detaillierte Besprechung der verschiedenen Filter, die von der Macht eingesetzt werden, um diesen möglichen Eintritt in den Postfordismus zu blockieren, würde hier zu lange dauern: ob es sich dabei um die Kartographie des Transports und der Bewegungsbahnen handelt (die den Raum der Metropole ausgehend von einem System sozialer "Schleusen", Dämme, Sackgassen und Umleitungen fortwährend neu entwerfen), um die administrativen Hürden, um das völlige Fehlen von Orten der Vergemeinschaftung, der Kooperation und der subjektiven Produktion (zumindest wenn man - wozu die Definition des Versammlungsdelikts verpflichtet - die Banken, Korridore, Keller und Stiegen nicht als angeeignete Räume betrachtet), um den systematischen Abbau von Orten der Bildung und Ausbildung (der an sich schon einen eigenen Artikel wert wäre: man schreitet über Implosionen voran, ein wenig wie bei jenen Gebäuden, die man zur Gänze aushöhlt, um nur ihre Fassade intakt zu lassen, mit dem Ergebnis, dass sie einem hohlen Zahn der schönsten Sorte ähneln ...) oder schließlich, allgemeiner noch, um die Kartographie der Dauerhypothek, mit der die Existenz der die Banlieue bewohnenden Frauen und Männer belastet wird - all das wird darangesetzt, um einer produktiven und reichhaltigen Realität den Anschein eines Ortes der Un-produktion und der Entropie zu geben.


Zwei Anmerkungen zu diesem Punkt

Bei einem kürzlich gehaltenen Vortrag formulierte Giorgio Agamben die Hypothese, dass sich die Metropole in den Raum verwandelt habe, in dem die beiden großen historischen Paradigmen der Menschenführung, die Foucault beschrieben hat, nunmehr gleichzeitig zur Anwendung kommen: das der Lepra und jenes der Pest.[7] Zur Lenkung der Leprakranken nämlich, so Foucault, sperrte man diese in geschlossenen Orten außerhalb der Stadtmauern ein und dämmte also ihre Existenz auf das Innere eines abgesonderten Raumes ein, ohne dass eine Kommunikation mit einem "Innerhalb" der sie verstoßenden Stadt möglich gewesen wäre. Im Fall der Pest war dies nicht möglich, da die epidemische Entwicklung zu einer Ausbreitung in der Stadt selbst führte und damit jeden Versuch der Einschließung oder Eingrenzung völlig vergeblich werden ließ. Der Eingriff nahm folglich eine andere Form an, die sich im Inneren der Stadt selbst abspielte, nämlich die der Rasterung und der Zählung (Haus um Haus, Viertel um Viertel: wie viele Todesfälle, wie viele Genesungen, welche Ansteckungsrate etc.); das heißt, der Eingriff vollzog sich in Wirklichkeit über eine Form der Verinnerlichung der Kontrolle inmitten des städtischen Raums selbst - und in den Köpfen der dort lebenden Individuen.

In Anlehnung an diese beiden historischen Analysen legt Agamben nahe, dass die Machtstrategien gegenüber der Banlieue heute zugleich als Dispositive der Einschließung/Auslagerung und der Kontrolle/Verinnerlichung beschrieben werden können, das heißt gleichzeitig als Verbannung und als Rasterung. Eine verführerische Idee, die aber, wie uns scheint, in zumindest zwei Aspekten problematisch ist. Erstens siedelt Foucault die von ihm beschriebenen Paradigmen ausdrücklich im Rahmen einer Analyse der Moderne an - und es bleibt ungewiss, ob moderne Modellbildungen heute noch stichhaltig zur Anwendung kommen können. Zweitens entlehnt die Foucault'sche Beschreibung sowohl im Fall der großen Einschließung als auch in jenem der inneren "Rasterung" ihre Beispiele der Verwaltung von Krankheiten (Lepra und Pest). Genau deshalb aber, weil wir uns in einem Zusammenhang des Aufkommens von Biomächten bewegen und die Medikalisierung der sozialen Kontrolle eines ihrer wesentlichen Merkmale ist, wird diese Beschreibung beinahe unverzüglich durch eine Analyse demographischer und ökonomischer Natur gedoppelt, das heißt ausgehend von der Idee, dass die Verwaltung und Steuerung des Raumes - sowie der dort lebenden Menschen - notwendigerweise auf die Organisationsanforderungen der seriellen Produktion antworten muss. Wir werden uns hier nicht damit aufhalten: Es sei uns jedoch erlaubt, beispielsweise daran zu erinnern, wie die Rasterung in Überwachen und Strafen als Maßnahme der Kontrolle des Raumes beschrieben wird, und zwar von einer tatsächlich die Gesundheit betreffenden Argumentation ausgehend (die der Struktur des Hafenspitals gewidmeten Stellen sind vielen sicherlich in guter Erinnerung)[8], und zugleich als Prozess der Einrichtung einer "Zuweisung von Funktionsstellen", was in Wirklichkeit darauf hinausläuft, die Prinzipien der Fließbandarbeit im gesamten städtischen Raum zum Einsatz zu bringen (atomistische Separierung der Individuen an den jeweiligen Plätzen und gleichwohl Annullierung ihres Wertes außerhalb der Totalität des Fließbands; äußerste Individualisierung der Plätze und gleichwohl völlige Freiheit, jedes Individuum ungeachtet des ihm zugewiesenen Platzes zu ersetzen oder auszutauschen; vollständige Gleichheit der Plätze - zur Gewährleistung der Austauschbarkeit bzw. Ersetzbarkeit - und gleichwohl Segmentierung und Hierarchisierung des kollektiven Raums in Subräume etc.). "Die Arbeitskraft wird übersichtlich auf die aneinandergereihten Einzelkörper aufgeteilt und damit in individuellen Einheiten analysierbar. Gleichzeitig mit der Teilung des Produktionsprozesses stößt man bei der Geburt der Großindustrie auf die individualisierende Zerlegung der Arbeitskraft; beides wurde durch die Gliederungen des Disziplinarraumes ermöglicht. [...] Indem sie die 'Zellen', die 'Plätze' und die 'Ränge' organisieren, fabrizieren die Disziplinen komplexe Räume aus Architektur, Funktionen und Hierarchien. Diese Räume leisten die Festsetzung und sie erlauben den Wechsel; sie schneiden individuelle Segmente ab und installieren Organisationsverbindungen; sie markieren Plätze und zeigen Werte an; sie garantieren den Gehorsam der Individuen, aber auch eine bessere Ökonomie der Zeit und der Gesten"[9], schreibt Foucault. Der doppelte Prozess der Individualisierung (Segmentierung, Verteilung, Hierarchisierung) sowie der Vermassung (Entsingularisierung der Menschen, Produktion von sowohl entsubjektivierten wie atomisierten "Individuen", vollständige Austauschbarkeit der "individuell" genannten Elemente, Einbeziehung dieser in das neu zusammengesetzte Ganze der Arbeitskraft ...), der durch die Rasterung durchgesetzt wird, soll also eine uneingeschränkte Maximierung der Produktion ermöglichen - in der Fabrik, aber noch allgemeiner in der gesamten Gesellschaft (über das Fließband hinaus: in den Schulklassen, den Zellen der Klöster und Gefängnisse, den Spitalzimmern, den Büros der Verwaltungsdienste, der Organisation der Armee).[10]

Dieses Modell der Disziplinarisierung des Lebendigen als Möglichkeitsbedingung der Produktion - das bei Foucault der ersten Etappe der Einrichtung eines biopolitischen Paradigmas entspricht - funktioniert jedoch nur im Rahmen der seriellen Produktion von materiellen Gütern, das heißt in einer ökonomischen Realität, die gänzlich auf der Ausbeutung einer unqualifizierten Arbeitskraft aufbaut und innerhalb einer Struktur begründet wurde, die im Wesentlichen die des Fließbands ist. Wozu aber dient die Rasterung, wenn es nicht länger um Fließbandproduktion geht? Wozu das Leben kontrollieren, um maximale Ertragsbedingungen der manuellen Arbeitskraft gewährleisten zu können, wenn es nicht mehr Letztere ist, die die kapitalistische Valorisierung ermöglicht? Agambens These ist faszinierend, aber sie bleibt modern und fordistisch zugleich: sie auf die gegenwärtige Situation anzuwenden ist also problematisch.

In den Banlieues geht man heute nicht mehr in die Fabrik arbeiten - denn es besteht immer weniger Bedarf an diesem Typ von Arbeitskräften. Unter dem Gesichtspunkt der Macht hat die Rasterung ihren Zweck verloren: Warum Kontrolle ausüben, wo es nichts mehr zu gewinnen gibt? Die Valorisierungsprozesse haben sich verändert, und auch die Produktion ist zu etwas anderem geworden. Die Banlieue wird daher offiziell zu einem Ort der Unproduktivität erklärt. Zu diesem Urteil einer Unproduktivität gelangt man einerseits ausgehend von der Feststellung, dass die Produktion fordistischen Typs in der Krise ist - so als läge das in der Verantwortung der Banlieue-BewohnerInnen, als hätte nicht ein sehr viel weiter reichender Paradigmenwechsel stattgefunden, als wäre nicht eine andere Produktionsweise zutage getreten, die tendenziell hegemonial ist. Und es bildet sich andererseits auf der Grundlage einer Strategie aus, die darin besteht, die Banlieue in dieser Krise einzuschließen, ohne ihr einen Zugang zu postfordistischer Arbeit zu gewähren. Die Banlieue wird also im Namen einer Sache verdammt, die nicht mehr existiert. Man verweigert ihr jene andere - soziale, kooperative, sprachliche und subjektive - Produktivität, an der sie nichtsdestotrotz so reich ist. Es wird behauptet, die Banlieue sei das Nirgendwo der Produktion oder sogar der Ort einer radikalen Unproduktivität. Nichts geht daher leichter von der Hand, als diese angebliche Unfruchtbarkeit in eine Metapher der sozialen Entropie umzuwandeln, die sehr oft moralisch konnotiert ist ("die Vielen [multitude] und das Böse", die "Wildheit" der Jugendlichen, die blinde Gewalt etc.): Wer nicht mehr produzieren kann, hat nicht nur sozial zu existieren aufgehört, sondern frisst sich schlussendlich selbst auf. Die Animalisierung ist also unvermeidlich: Dressur (im "militärisch-humanitären" Rahmen von Umerziehungslagern), Zähmung (des Abschaums [racaille]) und Säuberung (mit dem Kärcher) sind Variationen ein und desselben Themas. Denn das (falsche) Dekret der Unproduktivität, das sich aus überkommenen Kriterien herleitet, erlaubt es flugs, den mit ihr geschlagenen Subjekten jeglichen sozialen Wert abzusprechen (daher auch die Überlagerung des Diskurses über die Banlieues mit dem über die Integration und die BürgerInnenschaft: wer nicht produktiv ist, kann auch nicht im vollen Sinn Bürger sein) und gestattet somit die Zermalmung und Zertrümmerung des Lebens der Banlieue und seines außerordentlichen Reichtums, seine Reduktion auf das bloße Überleben. In Wirklichkeit versucht die Macht - kraft der Mystifizierung, die sie durch das Urteil der Unproduktivität herstellt -, den bios in zoé zu verwandeln, die soziale und politische Existenz in nacktes Leben zu transformieren.

Kommen wir nun zur zweiten Anmerkung, immer noch von der Arbeit Giorgio Agambens ausgehend. Auf mittlerweile weithin bekannten Seiten verwendete Agamben mehrmals das nazistische Vernichtungslager als biopolitisches Paradigma der Moderne.[11] Ohne uns hier neuerlich auf eine Diskussion über die Gültigkeit und Legitimität dieses Paradigmas einlassen zu wollen, die mit einiger Ausdauer geführt wurde - und oft immer noch geführt wird -, beschränken wir uns auf eine Feststellung. Die Tötungsindustrie des Nazismus war eine Schrecken erregende Parodie auf die Effizienz der Produktion und der Zeitrentabilität. Man denkt natürlich an den Einsatz von Arbeitsorganisationsplänen im Zuge der Planung und Durchführung der "Endlösung"; man muss sich außerdem in Erinnerung rufen, dass die ganze Arbeit der Propaganda und der Informationsmanipulation durch nazistische Kommunikationsdienste immer wieder Werkstätten und Montagebänder in Szene setzte (deren Bilder dann außerhalb der Lager und in der Presse verbreitet wurden). All das findet im Terror von "Arbeit macht frei" seinen Zusammenhang. Wenn denn nicht eine todbringende Produktivität in sich selbst die Negation ihrer eigenen Kohärenz ist (weil eben kein Mehrwert abgeschöpft, sondern Wert abgezogen wird) und die buchstäbliche Produktion der Vernichtung eines Gutes (die industrielle Produktion des Todes) in Wirklichkeit die Auflösung der Idee der Produktion selbst bedeutet. Kommen wir nun auf die Banlieues zurück. Die Banlieues sind lebendig, und doch wird ihnen die Fähigkeit zur Produktion abgesprochen. Wo die Nazis die Möglichkeit einer Produktion des Todes affirmierten, erklärt man heute, dass das Leben der Banlieues unproduktiv ist. Produktion des Todes, Unfruchtbarkeit des Lebens: Die Symmetrie der Mystifizierungen ist Furcht erregend - und es wäre vielleicht eine gute Idee, ein wenig darüber nachzudenken.


Die Vergütung der Produktivität des Lebens: Bedingungsloses Grundeinkommen und neue BürgerInnenschaft

Zu Beginn dieses Textes haben wir daran erinnert, wie schwierig es für einige von uns war, die Banlieue-Revolte im Oktober/November 2005 unmittelbar als politisches - und multitudinäres - Geschehen einzuschätzen. Drei aufeinanderfolgende Momente haben dazu beigetragen, dass diese anfänglichen Zweifel zu Recht überwunden wurden. Zuerst, und zwar sehr rasch nach den Ereignissen, war da die Entdeckung, dass in den "Quartiers" selbstorganisierte Mikrountersuchungen auftauchten: Der Anspruch auf Selbstdarstellung - in völliger Differenz zum Kanon der politischen Repräsentation -, die Notwendigkeit der Wiederaneignung eines Raumes (der "Banlieue"), der zur Sahnetorte des soziologisch-politischen Expertendiskurses geworden war, sowie zugleich einer Subjektivität, die unter den ständigen Versuchen objektiver Reduktion begraben lag, der Wille, die eigene Existenz als bios und nicht als zoé geltend zu machen (auch dort, wo sich der bios von Problemen eingekreist sieht, die das bloße und einfache Überleben betreffen: Recht auf Gesundheit, Recht auf Wohnung, Recht auf Ernährung) - all das trug dazu bei, mannigfaltige Prozesse einer kollektiven Subjektivierung in Erscheinung treten zu lassen. Diese Mikroprozesse existierten in einigen Fällen sicherlich bereits vor den Ereignissen, aber sie blieben im Allgemeinen auf die Ränder beschränkt und gingen sehr oft nur jene an, die Kontakte zu den lokalen Vereinsstrukturen hatten (von denen es im Übrigen aufgrund budgetärer Restriktionen immer weniger gab); zudem fungierten diese Vereinsstrukturen, freiwillig oder nicht, mitunter auch nur als ein weiteres Kontrolldispositv mit menschlichem Antlitz, als Sicherheitsventil, das man bedachtsam am Deckel eines Schnellkochtopfes anbrachte, dessen Ränder zuvor luftdicht versiegelt worden waren - ihre Subjektivierungsfunktion konnte also auch einiges an Ratlosigkeit auslösen. Nach der Revolte kam der Anspruch, das Subjekt der eigenen Rede und Handlungen zu sein, wie eine Losung in Umlauf: Diese Wiederentdeckung des Subjektivierungsvermögens auf der Grundlage einer Dimension des Gemeinsamen, die sich - ob es den kommunitaristischen Lesarten gefällt oder nicht - im Kern mit dem betroffenen Territorium (die Banlieue) und den entsprechenden materiellen (politischen, sozialen, ökonomischen) Bedingungen verband, erlaubte es erstmals, zu verstehen, dass es sehr wohl um eine Multitude ging: Zum Vorschein gekommen war ein Gefüge von Singularitäten mit unzähligen Differenzen, die Erfindung eines provisorischen "Wir" - "die aus der Banlieue" -, das sich strategisch artikulierte und sich örtlich und zeitlich im Zusammenhang mit spezifischen Zielen positionierte, das durch einen kämpferischen Kontext hervorgebracht worden war und neu definiert werden konnte, wo es auf andere kämpferische Kontexte, Strategien und Situationen traf. Es gibt keine schlechte Multitude, es gibt nur schlechte Ballungen - falls der Begriff "schlecht" hier überhaupt angebracht ist, was wir stark bezweifeln. Aber wenn das Kriterium, das die Multitude von der geballten Menge oder der Masse zu unterscheiden erlaubt, das ontologische Vermögen ist, das Erstere im Augenblick der Hervorbringung von etwas Gemeinsamen impliziert, so ist offensichtlich, dass die Revolte der Banlieues das Auftauchen einer Multitude möglich gemacht hat.

Wir beharren auf der "provisorischen" Dimension der gemeinsamen Identität der Multitude (eine sehr wenig identitäre Identität, zumal ihre Entfaltung von der Artikulation von Differenzen als Differenzen ausging: das einzig Gemeinsame war die Subjektivierung, der Konflikt). Der zweite und der dritte Übergang ließen ihre strategischen Neuverfugungen präzise sichtbar werden: zuerst im Zuge der Demonstrationen gegen den CPE (Contrat première embauche)[12] von Ende Februar bis Ende April; ein zweites Mal anlässlich der medialen Berichterstattung über die Probleme der Sans-Papiers (von den Fällen von Kindern ohne Papiere, die in der nationalen Presse seit Ostern ausführlich behandelt wurden, bis hin zur Episode von Cachan[13] von Mitte August bis Ende September). Die Jugendlichen und jungen Erwachsenen der Banlieues sind in großer Mehrzahl französische StaatsbürgerInnen mit entsprechenden Papieren; und sie werden nur unter beträchtlichen Schwierigkeiten Zugang zu universitären Studiengängen erhalten, über die sie wirkliche Qualifikationen erwerben können (das heißt zu Studien, die nicht nur lange dauern, sondern ihnen Zugang zu Bildung und Wertschätzung ermöglichen). Nichtsdestotrotz zeigten die Jugendlichen der Banlieue (und sehr häufig unmittelbare AkteurInnen der Revolte) in den Demonstrationszügen der Pariser Studierenden massive Präsenz: Und wenn die Medien versuchten, diese Präsenz auf 5000 "Gewalttätige" zu reduzieren, die an den Rändern und im Gefolge der Demonstrationen - tatsächlich - knallhart Zwietracht säten, dann eben auch deshalb, weil es darum ging, die zehntausenden Anderen vergessen zu machen, die selbstorganisierte Teile des Demonstrationszuges bildeten und die wochenlang ihre Schulen blockiert hatten, um zu diskutieren, Versammlungen zu organisieren, zu reflektieren, zu lesen, sich auszutauschen, zu handeln, zu kämpfen und Entscheidungen zu treffen.

Dieser Politisierungsprozess war in der Banlieue nur in sehr geringem Ausmaß durch gewerkschaftliche Organisationen strukturiert: Die Rolle der Fédération Indépendante et Démocratique Lycéenne [Unabhängige und Demokratische Gymnasialföderation] beschränkte sich, was die Gymnasien angeht, im Wesentlichen auf eine Art "logistische" Unterstützung. Wie erklärt sich also jenes Zusammenfließen genau an dem Punkt, an dem die politischen Machtinstanzen verzweifelt versuchten, neuerlich Streitigkeiten zu schüren (Banlieusards gegen PariserInnen, Arme gegen Reiche, Schwarze gegen Weiße, Wilde gegen Studierende, Indigene gegen die Republik, blinde Gewalt gegen das universitäre Wissen etc.)? Das Gemeinsame dieser Multitude war ausdrücklich - so war es aus dem Mund der AkteurInnen selbst zu vernehmen - die Prekarität. Eine nicht gewählte, sondern erlittene Prekarität, die sowohl die materiellen Existenzbedingungen (die Prekarisierung des Lebens ist de facto das, was den bios in zoé, das Handlungsvermögen in einen Überlebensreflex verwandelt) als auch die Reproduktionsbedingungen betrifft; besser gesagt, in jener sonderbaren Bewegung im Frühling 2006 gab es die außerordentlich klare Überzeugung, dass es in Wirklichkeit um dieselbe Sache ging - denn es ist immer das Leben, das produziert, und eben dass das Leben voll und ganz in Arbeit versetzt wird, macht die Produktion von Wert heute möglich. Doch wenn das Leben produktiv ist, dann war es genau diese - subjektive, soziale und politische - Produktivität, die es zu verteidigen, zu schützen, zu bekräftigen und zu vergüten galt. Die Prekarität des Lebens und die Prekarität der Arbeit ist ein und dasselbe - einmal abgesehen davon, dass sich, wenn die (entlohnte) Arbeit eine Produktionsform ist, die (soziale) Produktion darauf nicht reduziert, und dass es heute eben Letztere ist, die im Zentrum des Konflikts steht.

Die jüngsten Kämpfe im Umfeld der Sans-Papiers haben diese neue Dimension ihrerseits verstärkt deutlich gemacht. Das Problem der Sans-Papiers existiert nicht erst seit gestern: Die Geschichte der Kämpfe, die sie geführt haben, der Kollektive, die sie begründeten, und der Kraft, mit der sie Dispositive des Widerstands einzusetzen wussten - sowie auch der immer größeren Gewalt, mit der die Macht auf Letztere geantwortet hat - ist beeindruckend. Relativ neu ist hingegen, zum einen, die beträchtliche, in alle Gesellschaftsschichten reichende Ausweitung von Verhaltensweisen des sozialen Ungehorsams im Zusammenhang mit dem Phänomen von Minderjährigen ohne Papiere (so wurden Kinder von ProfessorInnen, SchuldirektorInnen, SozialarbeiterInnen, Eltern von SchülerInnen, NachbarInnen aus dem Viertel etc. versteckt), das heißt eine kapillare Streuung und "Banalisierung" (im positiven Wortsinn) von Kampfformen. Neu ist zum anderen auch, seitens der Jugendlichen aus der Banlieue - und zwar ob sie nun Papiere haben oder nicht -, die politische Wiedereinspeisung des Kooperations- und Konfliktwissens, das sie während der Revolte und im Zuge der Demonstrationen gegen den CPE angesammelt haben, in den Problemzusammenhang von Abschiebungen und willkürlichen Rückführungen an die Grenze. Auch hier wurde das multitudinäre "Gemeinsame" direkt durch den Einsatz des Konflikts erzeugt: die Anerkennung des Umstands, dass die BürgerInnenschaft nicht länger an Formen gebunden werden kann, die, mögen sie auch die der Moderne gewesen sein (Grenzen, Nationalstaat), nicht mehr die unseren sind; die Notwendigkeit, dem Leben, wo es sich auch vollzieht und woher es auch kommen mag, die Anerkennung seines Vermögens zuzusichern sowie die materiellen und immateriellen Bedingungen, damit es dieses Vermögen zum Ausdruck bringen kann. So wie es über ein universelles und bedingungsloses Grundeinkommen nachzudenken gilt, und zwar entkoppelt vom Rahmen der Lohnarbeit, ebenso muss also auch an eine BürgerInnenschaft gedacht werden, die von der Territorialisierung der Souveränität und der alleinigen Geltung der Rechtsform entkoppelt wird (das heißt von den Rechtsnormen als Ausdruck der modernen Souveränität). Bedingungsloses Grundeinkommen und deterritorialisierte BürgerInnenschaft: zwei Kraftlinien, von denen aus eine mögliche Biopolitik vorstellbar wird - wenn denn dieses Mögliche nicht bereits existiert, vor unseren Augen, in der mächtigen Intelligenz eines Lebens, dem zurückerstattet wurde, was es sein muss: politisches, produktives, singuläres und gemeinsames Leben. Das Leben ist niemals nackt - aber die Macht kann es werden.


Judith Revel lebt und arbeitet als Philosophin und Übersetzerin in Paris; bis vor kurzem war sie Redaktionsmitglied der Zeitschrift Multitudes, Paris, in der dieser Artikel erstmals abgedruckt wurde.
email: judith.revel@univ-paris1.fr


Anmerkungen

[1] Vgl. zu diesem Punkt etwa die Arbeit von Hugues Lagrange und Marco Oberti (Hg.), Emeutes urbaines et protestations. Une singularité française [Städtische Aufstände und Proteste. Eine französische Besonderheit], Paris: Presses de la Fondation des sciences politiques (Reihe "Nouveaux débats") 2006. Die in diesem Band vorgestellte kollektive Untersuchung, die oft außerordentlich feinsinnige soziologische und politische Analysen zur "Neuartigkeit" der Ereignisse von 2005 anbietet, übernimmt jedoch beträchtliche Versatzstücke einer "identitären" Lesart, und zwar insbesondere im Kapitel 3 "Communauté d'expérience et diversité des trajectoires" [Erfahrungsgemeinschaft und Diversität der Werdegänge]. Diese Lesart von "Diversität" - die im Wesentlichen auf der Gegenüberstellung von FranzösInnen mit maghrebinischem Hintergrund und FranzösInnen/MigrantInnen mit subsaharischem Hintergrund beruht - beschränkt sich nicht darauf, die realen Differenzen auszumachen, die sich etwa in Bezug auf die Einreisebedingungen in Frankreich oder Faktoren wie Regularisierung, Zugang zu Arbeit, Wohnung und Einschulung feststellen lassen - eine Differenz, die ihrerseits analysiert werden kann, und zwar je nach dem Zeitraum, in dem die Einreise nach Frankreich im Allgemeinen erfolgte, das heißt im Rahmen eines ökonomischen, sozialen und politischen Kontexts, der sich in vierzig Jahren radikal verändert hat. Die verschiedenen Werdegänge werden zudem an die Diversität der Familienmodelle, der politischen Schemata sowie des jeweiligen Verhältnisses zur aus den Herkunftsländern nach Frankreich "importierten" Religion rückgebunden: eine ethnisch-kulturelle Unterscheidung, die einer historisch-sozialen Differenzierung vorgelagert wird. Wenn dies auch nicht immer falsch ist, so kann man doch skeptisch bleiben angesichts der Art und Weise, wie dieser Überlegungstyp umstandslos der Hypothese kommunitaristischer Spannungen einen Auftritt verschafft, die die aus der Zuwanderung hervorgegangene Bevölkerung in ihrem Inneren durchziehen, und ebenso kann man gegenüber dem amerikanischen Modell eine gewisse Skepsis bewahren - das heißt gegenüber einem Modell von Bruchlinien, welche die verschiedenen Integrationseigenschaften der Gemeinschaften kennzeichnen und diese gegeneinander aufbringen, wodurch sie sich dann zur Radikalisierung ihrer eigenen Zugehörigkeit gezwungen sehen. Wir ziehen es für unseren Teil vor, den Analysen von S. Beaud und M. Pialous ("La 'racaille' et les 'vrai jeunes'. Critique d'une vision binaire de la société" ["Der 'Abschaum' und die 'wahre Jugend'. Kritik eines binären Gesellschaftsbilds"]; online abrufbar unter: www.liens-socio.org) zu folgen und zu postulieren, dass die einzige wirklich bedeutsame Gemeinschaft und Zugehörigkeit diejenige ist, die durch das Territorium (die Banlieue) sowie durch materielle Existenzbedingungen bestimmt ist: Bevor man schwarz oder weiß ist, kommt man "aus diesem oder jenem Quartier". Andernfalls muss man das Risiko in Kauf nehmen, die binäre - und selbstverständlich soziologisch falsche - Lesart von "Abschaum" und "wahrer Jugend" in den Banlieues selbst zu reproduzieren, und zwar über eine Kommunitarisierung, die ein doppeltes Dispositiv der Segmentierung und der Hierarchisierung zur Geltung bringt (MaghrebinerInnen/Schwarze, Schwarze/Weiße, sehr jung/jung etc.). Dieser Segmentierungstyp war de facto die tragende Achse der Analysestrategien des Innenministeriums. "Teile und herrsche!": das aktuelle Schicksal einer sehr alten Lebensweisheit?

[2] Guido Caldiron, Banlieue. Vita e rivolta nelle periferie delle metropoli [Banlieue. Leben und Revolte in den Peripherien der Metropolen], Rom: Manifestolibri 2005.

[3] Giorgio Agamben, Homo Sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, übers. v. Hubert Thüring, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2002; wir beziehen uns insbesondere auf das Kapitel 6: "Der Bann und der Wolf", S. 114-121.

[4] Ebd., S. 119.

[5] Als Trente Glorieuses ("die dreißig Glorreichen") werden in Frankreich die von starkem Wirtschaftswachstum geprägten drei Jahrzehnte zwischen Mitte der 1940er und Mitte der 1970er Jahre bezeichnet.

[6] Die Geschwindigkeit, mit der sich die Situation in den letzten fünfzehn Jahren verschlechtert hat, lässt sich beispielsweise an einer Gegenüberstellung der Anfang der 1990er Jahre unter der Leitung von Pierre Bourdieu durchgeführten kollektiven Untersuchung Das Elend der Welt (Konstanz: UVK 1997) und der von Stéphane Beaud, Josep Confavreux und Jade Lindgaard geleiteten Untersuchung La France invisible (Paris: La Découverte 2006) ermessen. Das jugendliche Alter der HandlungsträgerInnen der Banlieue-Revolten von 2005 muss im Kontext dieser Entwicklung gelesen werden: Im Jahr 2005 zwischen zwölf und achtzehn Jahren zu sein heißt, zwischen 1987 und 1993 zur Welt gekommen zu sein, also zur Zeit der Veröffentlichung von Das Elend der Welt, und im Rhythmus jener schwindelerregenden Beschleunigung von sozialen Bruchlinien sowie einer systematischen Prekarisierung des Lebens groß geworden zu sein.

[7] Giorgio Agamben, Vortrag für die Zusammenkunft "Métropole/Multitudes: séminaire en trois actes et (peut-être) une conclusion" [Metropole/Multituden: Seminar in drei Akten und (vielleicht) einer Konklusion", Uninomade, 11. September 2006 (zweiter Akt), Architekturfakultät der Universität Venedig (IUAV).

[8] Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, übers. v. Walter Seitter, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1977, S. 184-185.

[9] Ebd., S. 186-190.

[10] Es wäre übrigens möglich (wir haben diesen Versuch in den letzten Jahren bereits in mehreren Anläufen unternommen), diese Lesart des - im Wesentlichen an den industriellen Produktionsaufschwung und den Bedarf an gefügiger Arbeitskraft gekoppelten - zweifachen Dispositivs der Individualisierung/Vermassung der Menschen zu doppeln, und zwar über eine Analyse der Art und Weise, wie parallel dazu die Konzepte des "Bürgers" [citoyen] und des "Gemeinwillen" in der modernen politischen Theorie entworfen wurden. Bürger ist derjenige, der es akzeptiert, von seiner Singularität abzusehen, da er allen anderen gegenüber völlig gleich sein muss (wie Roussau sagt, er muss auf die Vorrechte der "Person" verzichten, um in den Vertrag einzutreten), derjenige, der die elementare und völlig austauschbare Einheit - das Atom - des sozialen Lebens repräsentiert, und doch zugleich derjenige, der nichts ist außerhalb dessen, was sich eben gerade nicht auf die einfache Addition von verschiedenen "Bürger-Atomen" reduzieren lässt: des Gemeinwillen. Die Entsingularisierung und die Neuzusammenfügung als Masse entsprechen daher der gleichen Ordnung, die Foucault in Bezug auf die Disziplinen beschreibt (und kurz danach, die Individualisierung durch die Vermassung doppelnd, in Bezug auf die biopolitische Lenkung der "Bevölkerungen" beschreiben wird). Vgl. zu diesem Punkt Judith Revel, Fare moltitudine, Cosenza: Rubbettino / Università della Calabria 1984; zur Foucault'schen Lektüre von Rousseau sowie zur Frage, wie sich diese Lektüre mit der Analyse der Disziplinen verknüpft, vgl. Judith Revel, Michel Foucault. Expériences de la pensée [Michel Foucault. Denkerfahrungen], Paris: Bordas 2005, S. 148-167.

[11] Vgl. Giorgio Agamben, Homo Sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, op. cit. (insbesondere den dritten Abschnitt), und ders., Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge (Homo Sacer III), übers. v. Stefan Monhardt, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2003.

[12] Beim CPE handelt es sich um einen Erstanstellungsvertrag für Personen unter 26 Jahren; er war Teil eines von der Regierung Villepin Anfang 2006 vorgestellten Gesetzesentwurfs zur Neuregelung des französischen Arbeitsrechts, der im Februar 2006 zunächst ratifiziert, im April 2006 jedoch nach anhaltenden Protesten teils zurückgezogen wurde. (Anm. d. Übers.)

[13] Im Jahr 2006 besetzten einige hundert Sans-Papiers etwa zwei Monate lang ein Gymnasium in Cachan, einer Gemeinde im Ballungsraum von Paris; die Besetzung wurde von der Polizei durch Räumung beendet und war in den französischen Medien Gegenstand ausführlicher Berichterstattung. (Anm. d. Übers.)

Raute

Peter Haumer

"Wir haben uns selber angeführt!"

Über 1523 TextilarbeiterInnen in Novi Pazar, Serbien

Anfang Mai 2009 war in bürgerlichen Medien die Geschichte vom abgeschnittenen kleinen Finger der linken Hand des Zoran Bulatovic[1] zu lesen. In der deutschen Taz wurde der Artikel mit "Wenn Arbeiter zu Kannibalen werden" betitelt, in österreichischen Tageszeitungen wurde vom "Kannibalen aus dem Sandschak" berichtet. Durch diese Schlagzeilen wurde der arbeitslose Textilarbeiter als "Fingerfresser" denunziert und die Selbstverstümmelung und damit der Kampf selbst in die Nähe eines psychopathischen Akts gerückt. Kaum war der 1. Mai vorbei und der aus diesen Schlagzeilen resultierende Profit realisiert, war die geheuchelte Sensibilität für die soziale Frage nicht mehr notwendig und es wurde kein Wort mehr über die Lage der TextilarbeiterInnen von Novi Pazar und über ihren Kampf verloren.

Sie standen von Anfang an alleine und waren lange Zeit auch gezwungen, ihren Kampf alleine zu führen. Jetzt beginnen sie sich aber zunehmend mit Belegschaften, die auf eine ähnliche Geschichte wie sie selbst zurückblicken, zusammenzuschließen, um ihren Kampf effektiver gestalten zu können. Diese Auseinandersetzung mit Interesse zu verfolgen ist nicht nur aus solidarischen Gründen notwendig, sondern ist auch - angesichts der schweren und globalen kapitalistischen Wirtschaftskrise, die auch bei uns mit einem industriellen Kahlschlag verbunden sein wird - äußerst lehrreich.

Die soziale und politische Situation der ArbeiterInnenklasse in Serbien ist katastrophal. Dieses Land ist vom nationalistischen Krieg, vom Wirtschaftsembargo, von den militärischen Angriffen der Nato[2] und der erfolgreichen Deindustrialisierung schwer gezeichnet. Seit 1993 befindet sich das Land de facto im Ausnahmezustand und die ArbeiterInnenklasse ist ständigen Angriffen ausgesetzt. Die Privatisierungswellen, aber auch Flüchtlingsströme und die Abschiebungen von AsylwerberInnen haben zu einer immensen Verarmung und sehr hoher Arbeitslosigkeit geführt.

In Novi Pazar leben 125.000 Menschen, davon sind ca. 80% Muslime (2002 waren es noch 86.000 EinwohnerInnen; dann folgten Flüchtlingswellen aus dem Kosovo, aus Montenegro, Bosnien und Kroatien. Weiters kamen die wachsenden Abschiebungen aus den EU-Staaten wie Deutschland und Österreich hinzu). In Novi Pazar leben 33% unter der Armutsgrenze, 55% sind arbeitslos (in Serbien sind es 30%).[3]

Novi Pazar war das Zentrum der jugoslawischen Textilindustrie. Das Textilkombinat (TK) Raska war das Herzstück des "Jeansvalleys" in Jugoslawien. Von der Elterngeneration der heutigen TextilarbeiterInnen aufgebaut, ging es 1956 in Betrieb. In den 1990-er Jahren waren bis zu 4.000 ArbeiterInnen beschäftigt. Der Betrieb errichtete 500 Werkswohnungen sowie drei Erholungsheime. Diese Immobilien waren lukrative Ziele für die Privatisierungswellen, die über Raska hinwegzogen. Seit 1993 wird im TK Raska Personal abgebaut. Gegenwärtig sind noch 100 Beschäftigte im Werk (vor allem Direktoren, TechnikerInnen usw.). Ihre einzige Hoffnung ist ein ausländischer Investor, was allerdings bei den weltweiten Überkapazitäten in der Textilbranche kaum vorstellbar ist. Falls doch, hat dieser sicherlich keine guten Absichten, wie an einem kleinen Teil der Firma zu sehen ist, der an eine Firma namens Zet-Innovation untervermietet wurde. Hier werden unter anderem Mustang-Jeans für Deutschland weiterverarbeitet. Der Durchschnittsverdienst der 150-200 Beschäftigten beträgt dort ca. 200 €, viele von ihnen sind illegal beschäftigt.[4]

Im Kampf standen 1523 ArbeiterInnen - 80% davon sind alleinerziehende Mütter - die allesamt zwangsbeurlaubt waren. In solchen Fällen sieht ein Gesetz vor, dass der Staat als Eigentümer die Lohnfortzahlungen übernimmt, dem ist er allerdings seit 1993 kaum nachgekommen. Die Situation spitzte sich deshalb immer mehr zu. Die Ziele der Proteste waren die Einführung einer Pensionsversicherung bei Arbeitslosigkeit sowie Lohnnachzahlungen von mindestens 36 Monatslöhnen und Schuldenerlass für die Fabrik. Der diesjährige Kampf war bereits der dritte seit 2006. Erst 2008 gab es einen sehr militanten, aber erfolglosen neunzehntägigen Hungerstreik.

Nachdem dem neuerlichen Hungerstreik ab dem 23. April 2009 die nötige Aufmerksamkeit verwehrt wurde, griffen die ArbeiterInnen noch vor dem 1. Mai zu dieser dramatischen Aktion der Selbstverstümmelung. Eigentlich hatte Senada Rebronja[5], Bulatvics Stellvertreterin und Herz und Seele des Widerstands, den Plan sich den Finger abzuhacken. Warum es aber schließlich Zoran Bulatovic machte, dafür hatte er selbst die verschiedensten Erklärungen. Der entscheidende Grund war wohl der, dass Senada Rebronja Muslimin und Zoran Bulatovic Serbe ist. Hätte sie diesen Kampf angeführt, so wäre sie als Terroristin denunziert worden und dem Konflikt selbst wären separatistische Ziele unterstellt worden.[6] Die wichtigsten Solidaritätserklärungen für die Streikenden kamen aus Bosnien, Kroatien, Slowenien und Montenegro, weil sie so in ihrer multiethnischen Überzeugung bestärkt wurden.

Die Angst kursiert in Belgrad, dass der soziale Konflikt jeglicher Kontrolle entgleiten könne. Verhandlungen wurden angeboten, in Belgrad wurden Kommissionen und Arbeitsgruppen gebildet, der zuständige Direktor der Privatisierungsagentur setzte sich anlässlich dieser Auseinandersetzung in die USA ab. Der vorläufige Kompromiss, der der Regierung nach 110 Streiktagen abgerungen wurde, sieht eine Einmalzahlung von ca. 300 € für die Streikenden des Textilkombinates Raska vor, wohingegen für ähnliche Fälle im Serbien etwas mehr als 50 € ausbezahlt werden. Der materielle Erfolg des Kampfes ist somit sicherlich nicht der zentrale Punkt in dieser Auseinandersetzung; vielmehr ist es vor allem der moralischen und psychologischen Komponente des Kampfes zu verdanken, dass sich das Kräfteverhältnis endlich wieder zugunsten der ArbeiterInnenklasse zu verändern beginnt.

Ohne den Kampf der ArbeiterInnen von Raska wären viele der derzeitigen Arbeitskämpfe in Serbien nicht vorstellbar. So lautet zum Beispiel eine der Losungen von Streikenden in Kragujevac (Südserbien): "Mit dem kleinen Finger Serbien bewegen!". Mehr als 30.000 ArbeiterInnen aus 29 Unternehmen stehen in Serbien gegenwärtig im sozialen Kampf (Streiks, Betriebsbesetzungen usw.) und die Kampfwelle wird zunehmen. Am 11. September 2009 war in Novi Sad eine gesamtserbische Demonstration geplant. Bei dieser und ähnlichen Aktionen ist der Transport wegen chronischem Geldmangel das größte Hindernis für eine weitergehende Solidarisierung. Es konnte aus Novi Pazar nur ein Bus hinfahren. Benzin ist in Serbien so teuer wie in Deutschland und Österreich! Einen Bus zu mieten kostet um die 200 €.

Radikalität ist in Serbien mittlerweile Normalität. Die Politiker haben geredet und geredet und den TextilarbeiterInnen Versprechungen um Versprechungen gemacht. Die glauben denen da "oben" jedoch nicht mehr, auch wenn sie gerne immer einmal jemandem kurz wieder Glauben schenken - ohne Glauben, auch religiösen, geht es noch nicht. Aber sie sind Heißsporne geworden und stolz auf ihre Radikalität. Deshalb blicken sie auch nach Frankreich, weil sie glauben, dort ihre Radikalität wieder zu finden. Sie machen zwar kein Bossnapping, aber die Streikenden fanden es etwa einmal notwendig, den Raska-Direktor solange zu würgen, bis dieser bereit war, ihnen Einblick in die Geschäftsbücher zu geben. Ein anderes Mal vertrieb Senada die Polizei, als diese Zoran aus dem Streiklokal zerren wollte, mit einem Molotow-Cocktail in der einen, ein brennendes Feuerzeug in der anderen Hand. An den Verhandlungstisch kamen sie prinzipiell nur mit Motorsägen und immer wieder drohten sie mit weiteren Selbstverstümmelungen.

Der kämpferische Teil der ArbeiterInnenklasse in Serbien hat bereits damit begonnen, sich über die einzelnen Orte hinweg zu vernetzen. Aus Kragujevac, eine Autoindustriestadt (Zastava) kam schon vor einem Jahr der Vorschlag zur Bildung einer ArbeiterInnenvereinigung Serbiens. Jetzt dürfte die Zeit schön langsam für eine nationale Vernetzung heranreifen. Wir werden sehen.[7]

Die 1523 TextilarbeiterInnen[8] vertreten sich selbst. Sie haben sich zusammengeschlossen, weil sie keiner der vorhandenen Gewerkschaften oder Parteien mehr trauen. Die ehemaligen "Milosevic-Gewerkschaften" besitzen ohnehin kein Vertrauen mehr bei den ArbeiterInnen, und was die so genannten "unabhängigen" Gewerkschaften betrifft, so sagte Zoran Bulatovic nur lakonisch dazu: "Die Frage stellt sich, wovon die denn eigentlich unabhängig sind; und eines ist auf alle Fälle klar - die sind gänzlich unabhängig von uns ArbeiterInnen." Es hat folglich auch keine der unzähligen Gewerkschaften in Serbien den Kampf der Raska-ArbeiterInnen unterstützt. Lediglich einzelne Gewerkschaftsfunktionäre vor Ort, wie zum Beispiel Esad Nicevic[9], haben den Kampf solidarisch mitgetragen.

Die Mitglieder des Verbandes versammeln sie sich jeden Tag aufs Neue. Jede/r die oder der will, kann an diesen Versammlungen teilnehmen. Sie haben keine Infrastruktur, keine Technologie. Zu Beginn hatten sie auch keine Räumlichkeiten. Jetzt haben sie einen Raum im Stadtzentrum, wo sie sich treffen und wo auch der Hungerstreik stattgefunden hat. Aber was viel wichtiger ist: die 1523 haben ihre Versammlungen, ihre Einigkeit, ihre Entschlossenheit, ihr Kollektiv, ihr gegenseitiges Vertrauen und ihre gegenseitige Hilfe. Übereinstimmend sagen sie: "Wir haben uns selber angeführt." Und sie haben damit einen beachtlichen Teilsieg errungen und gezeigt, dass Kämpfen doch einen Sinn macht, selbst im zerstörten Serbien.


Post Scriptum: Ende September wird bekannt, dass das TK Raska in Insolvenz gehen müsse. Jeder/m ist klar, dass dies das Ende aller Arbeitsplätze bedeuten würde. Daraufhin versammelten sich binnen Stunden ca. 1500 ArbeiterInnen vor dem Fabrikgebäude und erklärten, dass sie keine Insolvenz akzeptieren würden. Sie stellten der Regierung ein fünftägiges Ultimatum um den Insolvenzbeschluss zurückzunehmen, ansonsten würden sie zu radikaleren Kampfmitteln greifen müssen. Am dritten Tag der Frist zog die Regierung ihre Insolvenzabsichten zurück und erklärte, dass das Land die Schulden vom TK Raska übernehmen würde. Damit haben die TextilarbeiterInnen einen wichtigen Teilsieg errungen. Ihre Fabrik wird vorläufig noch weiter existieren, und ihre Arbeitsplätze werden keine Seifenblasen. Ihr Kampf kann und wird damit weitergehen.

Nach dem IWF-Diktat sollen die Privatisierung bis Ende 2009 über die Bühne gegangen sein. Durch den Widerstand vieler Belegschaften ist dieser Zeitplan ins Wanken geraten und nun droht jenen Betrieben, die sich bis jetzt erfolgreich gegen die Privatisierung zur Wehr gesetzt haben, eine Zwangsversteigerung. Dieses Damoklesschwert schwebt auch über dem TK Raska und den 1523 TextilarbeiterInnen.

Wien, 28.10.2009


Peter Haumer arbeitet bei "Jugend am Werk" und seit Jahrzehnten politisch aktiv, zuletzt in der Solidaritätsbewegung für serbische Arbeiter_innen


Anmerkungen

[1] Zoran Bulatovic ist Vorsitzender des Verbands der TextilarbeiterInnen, 52 Jahre und war von 1985-1993 bei Raska beschäftigt. Er ist Vater von drei Kindern und ehemaliger Fußballballspieler bei Novi Pazar. Als er sich den kleinen Finger abschneidet, schickt seine Tochter ein SMS: "Mir fehlen die Worte, der ist ja nicht normal!"

[2] Am 31.05.1999 wurde auch Novi Pazar Opfer der NATO-Aggression. Bei den Luftangriffen wurden 10 BewohnerInnen der Stadt ermordet.

[3] Nach einer Visite einer Delegation des Internationalen Währungsfond kündigte vor kurzem Wirtschaftsminister Mladen Dinkic an, dass zehn Prozent (d. h. 60.000 Menschen) im öffentlichen Dienst gekündigt werden müssten. Betroffen wird davon hauptsächlich der Sozial-, Gesundheits- und Erziehungssektor sein. In Serbien, mit seinen 7,5 Mio. EinwohnerInnen, wird für 2010 erwartet, dass erstmals die Zahl der EmpfängerInnen staatlicher Leistungen die der Beschäftigten übersteigen wird!

[4] In der Region beträgt der Durchschnittsverdienst 260 €, im Landesdurchschnitt 350 €.

[5] Senada Rebronja ist stellvertretende Vorsitzende des Verbandes der TextilarbeiterInnen, 48 Jahre alt und allein erziehende Mutter von drei Mädchen. Die jüngste Tochter, Arabella, 17 Jahre, ist ebenfalls schon Mutter. Das zweitjüngste Mädchen hat das Down-Syndrom. Senada hat 25 Jahre lang in der Textilfabrik Raska gearbeitet. Bekommt für ihr Kind mit Down-Syndrom 65 € Sozialhilfe monatlich. Pro Kind gibt es monatlich 90 € Kindergeld. Von diesem Geld lebt die Familie in einem Raum bei Senadas Vater.

[6] Von den 1523 kämpfenden TextilarbeiterInnen sind nur ca. 10% SerbInnen, aber fast 90% sind BosniakInnen, sowie Roma und 2 Slowenen. Die TextilarbeiterInnen betonen immer wieder mit Stolz, dass es unter ihnen keinerlei Form von Nationalismus gebe und sie weiterhin in einer multiethnischen Gemeinschaft leben wollen. Versuchen, den nationalistischen Streit in ihre Stadt hineintragen zu wollen, wurde und wird von ihnen energisch entgegengetreten. Wenn etwas im alten Jugoslawien gut gewesen war, dann das Jahrzehnte lang funktionierende Zusammenleben der verschiedenen Ethnien. Zoran Bulatovic hätte als Serbe in den Kosovo marschieren sollen. Er hat dies, mit wenigen anderen, mit Erfolg verweigert. In Novi Pazar gibt es drei große Parteien: 1) Sandzacka demokratska partija (23 Mandate, muslimisch); 2) Stranka demokratske akcije (18 Mandate, moslemisch); und 3) Srpska lista (6 Mandate, serbisch).

[7] Ende August, Anfang September haben sich - ausgehend von Aktionen der Belegschaft von Zastava Elektro in Raca in der Nähe von Kragujevac - die ersten Streikkomitees begonnen, zu einer Koordination zusammen zu schließen. Am 7. September 2009 haben vier Streikkomitees einen ersten Aufruf herausgegeben, der auch die vielen anderen unabhängigen Basiskomitees aufruft sich ihrem "Koordinationskomitee für den ArbeiterInnenwiderstand in Serbien" anzuschließen. Bis jetzt (28. September 2009) haben sich die Streikkomitees von Zastava Elektro (Raca), TK Raska (Novi Pazar), Ravanica (Cuprija), Srbolek (Belgrad), Trudbenik (Belgrad), Sinvoz (Zrenjanin), und BEK (Zrenjanin) in dem Koordinationskomitee zum gemeinsamen Kampf zusammengefunden.

[8] 1523: Zahl der Mitglieder des Verbandes der TextilarbeiterInnen, der 2004 gegründet worden war, weil Gewerkschaften und Parteien die Interessen der arbeitslosen TextilarbeiterInnen von Raska nicht mehr vertreten haben. Mittlerweile gibt es den Verband auch in einigen anderen Städten von Sandzak; er nennt sich daher "Vereinigung der TextilarbeiterInnen von Novi Pazar, Sjenica und Tutin".

[9] Esad Nicevic ist Gewerkschaftskoordinator einer unabhängigen Gewerkschaft. Obwohl seine Zentrale in Belgrad den Kampf nicht unterstützt, steht er 100% dahinter. Er ist ein Vertrauter der Raska-ArbeiterInnen. Arbeitete vorher bei Iskrametall in Novi Pazar. Dort war er Sicherheitstechniker. 1991 arbeiteten 350 ArbeiterInnen bei Iskrametall. 2005 wird der Betrieb geschlossen, nachdem er 2004 privatisiert worden war.

Raute

Bahman Shafigh

Die Staatskrise in Iran

Entwurf für eine marxistische Analyse

Einleitung

Vier Monate nach den Präsidentschaftswahlen ist die Krise im politischen System Irans nicht nur nicht überwunden, sondern auch stärker denn je vorhanden. Auf den Straßen Teherans herrscht zwar Ruhe. Umso mehr hat sich die Krise tief in das System hineingebohrt. Das herrschende Establishment, samt seiner gesellschaftlichen Klientel, ist tief gespalten. Der während des Wahlkampfes entstandene Riss (siehe hierzu die Artikelserie "Da ist kein zweiter Mandela" in Trend-Online http://www.trend.infopartisan.net/trd0909/t1490909.html) zwischen den Kontrahenten hat sich nicht nur vergrößert, sondern auch weitere Bruchlinien entstehen lassen, die während des polarisierten Wahlkampfes noch nicht sichtbar waren. Es scheint so, dass innerhalb des Systems jeder mit jeden koaliert, um dann in nächster Sekunde diese Koalition aufzulösen und eine andere Koalition einzugehen. Die politische Bühne in Iran ähnelt einem bipolaren Magnetfeld mit vielen Partikeln, die sich um die zwei Pole hin und her bewegen. Einmal scheinen diese Partikel zerstreut zu sein und dann wieder sammeln sie sich um die zwei Pole. Es ist eine in der neuen iranischen Geschichte beispiellose wellenformige Bewegung mit Ebben, gefolgt von wiedererstarkten Fluten. Das Land findet keine Ruhe. In dem Kampf zwischen zwei großen Fronten mit vielen heterogenen Kräften scheinen sich alle bisher ungelösten Komplexe der iranischen Gesellschaft zu kristallisieren. Bei jeder Flut kann es zu einem finalen Krach zwischen diesen großen, bitter verfeindeten Lagern kommen.

Auf den ersten Blick, insbesondere aus der Sicht eines Europäers, geht es um den Kampf zwischen Reformlager und dem herrschenden Regime. Doch zeigt sich beim näheren Betrachten ein anderes Bild. Während die alten Probleme noch nicht gelöst sind, tauchen neue auf, die wiederum neue Konfrontationslinien auszeichnen. Die angeschlagene Opposition der "Grünen Welle", die angeblich die Herrschaft des Kleruns beklagt, hört nicht gleichzeitig auf, eben in diesem Klerus neue Verbündete zu suchen und der Regierung Ahmadinedschad die Verdrängung der Geistlichkeit aus dem gesellschaftlichen Leben vorzuwerfen. Dieser Klerus auf der anderen Seite, tief gespalten unter sich, führt starke Attacken gegen die angeblich zu säkularisierte Regierung, um dann im nächsten Atemzug einen anderen internen Kampf um die Auslegung der "Herrschaft des Gelehrten" auszutragen und sich gegenseitig der Unterminierung bzw. Diskreditierung des Islamischen Systems zu bezichtigen. Als ob dies nicht genug wäre, formieren sich starke Machtblöcke innerhalb des Parlaments und innerhalb anderer Organe des Regimes, um der gestärkten Position des Wahlgewinners einen Riegel vorzuschieben und womöglich bei nächster Gelegenheit den im Establishment ungeliebten Präsidenten durch ein parlamentarisches Verfahren des Amtes zu entheben. Und was macht eben dieser Gewinner? Er provoziert, statt nach Verbündteten zu suchen. Er beruft den bei den Hardlinern verhassten Mashaii - der Tourismus-Minister in seinem vorherigen Kabinett mit seinen umstrittenen Äußerungen über das "Israelische Volk" - zu seinem ersten Stellvertreter und hält tagelang an ihm fest und ignoriert sogar die Anweisung des religiösen Führers für seine Absetzung, um ein deutliches Zeichen zu setzen. Kaum ist dies aus der Welt, nominiert er auf einem Schlag gleich drei Frauen für Ministerposten und versetzt den ganzen erzkonservativen Klerus - und auch seine eigene Mentoren - in Rage. Hat er dann doch eine dieser Frauen durch das Parlament gebracht, setzt er kein Zeichen der Entspannung, sondern verbreitet die Nachricht, andere Frauen für Gouveneursposten benennen zu wollen. Doch damit nicht genug. Es werden Fragen über die grundsätzliche Ausrichtung des islamischen Staats und über das Verhältnis zwischen Staat und Religion gestellt und die bis dato geltenden Dogmen verworfen. Denn es ist nichts anders zu interpretieren, wenn der im Schiitentum so genannte verborgene heilige Imam Mahdi - der schiitische Messias - nun auf einmal nicht mehr alleine auferstehen soll, sondern in Begleitung des Jesus Christus. Die Aufgabe, die endgültige Rettung der menschlichen Gattung liegt nun auf den Schultern von beiden. Der politische Schulterschluss mit Chavez findet nun seinen religiösen Ausdruck.

Dies alles auf dem Hintergrund einer rasanten Entwicklung in der Beziehung zum Westen, die alle Beobachter erstaunen läßt. Auf einmal stehen auch dort die Dinge auf dem Kopf. Es ist mittlerweile so weit gekommen, dass der große Satan, die USA, einschreitet, um Spannungen zwischen Iran und Sarkozy's Frankreich zu schlichten. Offen sprechen beide Seiten über zunehmendes Vertrauen und über einen Neubeginn. In der Region selbst zeigen sich die Konturen einer gravierenden Machtverschiebung. Es bildet sich allmählich eine starke Achse unter Beteiligung der Türkei, Syriens, des Irak und natürlich Irans. Israel fühlt sich zunehmend isoliert und Teile der arabischen Dynastien werden vor die Wahl gestellt, aus Angst vor einem erstarkenden Iran sich offen mit Israel zu verbunden, während sich andere arabische Staaten wie Qatar doch langsam dieser neuen Konstellaltion annähern.

Kurzum, die Verhältnisse haben zu tanzen begonnen in allen Bereichen und in allen Richtungen. Und dies wirft viele Fragen über den Charakter der Ereignisse der letzten Monate in Iran auf. Es wird zunehmend deutlicher, dass diese Ereignisse weit mehr als einen einfachen Protest gegen einen angeblichen oder tatsächlichen Wahlbetrug darstellten. Ebenso waren sie viel mehr als einen einfachen Machtkapmf zwischen verschiednen Fraktionen des Islamischen Regimes. Nicht ohne Grund haben diese Ereignisse dermaßen die weltweite Aufmerksamkeit auf sich gezogen und auch im Westen eine hitzige Diskussion unter allen Akteuren der Politik, einschließlich der Linken, ausgelöst. Die Dimension der Ereignisse in Iran kann zu Recht als historisch bezeichnet werden; sowohl für das Land als auch für die Region und sogar für die Welt. Die innenpolitische Entwicklung in Iran ist eingebettet in einem internationalen Kontext mit enormer Bedeutung für die welweiten Machtkonstellationen. Einerseits wird mit dieser Entwicklung die politische Landschaft im Nahen Osten gründlich umgekrempelt. Der Nahostkonflikt bildet ein wesentliches Moment der innenpolitischen Entwicklung in Iran. Abhängig davon, wie sich der religiöse Staat in Iran weiter entwickelt, wird auch das Schicksal Israels und die Palästina-Frage mitbestimmt. Das Paradoxe besteht darin, dass sich Iran und Israel gegenseitig sowohl bedingen als auch bekämpfen. Ohne eine religiöse Wende in Iran wäre die zunehmende Religiösität in Israel nicht zu erklären, genau so wie ohne Israel die zunehmende Hinwendung Irans zur Religiösität nicht zu erklären ist. So brauchen sich die beiden als ideologische Rechtfertigung für ihr eigenes Selbstverständnis. Andererseits ist es klar, dass, je stärker die Position einer Seite in der Region wird, desto schwächer die der anderen Seite wird. Dies kann dann unabsehbare Folgen, nicht nur für die andere Seite, sondern auch für die ganze Region mit sich bringen, die alle Länder der Region in Mitleidenschaft ziehen würden. Und so kommt es auch, dass dieser Entwicklung eine weltweite Bedeutung zukommt. Als Hauptquelle der Energieversorgung für die Weltwirtschaft ist der Nahe Osten auf absehbare Zeit nicht zu ersetzen. Wer diese Region unter Kontrolle hat, hat auch sehr starke Karten in der Weltwirtschaft. Es ist mehr als verständlich, dass alle Big Player der Weltwirtschaft im Nahen Osten mitmischen und einen Kampf um die Beteiligung an der Vorherrschaft in dieser Region austragen. Hinzu kommt, dass hier auch die künftige Entwicklung des politisierten Islams, als ideologischer Gegenspieler des westlichen Liberalismus, mit entschieden wird. Wir haben diesen Aspekt im Teil 4 der oben erwähnten Artikelserie schon behandelt. Doch dürfen diese Aspekte der Entwicklung nicht ein anderes, wesentliches Moment der Entwicklung in Bezug auf der Entwicklung der iranischen Gesellschaft selbst verbergen. Was bedeuten diese Ereignissse für den Iran selbst? Aus welcher Sicht ist überhaupt ein Verständnis der Entwicklung möglich? Geht es hier um eine Konfrontation zwischen Modernität und Tradition oder zwischen Staat und Zivilgesellschaft? Welche Rolle spielen die gesellschaftlichen Klassen in diesem Konflikt, welche das Schicksal des Islams als eine Weltreligion? Wie sind die heutigen Ereignisse im Kontext einer historischen Entwicklung des Landes selbts zu begreifen? Eine Antwort auf diese Fragen ist nicht zuletzt deshalb wichtig, weil sie erstens eine klare Analyse der Situation ermöglichen und zweitens die Aussichten für eine künftige Entwicklung erhellen und drittens für die Orientierung der sozialistischen Linke entscheidend sind. Ich vertrete die Ansicht, dass die heutige Entwicklung in Iran eine Etappe im Übergang der iranischen Bourgeoisie und dementsprechend des iranischen Staats auf dem Weg zu einem hoch entwickelten kapitalistischen Systems mit einem entsprechenden Staatswesen darstellen. Die besondere Komplexität dieses Übergangs besteht in dessen Überkreuzung mit einem anderen, ebenso historischen, Übergangsprozess, nämlich dem Übergang des Islams von einem prä-kapitalistischen zu einem kapitalistischen Religionssystem. Dieser Aspekt ist nun meines Erachtens nicht ein von außen bzw. von außerhalb der Bourgeoisie agierenden Kräften ihr aufgebürdet. Vielmehr handelt es sich hierbei um die besondere Form der Entwicklung der iranischen Bourgeoisie selbst, um ihre immanenten Widersprüche, die zugleich ein Spiegelbild der im Konflikt zwischen Alt und Neu zerrissenen Gesellschaft darstellt. Dies versuchen wir in diesem Beitrag näher zu behandeln.


Staat und Gesellschaft: Die alte linke Debatte

Die Debatte um den Charakter des Staates und das Verhältnis Staat - Gesellschaft beschäftigt schon seit den Revolutionstagen des Jahres 1979 die Linke. Nach der Machtübernahme der Islamisten entstand eine völlig neue Situation, die in keinem der klassischen Lehrbüchern des Marxismus - oder wie die Linke damals betonte: Marxismus-Leninismus - zu finden war. Vor der Revolution herrschten diesbezüglich klare Linien. Je nach Zugehörigkeit zu den drei wichtigen Strömungen der sozialistischen Linke weltweit gab es auch entsprechende Antworten. Für die prosowjetische Linke war das Schah-Regime ein Regime der Finanzoligarchie, die ja nach Nähe oder Ferne zu den "sozialistischen Bruderstaaten" mehr oder weniger fortschrittliche Elemente enthielt. Für den Großteil der Maoisten hingegen war es ein Staat in halb feudalem, halb kolonialem Zustand. Mit der Entstehung der Guerilla-Bewegung der Volksfedayin entstanden die ersten Risse in diesem Bild. Der Begriff "abhängiger Kapitalismus" fand in der linken Debatte zunehmend mehr Verbreitung. Gemeinsam war allen drei Strömungen, dass sie in ihrer Analyse des Staates Raum für eine fortschrittliche nationale Bourgeoisie einräumten, wenn auch mit unterschiedlichen Schlussfolgerungen. Die Abhängigkeitstheorie ließ auch die Schlussfolgerung zu, die Existenz einer fortschrittlichen nationalen Bourgeoisie zu verneinen. Fragen wie die Struktur des Staates und die der konkreten Formen der Akkumulation und des Verhältnisses Kapital - Arbeit spielten bei alle drei Sichtweisen keine Rolle. Der zentrale Begriff all dieser Strömungen war "das Volk". Das Volk bildete der Ausgangspunkt und den Zweck des Kampfes und auch des Denkens.

Die soziale Explosion der Revolutionsjahre hat vieles in diesem Denkgebilde durcheinander gewirbelt. Auf einmal waren Kräfte auf der gesellschaftlichen Bühne erschienen, denen in den bisherigen Denkmustern der Linken höchstens eine untergeordnete Stelle eingeräumt wurde. Da war eine erstarkte Arbeiterklasse, die in Gestalt der Ölarbeiter mit einem Generalstreik das Rückgrat des Schah-Regimes brach und da war auf einmal eine sehr starke religiöse Strömung, die sich nicht nur mit der ungeliebten Rolle der braven "Verbündeten" nicht zufrieden gab, sondern auch vielmehr die Herrschaft in der ganzen Gesellschaft anstrebte. Schien das Erscheinen des Proletariats als ein Dolchstoß für all jene Theorien, die das Proletariat im Gefüge des "Volkes" als eine Kraft der nationalen Befreiung in Allianz mit der nationale Bourgeoisie gesehen hatten, passte das unerklärliche Erscheinen des politischen Islams mit der sehr gut organisierten Geistlichkeit an deren Spitze gar nicht in diese Theorien hinein. Dies war weder eine klassisch reaktionäre Geistlichkeit, noch eine den gesellschaftlichen Klassen zuzuordnende Strömung. Sie entsprach nicht den klassischen Bildern einer reaktionären Kraft, weil sie sich offensichtlich von ihren traditionellen Bindungen mit den vorkapitalistischen Verhältnissen und deren Trägern, den Grundeigentümern, gelöst hatte. Außerdem spiegelte das Frauenbild dieser religiösen Bewegung nicht mehr das traditionelle Frauenbild der geistlichen Hierarchie, für die Frauen nur in die Küche gehörten. Diese religiöse Strömung mit Khomeini an deren Spitze zeigte Merkmale, die den bis dato herrschenden Klischees offen widersprachen. Sie richtete sich in ihrer Propaganda an die verarmten Bevölkerung, war gegen den Imperialismus und brachte vor allem auch Frauen - wenn auch verhüllt - in Scharen auf die Straßen. Die heile Welt der linken Vorstellungen war zusammengebrochen. Anstatt der klaren Pseudo-Antworten auf alle gesellschaftlichen Fragen auf Basis der herrschenden Denkmuster trat jetzt Ratlosigkeit auf. Die Scheinantworten reichten nicht dafür aus, sich inmitten eines gewaltigen Umbruchs richtig zu positionieren und eine gesellschaftlich relevante Rolle zu übernehmen. So begann die Leidenszeit der sozialistischen Linke in Iran.

Die zentrale Frage bei dieser Verwirrung war eben die Charakterisierung des neuen Staats, an dessen Spitze nun der Klerus stand. Abgesehen von der kindischen Euphorie, es handele sich hier um die Februar-Revolution - in Anspielung auf die Russische Revolution 1917 -, die bald mit einer Oktober-Revolution abgeschlossen werde, herrschte vor allem Ratlosigkeit in der Anerkennung und Erklärung der neuen Situation. Es begann eine Zeit der Debatten unter den Linken, die dann mit dem großen Massaker im Jahre 1981 abrupt beendet wurde. Dies war ein fruchtbarer Prozess mit vielen neuen Denkansätzen, die zwar noch erhebliche Mängel in der theoretischen Erfassung neuer Verhältnisse aufwiesen, trotzdem aber eine bis heute einmalige Ära der schwungvollen Entwicklung der Linken darstellten. Ein Überblick über die Diskussion und die Mängel dieser Versuche in der Frage der Charakterisierung des Staates kann auch ein Licht auf die heutigen Auseinandersetzungen werfen und ein besseres Verständnis der Ereignisse im heutigen Iran ermöglichen. Diesen Irrtümern begegnen wir noch heute, trotz gründlicher Verschiebung des herrschenden Diskurses.

In der theoretischen Auseinandersetzung um das Wesen des Staates bildeten sich im Großen und Ganzen fünf verschiedene analytische Muster heraus. Am meisten Verbreitung fand zunächst die Ansicht, das Regime wäre im wesentlichen ein kleinbürgerliches Regime, da die treibende Kraft des Regimes, die Geistlichkeit, eben durch ihr soziales Netz mit der traditionellen Schicht des Kleinbürgertums auf den Städten und in den ländlichen Gebieten verbunden sei und deren Interessen vertrete. Dieser Ansatz passte am besten der Strategie der Tudeh Partei, die damit einerseits für sich die Vertretung der Arbeiterklasse in Anspruch nahm und andererseits mit dieser Analyse das entsprechende Instrument für ihre verheerende Politik der Unterstützung des Regimes fand. Die Analyse der Tudeh Partei sah auch eine Beteiligung der Kräfte aus dem traditionellen Bazar, der so genannten Handelskapitalisten, und der liberalen Bourgeoisie um den ersten Ministerpräsidenten des Landes Bazargan an der Macht. Diese "reaktionären Kräfte" waren es, die die reaktionäre Seite des an sich revolutionären Kleinbürgertums anstachelten und es zu bestimmten reaktionären Maßnahmen trieben. Insbesondere die Dämonisierung der Liberalen diente in dieser Analyse zur Diffamierung jeglichen Kampfes für die bürgerlichen Freiheiten, die eben durch diese "Liberale" betrieben würden, um den "Antiimperialistischen Kampf" des revolutionären Kleinbürgertums um Ajatollah Khomeini zu schwächen.

Was aber für die Tudeh Partei als Ergänzung in der Analyse auftauchte, bildete selbst einen eigenständigen Ansatz. Dieser zweite Ansatz, der später das theoretische Gerüst für die große Spaltung innerhalb der Volksfedayin bot, sah im Regime vor allem eine Vertretung des im traditionellen Bazar ansässigen Handelskapitals. Dieses Handelskapital, das mehr die Charakteristik eines vorkapitalistischen Wucherkapitals annahm, wurde als Quelle allen Übels bezeichnet. Der reaktionäre Charakter des Regimes wurde durch dieses Handelskapital bestimmt, das seit je her enge Verbindungen mit der Geistlichkeit pflegte und deren Haupteinnahmequelle bildete. Das Kleinbürgertum wurde dann als eine Masse ohne Bewusstsein bezeichnet, die diesem Handelskapital entgegen ihren eigenen Interessen folgte. Selbstverständlich ist auch dieses Handelskapital für die industrielle Rückständigkeit des Landes verantwortlich zu machen, da es auf Kosten der Industrie existiere und das Land durch die Beherrschung des Außen- wie Großhandel ausbeute. Diese Analyse übersah völlig die unter kapitalistischen Verhältnissen gewandelte Rolle des Handelskapitals als dem industriellen Kapital dienendes Kapital. Wir werden später sehen, dass bereits unter Schah die Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise ein Stadium erreicht hatte, in der die kapitalistische Subsumtion der Arbeit die Oberhand gewonnen hatte. Dies wurde aber plump übersehen, um das Klischee eines industriefeindlichen Kapitals aufrechtzuerhalten. Diese Auffassung entsprach am besten den Interessen des industriellen Kapitals und dem seit langem bestehenden, nationalistisch motivierten Wunsch nach schnellem industriellem Fortschritt. Deshalb hat dieser Ansatz weit über die organisierte Linke Anhänger gefunden. Viele der ehemaligen Wirtschaftstheoretiker der Entwicklungsschule fanden in dieser Analyse das richtige Mittel für ihre Arbeit und schufen in den Folgejahren eine beachtenswerte Literatur für diesen Ansatz. Die "linken" Wirtschaftstheoretiker bildeten nach der Niederschlagung der organisierten Linke für lange Zeit die Hauptströmung im wirtschaftlichen Denken des Landes und forcierten so die auf den Binnenmarkt orientierte Wirtschaftspolitik des Landes.

Ein dritter, neuer Ansatz analysierte den Staat als einen Ausnahmestaat, der über den Klassen stehe. Entweder in der Form des klassischen Bonapartismus nach Marx'scher Analyse des Französischen Staats im 18. Brumaire oder in abgewandelter Form eines über den Klassen stehenden Kastensystem des Klerus postulierte dieser Ansatz eine nach beiden Seiten des Widerspruchs zwischen Kapital und Arbeit offene Politik des Regimes, die in erster Linie den besonderen Interessen der regierenden Kaste verpflichtet sei. Der offensichtlich reaktionäre Charakter des Regimes in Bezug auf die Organisierung der Arbeitsverhältnisse wurde dann mit Hinweis auf den vorkapitalistischen Ursprung der Regierenden erklärt. Hauptverfechter dieser Ansicht war die aus Kreisen der Volksfedayin abgespaltene Organisation Rahe-Kargar, die noch immer existiert und ähnliche Ansichten, in abgewandelter Form, vertritt. Die Analyse übersah völlig die Verschiebung der Machtverhältnisse zu Ungunsten der Arbeiterklasse und den beginnenden Prozess der Intensivierung der kapitalistischen Verhältnisse, von der wir später mehr sprechen. Das Neue an diesem Ansatz war, dass er sich erstmals in der iranischen Linke direkt auf Marx bezog und die bis dahin übliche Bezugnahme auf Lenin oder Mao hinter sich gelassen hat. Eine andere Strömung, die ebenso ähnliche Ansichten vertrat und das Regime als "populistisch" charakterisierte, ging sogar auf die im Westen diskutierten Theorien eines Poulantzas oder Althussers ein, was für die iranische Linke ein völliges Neuland bedeutete.

Selbstverständlich gab es auch Kreise, die das Regime als eine vorkapitalistische Reaktion bezeichneten und ihm jeglichen Bezug zum modernen Kapitalismus absprachen. Dieser Ansatz hat zwar als Bestandteil anderer Ansätze schon eine Rolle gespielt, als eigenständiger Ansatz hat er doch keine Bedeutung erlangt. Er war offensichtlich zu sehr mit den Interessen der gebildeten Mittelschicht identisch und konnte in der damals überwiegend entweder radikalen oder konservativen Linke nicht richtig Fuß fassen. In der Tat war dieser Ansicht mehr in jenen Kreisen verbreitet, die aus der Radikalisierung der Teile der bürgerlichen Nationalfront entstand.

Wir sehen hier von einem marginalen Ansatz ab, der das Regime als "Lakaien des Imperialismus" bezeichnete und schließen diesen Rückblick mit dem letzten relevanten Ansatz ab, der noch lange Zeit die Weiterentwicklung der iranischen Linke seinen Stempel aufdrucken sollte. Die Unzulänglichkeiten aller bisher erwähnten Ansätze beobachtend, kam ein kleiner Kreis der Linken zu einem völlig anderen Ansatz. Bestand die Schwierigkeit darin, das Verhältnis von Politik und Wirtschaft in der Analyse des Staats zu definieren, sah dieser neue Ansatz die Lösung darin, den Faktor Wirtschaft aus der Analyse des Staates zu entfernen und die Analyse allein auf dem Feld der Politik zu verlagern. So könnte nämlich der politische Kampf der Klassen in den Mittelpunkt der Analyse gerückt werden. Die Formel für die Charakterisierung des Staates lautete nun "Bourgeois-imperialistische Reaktion". Diese "Bourgeois-imperialistische Reaktion" wurde in erster Linie politisch, als Instrument der Bekämpfung der Revolution definiert. Nicht mehr die Struktur des Regimes und dessen Verhältnis mit den Kapitaleigentümern waren wichtig, sondern die Funktionalität des Regimes als Ordnungsfaktor. Da diese Ordnung aber schließlich die Revolution beenden würde und den Hintergrund für eine Kapitalakkumulation des Kapitals bereiten sollte und da das Kapital jetzt als Weltkapital fungiere, heißt dies nicht anderes, als den Interessen des Imperialismus zu dienen, also eine im Gefüge des weltweiten Imperialismus eingebettete Konterrevolutionäre Herrschaftsstruktur. Damit waren viele Schwierigkeiten der Analyse einfach beiseite geschoben und das Augenmerk auf das wesentliche, nämlich das politische Handeln, gelenkt. Die Gruppe, die diese Ansicht vertrat war keine andere als die "Vereinigung der Kommunistischen Kämpfer" (Ettehade Mobarezan-e Kommunist - EMK), die später durch die Vereinigung mit der in Kurdistan sehr einflussreichen linken Organisation "Komala" die "Kommunistische Partei Irans" gründen sollte. Gerade nach der Niederschlagung der Linken in Iran Anfang der 80er Jahre sollte diese Partei großen Einfluss auf die gesamte Linke in Iran gewinnen. Sie war die einzige linke Organisation die, gestützt auf vorhandene Möglichkeiten in Kurdistan, lange Zeit eine dominierende Rolle in der Linke spielen sollte.

Die Postulierung des Staates als "bourgeois-imperialistisch" konnte natürlich nicht lange hinhalten, da allein die Besetzung der amerikanischen Botschaft durch regimetreue Studenten viele Fragen aufwarf. Ein theoretisches Werk musste diese Analyse nun flankieren und den Kern ihrer Aussage, nämlich die Konzentration auf Politik, aufarbeiten und ihn von der unnötigen Ballast befreien, der mit dem Begriff "bourgeois-imperialistisch" verbunden war. Dieses Werk lieferte Mansur Hekmat in seiner Broschüre "Staat in revolutionären Phasen". Er vertrat hier die Ansicht, der Staat sei in Zeiten des revolutionären Umbruchs ausschließlich als ein politisches Instrument im Klassenkampf zu betrachten. Alle andere Fragen, das Verhältnis zu den Klassen, die konkreten Bedürfnisse des gesellschaftlichen Kapitals oder die Interessen verschiedener Schichten der herrschenden Klassen seien hier zu vernachlässigende Größen. Damit war ein theoretisches Werkzeug geschaffen, das der Fortsetzung des politischen Kampfes am besten entsprach und sich nicht im Wirrwarr der Erklärungen aufhielt. Das war der Beginn einer Tradition der Ausblendung der Realitäten mit verheerenden Folgen für große Teile der Linken. Während sich durch den Umsturz des Schah-Regimes und die Machtübernahme der in der Gesellschaft weitaus stärker verankerten islamischen Bewegung einen Wandel im gesamten gesellschaftlichen Leben und vor allem in den Formen der Akkumulation und in der Weiterentwicklung der bürgerlichen Klasse vollzog, konzentrierte sich die Linke auf den politischen Kampf mit dem Regime, ohne die Auswirkungen dieses Wandels annähernd einzuschätzen und sie in ihre Analyse des Staates mit einzubeziehen. Wir werden sehen, wie sich dieser Ansatz in den neueren Debatten der Linken entwickelt hat und zu welchen Schwierigkeiten bzw. Folgen für diese Linke er führte. Doch bevor wir uns damit beschäftigen, sollten wir eine Bilanz dieser ersten Periode der linken Debatten ziehen.

Als erstes möchte ich die Vitalität dieser Zeit hervorheben. Insbesondere was die radikale Linke betraf, war das Bemühen um die Suche nach Wahrheit spürbar und sichtbar. Allein die neuen angeführten Ansätze verdienen Anerkennung und zeigen doch, dass hier eine Generation der jungen Menschen mit hehren Idealen auf der Suche nach einer besseren Welt war. Es ist keineswegs auszuschließen, dass dieser Prozess in die Bildung einer emanzipatorischen kommunistischen Bewegung geführt hätte. Dass es nicht dazu gekommen ist, ist wesentlich dem Umstand geschuldet, dass diese Linke brutalst niedergeschlagen wurde. Tausende der besten Frauen und Männer dieser Generation wurden hingerichtet und Abertausende mussten jahrelang untertauchen, bevor sie den Weg ins Exil fanden. Dies war ein Schnitt in der Entwicklung, der die Linke um Jahrzehnte zurück warf. Alle Kritik darf nicht diesen Aspekt überschatten. Für die Diskussion hier ist aber die kritische Aufarbeitung von Bedeutung.

Trotz aller Unterschiede im Ausgangspunkt und Ergebnis der Analyse des Staates in verschiedenen linken Formationen gibt es zweierlei Gemeinsamkeiten. Zum einen ist der herrschende Diskurs ein marxistischer. Zwar sind die Ansätze weit davon entfernt, mit den Maßstäben der Marx'schen Theorie bewertet zu werden. Doch die Begrifflichkeit, mit der die Richtigkeit der Analyse bewiesen werden soll, lehnt sich an marxistische Terminologie an. Dies war über die Linke hinaus ein Merkmal fast aller gesellschaftlichen Diskussionen in dieser Zeitspanne, die religiösen Kräfte eingeschlossen. Erst Jahre später hat sich dies geändert.

Die zweite Gemeinsamkeit war jedoch wesentlich wichtiger und bezog sich nicht nur auf die Form, sondern auch auf den Inhalt der Analysen. Keiner der damaligen Ansätze hat die Klasse der Kapitalbesitzer, die Bourgeoisie, als Ganzes in die Analyse mit hineinbezogen. Sie haben entweder überhaupt eine Verbindung zwischen dem neuen islamischen Staat und der iranischen Bourgeoisie bestritten oder die Klasse nur partiell in die Analyse eingeführt bzw. eine durch die Politik vermittelte Vertretung der Bourgeoisie im Allgemeinen konstatiert, ohne die konkreten Formen der Klassenvertretung zu analysieren. So weit Bourgeoisie in der Analyse auftauchte, war für die erste Gruppe die Klientelpolitik für diese oder jene Fraktion der Bourgeoisie der Beweis für den bürgerlichen Charakter des Regimes. Für Andere lieferte hingegen die arbeiterfeindliche Haltung des neuen Regimes den Beweis für dessen bürgerliche Charakter. Der Kern, die Masse des Regimes, wurde in keiner der Ansätze mit Bourgoeisie in Verbindung gebracht. Die Klasse der Bourgeoisie kam entweder nicht als handelnder Faktor vor oder trat nur in Gestalt der oben genannten Liberalen oder Großhändler des Bazars in Erscheinung. Sie wurde als nicht-religiös von der Analyse ausgenommen. Da das Regime jedoch offensichtlich ein stark religiöses ideologisches Gebilde war, sah die Linke hier nicht die Möglichkeit, es mit der Bourgeoisie in Verbindung zu bringen. Die Bildung des islamischen Staats wurde nicht in Folge eines historisch bedingten Prozesses gesehen, sondern mit anderen Erklärungsmustern gedeutet. Von der Unterstützung der imperialistischen Ländern, die eine linke Revolution verhindern wollten (man darf nicht den Zeitpunkt vergessen: 1979 Revolution in Nicaragua und davor die Machtübernahme der pro-sowjetischen Kräfte in Afghanistan), bis hin zu Erklärungen, die die im ganzen Land straff organisierte Geistlichkeit als Ursache für diesen Wandel gesehen hatten. Die Möglichkeit wurde überhaupt nicht in Betracht gezogen, dass dies hier ein aus der Entwicklung der iranischen Bourgeoisie selbst entstandenes Regime sein könnte.

Zwei Gründe sind für diese Fehleinschätzung zu benennen. Zum einen fehlte es der Linke damals an den theoretischen Grundlagen. Alle redeten zwar von Marxismus, kaum jemand kannte jedoch die Originaltexte von Marx. Es gab wenige Übersetzungen des Marx'schen Werkes überhaupt und dies auch vor allem im Ausland. In Iran selbst war der Besitz solcher Texte strafbar. Am Vorabend der Revolution gab es in Iran einen legalen Marxismus, der eine Mixtur von Marx und Weber als marxistische Soziologie präsentierte und sehr deutliche positivistische Züge zeigte. Außerdem war die iranische Linke stark von den zwei Schulen des Sowjet-Marxismus und des Marxismus chinesischer Prägung beeinflußt. Die kritisch denkenden Linken waren hingegen von der Entwicklungsschule beeinflusst, die dann selbst keinen klassenorientierten Ansatz vertrat. Dies alles führte dazu, dass die Analyse des Staats nicht entlang des Widerspruchs zwischen Kapital und Arbeit erfolgte. Nicht die kapitalistische Entwicklung des Landes und die Formen und Bedürfnisse der Akkumulation standen im Mittelpunkt der Analyse, sondern die Besonderheiten einer industriellen Entwicklung, die die Unabhängigkeit vom Imperialismus als Ziel vor Auge hatte. Die Linke hatte zwar den kapitalistischen Charakter des iranischen Staats offiziell anerkannt. Doch dies war mehr dem Druck der Realität zu verdanken und entsprang keinem theoretischen Vertständnis der Verhältnisse. Deshalb hat die Linke die Besonderheiten dieses Kapitalismus immer wieder dermaßen hervorgehoben, nämlich, dass es praktisch zu denselben Lösungen kam, die vorher schon für eine nicht-kapitalistische Gesellschaft vorgesehen waren. Besonderheiten wie der parasitäre Charakter eines abhängigen Kapitalismus oder die Unterentwicklung der Agrikultur und der heimischen Industrie waren für die Linke viel wichtiger als der Gegensatz zwischen Arbeit und Kapital. Diejenigen Teile der Linken, die diese Vorstellungen kritisierten und sie zurecht als Ausdruck der Wünsche der Bourgeoisie bezeichneten, kamen selbst nicht darüber hinaus, die Funktion des Staates mit der Gewährleistung der allgemeinen Bedingungen der Akkumulation zu erklären.

Der zweite Grund für diese Fehleinschätzung bestand darin, dass die Linke als aktiver Akteur der politischen Ereignisse einfach sich weigerte, für das Regime eine gesellschaftliche Verankerung einzuräumen. Die Masse der Regimeanhänger wurde als eine Masse ohne Bewusstsein bezeichnet, die es aufzuklären galt. Eine Verbindung zwischen Bourgeoisie und dem Regime würde bedeuten, diesem Regime eine Überlebenschance einzuräumen. Und dies war - und ist nach wie vor - etwas, das die Linke nicht anerkennen konnte. Deshalb waren große Teile der Linken immer bemüht, die angebliche Unfähigkeit des Regimes hervorzuheben, die kapitalistische Maschinerie in Gang zu setzen und für ordentliche Akkumulation des Kapitals zu sorgen. Wir werden sehen, dass sich diese Tendenz im Exil enorm verstärkte.


Staat und Gesellschaft: Die neue linke Debatte

Die Zerschlagung der linken Organisationen hatte gravierende Folgen für die Entwicklung der sozialistischen Linken insgesamt. Abgesehen von der physischen Eliminierung tausender, zum Teil erfahrener Aktivisten durch Hinrichtungen wurde der Rest aus dem Lande gedrängt. Praktisch war die radikale Linke nach kurzer Zeit nicht mehr in der Lage, sich direkt mit der gesellschaftlichen Entwicklung auseinanderzusetzen. Die Unterdrückung erfasste kurze Zeit später auch diejenigen Teile der Linken, die sich für eine regimefreundliche Politik entschieden und damit selbst als Gehilfe des Regimes bei der Unterdrückung fortschrittlicher Bewegungen agiert hatten.

Diese räumliche Trennung der Linken von der Gesellschaft konnte nicht ohne Auswirkungen in der Entfaltung von linken Ideen bleiben. Diese Zeitspanne war vor allem ein gewaltsamer Schnitt in der Entwicklung der Linken. Die fruchtbare Debatte der ersten Jahre gehörten nun der Vergangenheit an. Die Linke fing an, auf der Stelle zu treten und verschlief die Entwicklung im Inland. Während jede Entscheidung des nun gefestigten Regimes die Struktur der Gesellschaft und vor allem die Lage der zwei wichtigsten Klassen der Kapitalbesitzer und der Arbeiter änderte und eine detaillierte Aufmerksamkeit erforderte, konzentrierte sich die Linke auf die Losung der so genannten revolutionären Phase gegen das Regime im Ganzen. Alles andere verschwand aus dem Blick dieser im Exil lebenden Linken; auch die Debatte über den Charakter des Staates. Die Linke hat sich reduziert in eine Anti-Regime-Bewegung im Exil. Erst Jahre später sollte sich diese Lage ändern. Wir werden darüber auch berichten.

In Iran selbst hat sich nach dieser ersten großen Welle der Repressionen langsam ein fragiler Kreis eines legalen Marxismus gebildet. Es handelte sich hierbei vor allem um linke Akademiker, Sozialwissenschaftler und Schriftsteller, die politisch am Rande der Geschehen standen und mit unterschiedlichen Fraktionen der Volksfedayin oder der Tudeh Partei sympathisierten. Im Gegensatz zu den Linken im Ausland mussten sich diese Menschen mit Fragen der Tagespolitik auseinandersetzen und brauchten dafür auch die notwendigen theoretischen Grundlagen. Selbstverständlich mussten auch diese Grundlagen die Bedingungen der Repression in Rechnung stellen. Diese Voraussetzungen waren in jenem Ansatz zu sehen, der das Regime als Interessenvertreter eines bestimmten Flügels des Kapitals gesehen hatte und die Förderung der heimischen Industrie und überhaupt des industriellen Kapitals als Voraussetzung für eine gerechtere, gesündere Gesellschaft ansah. Flankiert mit Debatten über Korruption und Vetternwirtschaft hat sich diese Schule allmählich etabliert und bis weit ins Regime selbst hinein Anhänger gefunden. In all den Jahren der Auseinandersetzung mit neo-liberaler Lehren und Politik haben diese Kräfte praktisch ein gesellschaftliches Gegengewicht gebildet. Politisch kamen bestimmte Kreise dieser legalen Linke später in Verbindung mit der so genannten Reformbewegung und haben versucht, im Rahmen dieser Reformbewegung die Interessen der Arbeiter zu vertreten, in dem sie die Gründung freier Gewerkschaften forderten und auch Arbeiteraktivisten bei Auseinandersetzungen mit dem Staat rechtlich und politisch unterstützten. Doch der Debatte über Staat konnten sie keinen weiteren Schub geben.

Dies änderte sich erst nach dem Aufstieg des so genannten Reformflügels des Regimes um den Präsidenten Khatami im Jahre 1997. Der Schock dieser Wahl war bei den radikalen Linken deshalb so groß, weil es dem Regime zum ersten Mal nach den ersten Jahren der Machtübernahme gelungen war, große Massen der Bevölkerung an die Wahlurnen zu mobilisieren. Die Frage des Verhältnisses des Staates mit der Gesellschaft wurde bis dahin von den Linken im Ausland auch deshalb ignoriert, weil die Linke im Regime eine illegitime Institution sah, die die Macht unberechtigt an sich gerissen hatte und über keinerlei beachtliche Basis in der Gesellschaft selbst verfügte. Tatsächlich war die Politik des Regimes ab einem gewissen Zeitpunkt eher dadurch bestimmt, die Wahlen als Formalien abzuhalten und die Dinge über vertraute Kanäle innerhalb des Systems lösen zu wollen. Dieses Politikverständnis basierte auf eine Minimalbeteiligung der Menschen an den verschiedenen Wahlen zur Präsidentschaft, zu Parlament und zu sonstigen Organen des Staates. Insbesondere in der Zeit nach dem Ende des Krieges sah das Regime in der Politisierung der Gesellschaft eine mögliche Gefahrenquelle. Die durch solche Politik erweckten Erwartungen könnten ungeahnte Sprengkraft frei setzen. Doch die Ereignisse gegen Ende der zweiten Amtsperiode von Präsident Rafsandschani, Mitte der 90er Jahre, haben das Regime eines Besseren belehrt. Heftige soziale Unruhen in einigen Städten des Landes mit aufrührerischem Charakter, in denen zum Teil sogar Waffengewalt gegen die Sicherheitskräfte angewendet wurde, haben den Ernst der Lage deutlich gemacht. Vor allem waren es die Werktätigen, die an den Rand gedrängte Bevölkerung, von denen diese Unruhen ausgegangen waren und die Alarmglocken beim Regime hatten schrillen lassen. Andererseits hatte die Entwicklung unter Rafsandschani eine bereite Schicht des vom Regime begünstigten Mittelstands geschaffen, der nun als erweiterte Basis für das Regime dienen konnte. Deshalb die Hinwendung des Regimes zu einer Umgestaltung des Staates.

Der Start dieser zweiten Debatte über den Staat stand jedoch unter einem völlig anderen Zeichen als bei der ersten Phase. Nicht nur in Iran hatte sich eine Verschiebung der Kräfte ereignet, sondern auch weltweit hatte sich der politisch-ideologische Diskurs völlig verändert. Bei der ersten, oben erwähnten, Debatte war der Marxismus der absolut herrschende Diskurs. Bei dieser neu beginnenden Debatte jedoch war von dieser Dominanz des Marxismus keine Rede mehr. Im Gegenteil, auf gesellschaftliche Ebene war die marxistisch orientierte Linke schon längst marginalisiert, auch wenn sie dies nicht wahrgenommen hat. Von 1980 bis 1997 hatten sich in der Welt Ereignisse von historischer Bedeutung vollzogen, die die gesamte ideologische Landschaft tief verändert hatten. Der Fall der Berliner Mauer 1989 und der folgende Zerfall des Sozialistischen Blocks haben sowohl die Idee des Sozialismus als auch den Marxismus diskreditiert und dem Liberalismus in neuer Prägung, also den Neo-Liberalismus, zu einer unverhofften Auferstehung verholfen. Dies hatte auch in Iran nicht nur Spuren hinterlassen, sondern auch den Boden für eine Verschiebung des ideologischen Koordinaten der ganze Gesellschaft, weg von marxistisch dominierter Denkweise hin zu einer liberalen Weltanschauung, bereitet. Dieser Prozess war in Iran nicht nur eine ideologische Umwälzung. Er fand mitten in einer gesellschaftlichen Umstrukturierung statt.

Der Mauerfall fiel mitten in die erste Amtsperiode des Präsidenten Rafsandschani. Rafsandschani hatte das Amt des Präsidenten nach einer Änderung der Verfassung und Abschaffung des Postens des Ministerpräsidenten - den bis dahin der jetzige Oppositionsführer Mussawi bekleidete - übernommen. Diese Änderung erweiterte die Machtkompetenz des Präsidenten und war für Rafsandschani der Hintergrund für ein Umkrempeln der Gesellschaft als ganze. Im Mittelpunkt seiner Politik stand der Wiederaufbau des vom Krieg gebeutelten Landes. Dafür müsste die quasi-revolutionäre Rhetorik der Revolutionszeit einem Pragmatismus weichen. Nicht mehr die angeblichen "revolutionären Werte" zählten, sondern das Prinzip Leistung. Zum ersten Mal in der Geschichte des iranischen Kapitalismus waren die Werte des Kapitalismus zu bestimmenden offiziellen Bewegmotiven der Gesellschaft empor erkoren. Dafür musste sich das Land dem international agierenden Kapital öffnen und die nötigen "Reformen" für den Anschluss an die Welthandelsorganisation in Angriff nehmen. Mitten in diesem beginnenden Prozess fiel die Mauer. Welchen Schub dieser Mauerfall dem laufenden Prozess in Iran verlieh, dürfte keine weitere Erläuterung brauchen. In der Tat waren die acht Jahre von Rafsandschani die intensivsten Jahre der Entwicklung des Kapitalismus in Iran. Wir werden über die Details später noch mehr sprechen. Doch was das Verständnis des ideologischen Kontexts angeht, ist hier zu betonen, dass der moderne, kapitalistische, gewinnorientierte, individualistische Typus Mensch in dieser Zeit des Wiederaufbaus in Iran geboren wurde. Dies war eine tiefe Zäsur in der Entwicklung der iranischen Gesellschaft, die langfristige Folgen haben sollte.

Rafsandschani selbst verfolgte das Modell der Chinesischen Entwicklung: höchster Grad an ökonomischer Freiheit ohne politische Öffnung. Das Scheitern der Perestroika in der Sowjetunion bestätigte diesen Kurs. Doch auf kulturell-ideologischer Ebene begann schon in dieser Zeit eine noch nie da gewesene Bewegung. Stand bis dahin die gesamte Literatur des Landes in einem linken Diskurs, so änderte sich dies gravierend. Nicht nur die Romane Maxim Gorkis oder die Stücke Brechts waren gefragt, sondern auch Milan Kundera wurde übersetzt und in hoher Auflage verlegt. 1979 sagte man, dass die frisch erschienen ausgewählte Werke von Lenin über 1 Million Käufer fanden. Mitten in der Aufbauzeit haben die in wenigen Auflagen erscheinenden marxistischen Bücher - unter anderem auch die "Grundrisse" - ihre Abnehmer überwiegend im Ausland gefunden. Diese Bücher gingen trotz dem kaum in eine zweite Auflage. Ein Liebesroman einer Frau Hadsch-Seied-Javadi wurde jedoch allein im ersten Jahr über 700.000 Mal verkauft. Sie wurde zu Pflichtlektüre jedes Schulmädchens und zum Zeichen der kulturellen Bildung. Dabei handelt es sich um die Liebe einer aus gehobener Familie stammenden jungen Frau, die trotz des Widerstandes ihrer Familie aus Liebe einen aus einer verarmten Familie stammenden jungen Mann heiratet, der sich nicht nur kulturell als rückständig erweist, sondern auch als frauenfeindlich. Selbstverständlich ist der Mann auch ein religiöser, treuer Regime-Anhänger. Dies war das neue, sich verbreitende Menschenbild in Iran des Endes der 90er Jahre.

Diese kulturelle Bewegung fand nicht nur in der Literatur statt, sondern auch in den Sozialwissenschaften. Haben sich die marxistisch orientierten Bücher schwer absetzen lassen, so haben sich im Gegensatz die bürgerlich-elitistischen Studien verkauft wie die warmen Semmeln. Nicht selten haben solche Werke in einem Jahr die 10. Auflage erreicht. Darüber hinaus ist eine neue, richtige Bewegung in der Übersetzung von Hauptwerken des Liberalismus, der Aufklärung und der abendländischen Philosophie entstanden. 1979 gab es von Hegel nur ein einzige Übersetzung von "Die Rolle der Vernunft in der Geschichte", Ende der 90er waren fast alle seine Werke ins Persische übersetzt und manche sogar doppelt. Von Immanuel Kant gab es 1979 keine einzige Übersetzung, Ende der 90er jedoch entbrannte eine Diskussion unter Fachleuten über den unterschiedlichen Stil, den zwei verschiedene Übersetzer für das Hauptwerk von Kant, "Die Kritik der reinen Vernunft", verwendet hatten. Fast so war es auch mit den zahlreichen Werken von Nietzsche, Spinoza, Locke, Hobbes, Habermas, Adorno, Foucault, Heidegger, usw. Dieser Trend setzte sich nach der Wahl Khatamis zum Präsidenten verstärkt fort. Unter diesem Zeichen begann die zweite Welle der linken Debatte über den Staat.

Mit der Wahl Khatamis entbrannte eine Diskussion in allen Fraktionen der Linken im In- und im Ausland. Während sich die Debatte in der reformistischen und reformistisch orientierten Linken zunehmend darauf konzentrierte, ob und in wie weit der Reformflügel des Regimes zu unterstützten sei, nahm die Debatte in der radikalen Linke einen anderen Verlauf. Hier begann eine erneute Debatte über den Charakter des Staates. Es war zumindest Teilen der Linken klar, dass die bisherigen Erklärungen nicht mehr der Lage gerecht wurden.

Die wichtigste Auseinandersetzung fand in der Arbeiterkommunistischen Partei Irans (AKP) statt, damals die größte linke Organisation im Ausland. Während die offizielle Parteilinie die Wahlen nach wie vor als Phrase bezeichnete und darin vor allem die Gefahr sah, dass die reformistische Linke erneut zur Politik der Unterstützung des Regimes übergehen würde, gingen Kreise in der Partei - unter anderem auch der Verfasser dieser Schrift - weit über diese politische Definition der Lage hinaus. Sie sahen in der Entwicklung eine deutliche Verschiebung der Klassenverhältnisse in Iran. Für sie stellte die Wahl ein deutliches Zeichen dafür dar, dass sich die Klasse der Kapitalisten hinter dem Reformflügel gesammelt hatte und dies eine weit reichende Auswirkung auf das Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft haben würde. Das Regime wäre demnach nicht mehr ausschließlich ein konterrevolutionäres Unterdrückungsorgan, sondern stellt die Herrschaft der Klasse dar. Was bei den Wahlen 1997 geschah, war für diese Kritiker ein Schritt in der Entwicklung zu einem modernen Staatswesen in Iran. Diese Position stellte selbstverständlich alle bisherigen Vorstellungen der im Exil lebenden radikalen Linken auf dem Kopf. Die Konsequenzen dieser Kritik waren nichts weniger als eine komplette Neuorientierung der Partei hin zum Aufbau einer sozialistischen, klassenorientierten Politik. Die Vorstellungen über ein baldiges Ende des Regimes, wie sie in fast allen linken Organisationen herrschten, waren damit nichts anders als realitätsferne Hirngespinste einer im Exil schmorenden Opposition. Dementsprechend war auch der Widerstand groß. Man sprach dem Regime generell die Fähigkeit ab, sich dem Kapitalismus anzupassen und eine Normalität für kapitalistische Akkumulation herzustellen. Das Regime wurde losgelöst aus allen Klassenverhältnissen analysiert und dessen islamistischer Charakter als nicht reformierbar bezeichnet. Demnach bestand die sozialistische Politik darin, diejenigen Themen konsequent zu vertreten, die eben diese Unfähigkeit des Regimes deutlich machten. Der Unterschied zu der bürgerlichen Politik bestand in der Konsequenz, mit der die Sozialisten diese Themen bis zum endgültigen Sturz des Regimes zu vertreten haben.

Auch wenn die Debatte primär einen politischen Charakter zeigte und den Umgang mit dem Regime zum Gegenstand hatte, steckte viel mehr dahinter. Es war das Verständnis vom Staat überhaupt, das sich in der Charakterisierung des Regimes zeigte. Für die Anti-Regime-Linke war der Staat als ein neutraler Apparat in den Händen einer reaktionären Kraft. Am deutlichsten wurde dies von der AKP vertreten. Hier lohnt es sich anhand eines Vergleichs die Wandlung der Analyse näher zu betrachten. Wir haben bei der Darstellung der Auseinandersetzungen der Linken nach der Revolution den auf den ersten Blick radikalen Ansatz angesprochen, wonach das Regime eine bourgeois-imperialistische Konterrevolution zur Niederschlagung der Revolution darstellte. Diese Analyse fand später die theoretische Begründung in der These von "Staat in revolutionären Phasen", die von Mansur Hekmat verfasst wurde. Demnach ist die Funktion eines Staates in revolutionären Phasen lediglich aus politischem Aspekt zu betrachten. Die Wirtschaftspolitik habe bei der Analyse nichts zu suchen. Über 20 Jahre später war offensichtlich nicht mehr möglich, von einer revolutionären Phase zu sprechen und von der Notwendigkeit der Zerschlagung der Revolution. Die Revolution war schon längste zerschlagen und die Lage in Iran war als alles andere zu bezeichnen denn als eine "revolutionäre Phase". An die Stelle dieser Analyse trat jetzt die These der Unfähigkeit des Regimes in der Anpassung an den Kapitalismus, die dem reaktionären Wesen des politischen Islams inhärent sei. Man sieht, wie sich die ideologische Konzeption geändert hat. In wie weit die alte Analyse mit marxistischen Positionen vereinbar war, kann diskutiert werden. Doch der neue Ansatz hatte mit einer marxistischen Analyse gar nichts mehr zu tun. Der kapitalistische Charakter der Produktionsverhältnisse in einem durchaus industrialisierten Land mit einer großen Zahl von Arbeitern wurde aus der Analyse völlig entfernt. Der Marxismus wurde zwar beschwören, fand jedoch in der Analyse gar nicht statt. Dies war der Ausdruck einer sich allmählich durchsetzenden Politik der Hinwendung zur Mitte, die seit Mitte der 90er die AKP ergriff. Die Orientierung nach Klassenkampf musste dieser Politik der Mitte weichen. Anders ist auch die Staatsanalyse nicht zu verstehen. Man erinnere sich nur daran, dass Mitte der 90er Jahre das goldene Zeitalter des "dritten Wegs" von Blair und Schröder war und die Hinwendung zur Mitte der Gesellschaft auch im Westen als Schlüssel zum Erfolg galt.

Folgerichtig praktizieren die in mittlerweile in verschiedenen Gruppen gespaltenen Fraktionen der AKP - mit Ausnahme der hekmatistischen Strömung (Worker-Communist Party of Iran - Hekmatist) - eine Politik der Unterstützung der grünen Bewegung, in der sie alle den Beginn der vor Jahren verheißenen Revolution sehen. Doch die Unfähigkeitsthese wirkte weit über die AKP hinaus und wurde von vielen Teilen der Radikalen Linke, wenn auch zum Teil stillschweigend und in gemilderter Form, sowohl im Ausland als auch im Inland, übernommen.

Aus der Auseinandersetzung in der AKP und aus der Kritik entstanden jedoch zwei völlig gegensätzliche Ansätze. Während der erste Ansatz in der Entwicklung des Regimes den Prozess der Bildung des modernen Staatswesen ansah und dies direkt mit der Entwicklung in Bourgeoisie-Klasse selbst in Verbindung brachte, sah der zweite Ansatz in der Entwicklung der Reformbewegung erst den Beginn eines Prozesses, dessen Erfolg erst die Gründung des modernen Klassenstaates zur Folge haben würde. Diese zweite Kritik brachte wiederum einen neuen Ansatz in die Debatte um den Staat mit sich. Nach dieser Auffassung repräsentiert das Regime zwar den bürgerlichen Staat im Allgemeinen, jedoch in Vertretung der Klasse, ohne sie in die Ausübung der Macht mit einzubeziehen. Der kapitalistische Charakter des Staates besteht darin, die allgemeinen Bedingungen der Akkumulation zu sichern und wieder herzustellen. Die Auseinandersetzung seit dem Aufkommen des Reformflügels wird in diesem Ansatz als der Kampf der Bourgeoisie um die Teilhabe an der politischen Macht bezeichnet. Der bourgeoise Staat soll am Ende zum Staate der Bourgeoisie umgewandelt werden. Angesichts der zunehmenden Machtfülle des Mittelstands in der Gesellschaft, sei dieser Prozess nicht mehr aufzuhalten, so der Ausgangspunkt dieser Analyse.

Die Bedeutung dieser Auffassung bestand nicht nur darin, dass sie den letzten Versuch einer marxistisch verkleideten Analyse des Regimes und des Staates darstellt, die trotz ihres Bezugs auf den Marxismus den Klassencharakter des Staates verneinte, sondern auch in ihrer praktischen Schlussfolgerung, die eine Orientierung hin zu einer keynesianistischen Politik darstellte und somit auch in Kreisen der legalen Marxisten und Ökonomen im Inland einen Widerhall finden könnte. Tatsächlich haben auch Teile der legalen Linkskeynesianer im Inland sich diese Analyse zu eigen gemacht. Nicht zuletzt deshalb bedarf es einer näheren Betrachtung.

Der These vom "Übergang vom bourgeoisen Staat zum Staate der Bourgeoisie" liegen zwei Annahmen zu Grunde. Zum einen wird der moderne bürgerliche Staat als ein Staat bezeichnet, in dem alle Mitglieder der herrschenden Klasse über gleiche Rechte verfügen und da dies in Iran offensichtlich nicht der Fall ist, also ist auch der Staat kein bürgerlicher Staat, sondern ein Staat für die Bourgeoisie. Dass diese Auffassung nicht der Realität entspricht, sollte mit Blick auf alle wichtigen Industrieländer offensichtlich sein. Nirgends gibt es den Zustand, dass alle Kapitalbesitzer den gleichen Zugang zu Entscheidungszentren der Macht haben. Lobbyismus ist ein wesentlicher Bestandteil des modernen Staats. Gerade die am meisten entwickelten bürgerlichen Staaten haben den Lobbyismus perfektioniert, wodurch bestimmte Kreise der Kapitalisten immer bevorzugt werden und Teile der Klasse offen benachteiligt werden. Der Unterschied zu einem Staat wie in Iran besteht lediglich in der rechtlichen Form. Und dieser Unterschied bezieht sich nicht auf die Klasse der Kapitalisten, sondern auf die gesamte Gesellschaft. Nirgends wird es rechtlich festgehalten, dass alle Kapitalisten über gleiche Rechte verfügen, sondern wird das gleiche Recht aller Bürger vor dem Gesetz reklamiert. Hinter dieser Auffassung steckt offensichtlich eine Verherrlichung des modernen Staates, die in guter Tradition ähnlicher Auffassungen seit den Anfängen der iranischen Linken steht. Und hier kommen wir zum zweiten Element der Analyse, die sie auch für Keynesianer attraktiv macht.

In der Erklärung, warum die Entwicklung des Kapitalismus in Iran zu diesem bourgeoisen Staat geführt habe und nicht zu einem "modernen Staat der Bourgeoisie", hat der Verfasser dieser Auffassung die Ursache in der Unterentwicklung des industriellen Kapitals in Iran gesucht. Laut Azarin befand sich Iran im Zeitpunkt der Revolution im halbindustriellen Zustand. Der Staat unter islamischer Herrschaft hat nicht nur die Kapitalakkumulation nicht gefördert, sondern sie mit allen Kräften verhindert. Die Machtzunahme der Bourgeoisie geschah demnach nicht mit der Unterstützung des Staates, sondern angesichts des Widerstandes dieser Institution. Die Aufgabe der nun aufkommenden Bourgeoisie bestünde nur darin, eben für diese volle Industrialisierung zu sorgen. Da dies nur in Verbindung mit dem Weltmarkt geschehen kann, wird der Prozess also schmerzhaft sein. Die Politik der sozialistischen Arbeiterbewegung könne nur darin bestehen, diesen Prozess kritisch zu begleiten. Unter anderem sind die Betriebe mit geringer Produktivität vor dem Angriff des internationalen Kapitals zu schützen, was nicht zuletzt durch Zurückhaltung der Beschäftigten bei Lohnforderungen, gepaart mit staatlichen Investitionen bzw. Zahlungen für Lohnzuwächse geschehen muss. Vor allem aber durch eine Reihe von fiskalischen Maßnahmen solle der Binnenmarkt vor dem Eingriff des Finanzkapitals geschützt werden, so Azarin. Der keynesianistische Ansatz ist hier nicht zu übersehen. Dies kann auch letztendlich den Ausschlag dafür gegeben haben, warum bestimmte Kreise der linken Keynesianer im Inland eben sich diesen Ansatz zu eigen gemacht haben.

Für diese Auffassung war die völlige Umgestaltung des Staates nur eine Frage der Zeit. Doch die Wahl von Ahmadinedschad brachte die Grundlagen dieser Auffassung völlig durcheinander. Anstatt einer bürgerlichen Regierung, die die Vollendung des Staates voranbringen sollte, war nun eine Kraft an die Macht gelangt, die gar nicht in das Klischees passte. Dies war der Beginn einer Reihe von Staatsanalysen, die den marxistischen Boden komplett verließen oder nur einen verwässerten Marxismus als Beigeschmack boten. Für die Anhänger der Theorie des Übergangs zum modernen Staat der Bourgeoisie stellte die Machtübernahme von Ahmadinedschad nur einen vorübergehenden Rückschlag in diesem Prozess dar. Azarin prophezeite sogar einen blutigen Sturz von Ahmadinedschad binnen zweier Jahre. Für sie repräsentierte diese Fraktion der Islamisten ein aus dem 19. Jahrhundert übrig gebliebenes Überbleibsel, das allein durch militärische Stärke und durch die wirtschaftliche Macht der Militärorgane im Stande war, die Macht zu übernehmen.

Ein weiterer Ansatz aus den Kreisen der Linkskeynesianer sah in Ahmadinedschad das Aufkommen eines iranischen Neokonservatismus. Die Konsequenz, mit der Ahmadinedschad die Privatisierung der Industrie vorantrieb, veranlasste diese Kreise, zu übersehen, dass die Regierung sowohl in der Verteilungspolitik als auch bei Investitionen in der Infrastruktur und in der Energieversorgung einen völlig anderen Kurs eingeschlagen hatte. Nicht nur dass die Ausgaben des Staates nicht sanken, sie haben in der Zeit von Ahmadinedschad drastisch zugenommen. Hinzu kam, dass Ahmadinedschad zu keinem Zeitpunkt die kapitalfreundliche Sprache der Neo-Cons übernommen hat. Im Gegenteil hat er von Anfang an den Sonderprivilegien herrschender Kreise und der Vetternwirtschaft den Kampf angesagt und seine Agenda als eine Agenda für die Gerechtigkeit für die Armen deklariert. Die Konzentration auf seine Privatisierungspolitik sollte einerseits den Blick über die tatsächlichen Verhältnisse in der Bevölkerung verschleiern und andererseits für eine gewisse Sympathie für den kommenden Kandidaten Mussawi zu sorgen, der nach wie vor den Ruf genoss, ein Anhänger der staatlich gelenkten Wirtschaft zu sein, obwohl solche Ansätze im Wahlprogramm von Mussawi kaum sichtbar waren. Ausgehend aus dieser Positionen war es dann selbstverständlich, dass sich auch diese Ansätze der grünen Bewegung gegenüber freundlich bis hin zu unterstützend verhielten.

Doch diese Ansätze waren insgesamt in der neuen linken Debatte über Staat und Gesellschaft in der Minderheit. Die größte Zahl der Linken bedient sich mittlerweile nicht mehr die marxistische Terminologie. Seit der Machtübernahme von Khatami haben die Ansätze die Oberhand gewonnen, die nicht den Staat im Mittelpunkt ihrer Analyse hatten. Die Zentrale Position des Staates in der Analyse wurde zunehmend mehr von dem Begriff "Zivilgesellschaft" verdrängt. Die Zahl solcher Analysen und deren Einfluss auf das politische Denken in Iran sind weit größer als die erwähnten, wie immer auch marxistisch geprägten Auffassungen. In diesem Lager befanden sich viele Sozialwissenschaftler der so genannten Reformbewegung, aber auch unzählige einst organisierte Linke. Die Unzulänglichkeiten der bisherigen Erklärungen und die Dominanz der bürgerlichen Konzeptionen haben bei Vielen die Suche nach den Ursachen für die Gründung der islamischen Republik verstärkt. Auf dieser Suche kam man zum Ergebnis, die gesamte Entwicklung aus kultureller Sicht zu begreifen und zu erklären. Die Ursache für den Aufstieg des politischen Islams wurde in der kulturellen Rückständigkeit des Landes selbst gesucht. Die fehlende Aufklärung und die tief verwurzelte Religiosität der Menschen wurden hier als ausschlaggebend betrachtet. In den bürgerlichen Kreisen wurde dies mit einer scharfen Selbstkritik über die Unfähigkeit des iranischen Liberalismus und dessen Rücksicht auf Religion flankiert. Alles in allem suchten diese Ansätze die Gründe für die Misere in den inneren Strukturen der Gesellschaft. Was die Analyse des Staates betrifft, gehen die Ansätze hier weit auseinander. Zwei dieser Ansätze muss man zu den wichtigsten zählen: Totalitarismus und Rentenstaat.

Während bei den Anhängern der These von Totalitarismus der politisch-kulturelle Aspekt im Vordergrund steht, sehen die Anhänger der Rentenstaat-These die Rolle des Öls als Hemmnis in der Entwicklung der Demokratie. Demnach ist der Staat als Profiteur eines auf Ölreichtum begründeten Systems in der Lage, sich über die Klassen zu heben und das ganze gesellschaftliche Leben zu dominieren. Da Öl die Haupteinnahmequelle des Staates bilde und nicht die von den Bürgern erbrachten Steuern, sieht sich der Staat auch nicht genötigt, eben diesen Bürgern Rede und Antwort zu stehen. Sehen die Anhänger der Totalitarismus-These die Lösung in verstärkter Bildung der demokratischen und nicht-staatlichen Strukturen, treten die Anhänger der Rentenstaat-These für eine nachhaltige Industrialisierung des Landes ein.

Es sei auch zu erwähnen, dass die Rentenstaat-These deutliche Ähnlichkeiten mit jenen Theorien aufweist, die ausgehend von der Marxschen und vor allem Witfogelschen Thesen zum asiatischen Despotismus den Staat als ein Organ über der Gesellschaft definieren. So richtig auch zum Teil der Wahrheitsgehalt solche Thesen ist, umso mehr ist die Verallgemeinerung dieser Tendenzen zum bestimmenden Faktor der Analyse falsch. Man übersieht dabei erstens die enorme Bedeutung des Binnenmarkts für die kapitalistische Entwicklung des Landes und zweitens die Auf- und Abbewegungen der jüngsten iranischen Geschichte, die unterschiedliche Tendenzen aufweist. Das Regime in Iran und der Charakter des Staates werden hier nicht als Produkt der jüngsten iranischen Geschichte gesehen, sondern als Erbe von Tausenden Jahren. Der eigentümliche, kapitalistische Charakter wird einem in fast allen Zeiten gemeinsamem Despotismus eingegliedert. Doch wichtiger als die Ursache ist hier auch die Schlussfolgerung. Auch hier wird die Industrialisierung als Allheilmittel gelobt.

Schließlich sind weitere zwei Ansätze zu erwähnen, die Anhänger von Antonio Negri und die von Alain Badiou. Aus verständlichen Gründen spielen die Anhänger von Negri, sagen wir die Globalisierungsgegner, eine untergeordnete Rolle. In einem Land, in dem sich der Staat in Dauerkonflikt mit den wichtigsten Förderer der globalen Märkte befindet, hat es auch eine solche globalisierungskritische Haltung sehr schwer. Mit dem Aufkommen der "Grünen Bewegung" jedoch entstand ein komischer Abklatsch der Negri'schen Thesen, die in den Demonstranten jene Elemente der Negri'schen Multitude gesehen hat. Sie wurden auch zu Recht kritisiert, die Multitude richte sich in erster Linie gegen das Kapital und die Grüne Bewegung sei alles andere als antikapitalistisch. Die strukturellen Ähnlichkeiten der Grünen Bewegung können nicht den Grund liefern, hier eine Multitude auszumachen. Ob jedoch diese so genannten Negri-Anhänger in der Lage sein werden, dem guten, antikapitalistischen Ruf von Negri Schaden zuzufügen, wird sich zeigen.

Anders sieht es aus mit den Anhängern Badious. Die um die Internet Seite "Rokhdad" (nach Badiou: Event) versammelten Badiouisten gewannen in der letzten Zeit deutlich an Einfluss. Die Politisierung der Mittelschicht bot ihnen Gelegenheit genug, das Primat der Politik in den Vordergrund zu stellen und in dem Kampf der "Grünen Bewegung" die Sphäre der Emanzipation zu suchen. Erstaunlich jedoch ist, dass diese angeblich "reinsten Kommunisten" nicht nur die Aufstellung der klassenspezifischen Forderungen - für die Arbeiter also: Lohnerhöhung, soziale Versicherung, funktionierende Arbeitslosenversicherung, usw. - vehement ablehnen, sondern auch so weit gehen, dass sie die Existenz der Klassen in Iran überhaupt bestreiten. Für sie ist es erst die politische Befreiung, die den Boden für die Erfüllung klassenspezifischer Forderungen bereitet. Der Staat ist hier als rein politisches Unterdrückungsorgan reklamiert, der sich über der Gesellschaft hält. Da die Existenz der Klassen überhaupt in Frage gestellt wird, ist auch selbstverständlich von einem Klassencharakter des Staates keine Rede mehr.


Ausblick

Die zweite Welle der Debatte über den Staat dauert noch an. Noch ist nicht abzusehen, welcher dieser erwähnten Ansätze sich letztendlich durchsetzen werden. Bis hierher haben die Auffassungen eines mit den Diskussionen der ersten Phase gemein, während sie sich in einem Punkt von der ersten Phase stark unterscheiden. Gemeinsam ist den meisten Ansätzen mit den Diskussionen der ersten Phase, dass auch die neuen Ansätze nicht die Klasse der Kapitalisten in der Analyse des Staates mit einbeziehen. Auch hier wird - abgesehen von kleinen, nicht zu beachtenden linken Gruppierungen - der Staat und das Regime an den Prangern gestellt, ohne dass die Klasse der Kapitalisten von der Kritik betroffen wäre. Höchstens greift man bestimmte Fraktionen der Klasse an. Dies ist das Gemeinsame der heutigen Diskussionen in den Linken mit den alten Diskussionen.

Der wesentliche Unterschied besteht darin, dass heute nicht der Marxismus den Ton angibt. Die radikale Linke beschwört zwar nach wie vor den Sozialismus, ist aber erstens zu einem marginalisierten Dasein gedrängt und zweitens nach wie vor in den kleinbürgerlichen Auffassungen gefangen. Sie kann die Kritik des Kapitalismus nicht mit der Kritik des Staates und der herrschenden Klasse verbinden. Dort, wo sie den Kapitalismus kritisiert, schlüpft sie in die Rolle eines Moralapostels und dort wo sie den Staat kritisiert, kann sie über den Horizont eines gewöhnlichen Anklagens des Mangels an demokratischen Rechten nicht hinaus kommen. Bei manchen radikalen Linken ist nur der Schein der Radikalität übrig geblieben. Dem Wesen nach verfolgt diese Linke eine rein bürgerliche Politik. Doch viel wichtiger ist hingegen die Schar der reformistischen Linken. Hier wird offen Distanz zu Marx geübt. Diese Linke, so weit man es überhaupt so bezeichnen kann, ist voll im starken Lager der bürgerlichen Theoretiker und Aktivisten integriert. Ihre Aufgabe besteht darin, die Arbeiter und die jungen Linken für die Übernahme der bürgerlichen Positionen weich zu klopfen. Die Aufgabe ist zwar die alte, das Gewand jedoch neu. Ein marxistischer Deckmantel ist heutzutage eher hinderlich als befördernd.

Die Debatte ist jedoch noch längst nicht entschieden. Langsam, aber deutlich treten Positionen in den Linken auf, die den Staat als ein Herrschaftsorgan der Kapitalistenklasse definieren und in der heutigen Auseinandersetzung den Kampf zweier hegemonialer Kräfte innerhalb der Bourgeoisie sehen. Der Ruf nach einer dritten, unabhängigen, klassenorientierten kommunistischen Politik wird langsam lauter. Die Debatte um Staat spielt hier eine entscheidende Rolle.

Wir werden im nächsten Teil dieser Schrift die historische Entwicklung des modernen Staates in Iran behandeln und anhand einer Überprüfung der Akkumulationsphasen des Kapitals zeigen, wie eng das Schicksal des Kapitalismus in Iran mit dem Schicksal des Staates verbunden ist und vice versa.


Bahman Shafig ist Marxistischer Autor und Aktivist.
E-Mail: b-shafigh@omied.net

Raute

Francois Naetar

Freiheit für die Abahlali 13 - Raus mit dem ANC aus der Kennedy Road!

Zur Geschichte von Abahlali baseMjondolo

Am 26. September dieses Jahres, eine halbe Stunde vor Mitternacht, überfiel eine Gruppe von 30 bis 40 Männern bewaffnet mit Dolchen, Schlagstöcken und Gewehren die Gemeinschaftshalle der in Südafrika und weiten Teilen der Welt bekannten Barackensiedlung in der Kennedy Road. Diese Siedlung ist Ausgangspunkt der basisdemokratischen Bewegung Abahlali baseMjondolo (AbM), in der sich über 30.000 shackdweller (BewohnerInnen von informellen Barackensiedlungen) seit 2005 organisieren.

Abahlali baseMjondolo ist verschiedenen Kreisen des African National Congress (ANC) schon lange ein Dorn im Auge; es ist daher sehr wahrscheinlich, dass dieser Überfall seine Wurzeln im ANC hat. Während des Überfalls und der darauf folgenden Kämpfe wurden die Hütten zahlreicher AktivistInnen des AbM systematisch zerstört und zahlreiche Menschen getötet. Viele BarackenbewohnerInnen mussten aus der Kennedy Road fliehen. Kurz nach diesen Ereignissen kam es zur Verhaftung von 13 Militanten des AbM, die des Mordes sowie zahlreicher anderer Delikte beschuldigt wurden. Der Vorsitzende des AbM, S‹bu Zikode, von dem wir hier zwei Texte, eine Rede und eine Zeitschriftenbeitrag, abdrucken, musste in den Untergrund abtauchen, um einer Verhaftung zu entgehen. Der Überfall und die Verhaftungen wurden von der Einrichtung von Strukturen, organisiert vom lokalen ANC, begleitet; gleichzeitig wurde die lokale Führung ausgetauscht, die nunmehr durch Mitglieder des lokalen ANC besetzt wird. Der ANC feierte die Verhaftung und Vertreibung der AbM-AktivistInnen als "Befreiung der Kennedy Road".

Die "Abahlali 13" sind am 16. November 2009 noch immer in Haft. Dennoch wird diese Attacke gegen Abahlali baseMjondolo ihr Ziel nicht erreichen. Allerdings braucht die Bewegung internationale Unterstützung. In den englischsprachigen Ländern ist sie - als Teil der Poor People‹s Alliance in Südafrika - sehr bekannt; in zahlreichen Artikeln wird über die Bewegung und die Formen ihrer Selbstorganisation berichtet. Im deutschen Sprachraum gibt es allerdings nur sehr wenig Informationen über Form und Ziele dieser Bewegung, weshalb wir uns auch zum Abdruck der Texte entschlossen haben.

Die Abahlali baseMjondolo-Bewegung begann 2005 in Südafrika. Großteils rund um die bedeutende Hafenstadt Durban lokalisiert, ist sie, was die Anzahl der an ihr beteiligten Menschen angeht, die größte Bewegung von militanten Armen im Südafrika nach der Apartheidt. Sie nahm ihren Ausgang von einer Straßenblockade gegen den Verkauf eines an die Kennedy Road anschließenden Stück Landes an einen Bauherrn, Land, das den shackdwellers von der lokalen Gemeindeverwaltung für ihre Häuser zugesagt worden war.

Die Bewegung wuchs in der ganzen Umgebung rasch an; seit 2006 umfasst sie mehr als zehntausend Menschen in über dreißig Siedlungen. Aufgrund dieses Erfolgs folgten Repressionsmaßnahmen gegen die Bewegung: Hunderte Festnahmen, Polizeiattacken und Todedrohungen sollten die AktivistInnen einschüchtern. Diese Attacken gingen meist von lokalen ANC-ParteifunktionärInnen aus. Die Antworten der Bewegung waren und sind: Demonstrationen, Straßenblockaden, Märsche zu lokalen BeraterInnen, Polizeistationen und Zeitungsbüros. Tausende Menschen beteiligten sich an diesen Aktionen.

Für die Wahlen im Jahr 2006 war die Boykott-Losung der Bewegung: "No Land, no House, no Vote!". Mit dieser Losung erreichte sie viele Menschen im ganzen Land. Ihr wichtigster Erfolg aber war das Verdrängen der Clanstrukturen, den sogenannten Slamlords, in den Siedlungen und die Errichtung basisdemokratischer Strukturen. Erfolgreich wurden so zahlreiche Räumungen von Siedlungen verhindert.

Um die politische Stoßrichtung dieser Bewegung zu verstehen, gilt es den Zusammenhang zwischen den Räumungen, den Verhältnissen in den Barackensiedlungen und dem Widerstand, der diese begleitet, zu sehen: Die Räumungen sind Teil von Regierungsmaßnahmen, die sich die Schleifung der oft nahe den Zentren der Städte gelegenen shackdweller-Siedlungen und die Umsiedlung der BewohnerInnen in billige, winzige aber legale Siedlungen am Stadtrand zum Ziel gesetzt haben. In Letzteren, in denen ganze Familien in einem Raum zusammen gepfercht werden, erhalten die BewohnerInnen (von privaten Dienstleistungsunternehmen) Zugang zu Leistungen wie Wasser und Strom. Gegen diese Abschiebung an den Stadtrand, wo sie angesichts der geplanten Großereignisse (etwa der Fußball-WM) der nächsten Jahre unsichtbar gemacht werden sollen, richtet sich diese Bewegung. Sie will ihr Schicksal in die eigenen Hände nehmen und fordert, dass die BarackenbewohnerInnen selbst bestimmen können, wo und wie Siedlungen saniert und mit Wasser und Strom versorgt werden sollen. Sie verlangt, dass die bestehenden Siedlungen im Stadtzentrum legalisiert werden, dass ihr Land zur Verfügung gestellt wird usw. Sie lehnt jede Bevormundung durch den Staat und Parteien (vor allem den ANC) aber auch durch diverse wohlmeinende "linke" NGO's ab.

Tatsächlich gelang es dieser Bewegung von unten viele Menschen in den Siedlungen zu aktivieren; in Versammlungen werden die jeweiligen Schritte und Strukturen beschlossen sowie Aufgaben verteilt. Die Diskussionen zwischen den verschiedenen Siedlungen sind ein Versuch, jede Bevormundung und Manipulation zu vermeiden. Auch dem rassistischen Mob, der unlängst auf ImmigrantInnen aus den benachbarten Ländern losging, wird mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln entgegengetreten. Diesbezüglich wird auf die teilweise bestehenden Koalitionen zwischen dem ANC und dem rassistischen Mob verwiesen. Es wurde in einem Gerichtsprozess, der unlängst stattfand, ein lokaler ANC-Repräsentant als Anführer einer Gruppe von Schlägern identifiziert, die auf ImmigrantInnen losgingen. Diese Fakten werden auf der Webseite von AbM nicht verschwiegen.

Was die Bewegung auszeichnet, ist, dass sie alle Illusionen hinsichtlich des Staats, der Parteien aber auch der NGO's verloren hat. Sie betrachtet es als ihre einzige Chance, sich auf die eigenen Kräfte zu stützen, wobei jede Unterstützung mit Freuden angenommen wird. Die Bewegung sieht sich selbst als die "Ausgeschlossenen", diejenigen die "nicht gezählt werden" als der "part of no-part" (Ranciére) - und in dieser Rolle auch als Teil jener weltweiten Bewegung, die aus SlumbewohnerInnen in Südamerika, migrantischen ArbeiterInnen in China und LandbesetzerInnen in Brasilien besteht. Abahlali baseMjondolo ist der extreme Ausdruck der Wahrheit dieses kapitalistischen Systems in Südafrika und anderswo: Sie sind die Armen, die ihre Stimme erheben müssen, um den ganzen Dreck dieses Systems ans Tageslicht zu bringen.

Für mehr und detaillierte Informationen: http://www.abahlali.org

Raute

S'bu Zikode

Die "dritte Kraft"

Übersetzt von Birgit Mennel

Die hier vorliegende journalistische Intervention von S'bu Zikode, des Vorsitzenden von Abahlali baseMjondolo, löste bei ihrem Erscheinen im November 2005 eine landesweite Sensation aus, insbesondere auch aufgrund der Nachdrücklichkeit, in der der Text verfasst ist. Der Ausdruck "dritte Kraft" wurde Bestandteil der nationalen Vorstellungskraft in Südafrika, nachdem er zuvor zur Bezeichnung der Sicherheitskräfte des Apartheidregimes verwendet worden war, die den Zulu-Nationalisten, die in den letzten Jahren der Apartheid einen Krieg gegen den ANC [African National Congress] führten, militärische Unterstützung angeboten hatten. Der Terminus "dritte Kraft" war äußerst pejorativ konnotiert und impliziert verborgene weiße Manipulation auf ein böses Ende hin. In diesem Text macht S'bu Zikode den Vorschlag einer aufsehenerregenden und in mancher Hinsicht hochgradig militanten Antwort auf die Behauptungen, die "dritte Kraft" stehe hinter den von Abahlali baseMjondolo organisierten Massenmobilisierungen.

Die Bewegung der BarackenbewohnerInnen [shack dwellers movement], die Tausenden von Menschen in Durban Hoffnung gab, wird immer beschuldigt, Teil der "dritten Kraft" zu sein. Dies wird in Zeitungen und in allen möglichen Sitzungen wieder und wieder wiederholt. Sie verschwenden sogar Geld, um Nachforschungen über die "dritte Kraft" anzustellen. Die Frage der "dritten Kraft" muss also thematisiert werden, um eine Verwirrung unter den Menschen zu vermeiden.

Ich muss jene GenossInnen, Regierungsbedienstete, PolitikerInnen und Intellektuelle, die über die "dritte Kraft" sprechen, warnen: Sie haben keine Ahnung, wovon sie reden. Sie fliegen zu hoch, um wirklich zu fühlen, was wir fühlen. Sie wollen immer an unserer statt und für uns sprechen, aber sie müssen zulassen, dass wir selbst über unsere Leben und unsere Kämpfe reden.

Wir müssen einige Dinge klarstellen: Es gibt zweifellos eine "dritte Kraft". Die Frage bleibt: Was ist diese "dritte Kraft" und wer ist Teil davon? Nun, ich selbst bin die "dritte Kraft". Die "dritte Kraft" ist all der Schmerz und das Leiden, dem die Armen in jeder Sekunde ihres Lebens unterworfen sind. Die BarackenbewohnerInnen können einiges über die "dritte Kraft" erzählen. Es ist Zeit für uns, unsere Stimmen zu erheben und zu sagen: Das sind wir, hier sind wir und so leben wir. Das Leben, das wir leben, macht aus unseren Gemeinschaften die "dritte Kraft". Die meisten von uns haben keine Arbeit und müssen jeden Tag damit zubringen, ein kleines bisschen Geld aufzustellen. AIDS ist in den Barackensiedlungen schlimmer als anderswo. Ohne eigene Häuser, Wasser, Elektrizität, Müllbeseitigung und Toiletten pflanzen sich alle möglichen Krankheiten fort. Die Gründe sind klar erkennbar und jeder Dick, Tom und Harry kann sie verstehen. Unsere Körper jucken jeden Tag wegen der Insekten. Wenn es regnet, ist alles nass - Decken und Böden. Ist es heiß, sind immer Moskitos und Fliegen da. In den Baracken gibt es keinen Urlaub. Der Einbruch des Abends ist immer eine Herausforderung. Die Nacht soll dazu dienen, sich zu erholen und auszuruhen. Aber in den jondolos geschieht das nicht. Die Menschen bleiben wach und sorgen sich um ihr Leben. Ihr solltet sehen, wie groß die Ratten sind, die in der Nacht über die kleinen Babys laufen. Ihr solltet sehen, wie die Menschen, wenn es regnet, unter Brücken schlafen müssen, weil die Böden so nass sind. Der Regen dringt in die Häuser der Leute ein. Manche Menschen bleiben die ganze Nacht wach.

Aber Armut bedeutet nicht nur zu leiden. Sie bedroht uns jeden Tag mit dem Tod. Wir haben gesehen, wie gefährlich Armut sein kann. In der Siedlung in der Kennedy Road haben wir erlebt, wie Mhlengi Khumalo, ein einjähriges Kind, letzten Monat in einem Barackenbrand gestorben ist. Sieben andere sind in den Bränden ums Leben gekommen, seit eThekwini Metro den Entschluss gefasst hat, die Elektrizitätslieferungen an informelle Siedlungen einzustellen. Es gibt viele Mhlengis im ganzen Land. Armut bedroht selbst Menschen in Wohnungen. In Bayview in Chatsworth verhungerte eine Frau früher in diesem Jahr - sie wagte es nicht, ihren Nachbarn zu sagen, dass sie kein Essen hatte, und sie starb, allein.

Die MachthaberInnen sind blind für unser Leiden. Das ist darauf zurückzuführen, dass sie nicht gesehen haben, was wir sehen; dass sie nicht gefühlt haben, was wir jede Sekunde, jeden Tag fühlen. Meine Bitte ist, dass all jene AnführerInnen, die um die Leben der Menschen besorgt sind, in die jondolos kommen und mindestens eine Woche dort bleiben müssen. Sie müssen den Dreck fühlen. Sie müssen sechs Toiletten mit 6000 Menschen teilen. Sie müssen ihren eigenen Abfall loswerden, während sie neben der Müllhalde leben. Sie müssen uns begleiten, während wir Arbeit suchen. Sie müssen die Ratten verjagen und die Kinder davon abhalten, gegen die Kerzen zu stoßen. Sie müssen sich um die Kranken kümmern, wenn lange Schlangen vor dem Wasserhahn stehen. Es muss ihre Aufgabe sein, den Kindern zu erklären, warum sie nicht die technische Hochschule besuchen können, die am Fuß des Hügels liegt. Sie müssen dabei sein, wenn wir unsere Kinder begraben, die in den Bränden, an Durchfall oder AIDS gestorben sind.

Der wichtigste Kampf für uns ist der für unsere Anerkennung als menschliche Wesen. Während der Kämpfe vor 1994 gab es nur zwei Ebenen, zwei Klassen - die Reichen und die Armen. Jetzt, nach den Wahlen gibt es drei Klassen - die Armen, die Mittelklasse und die Reichen. Die Armen wurden von der Mittelklasse abgespalten. Wir werden immer ärmer und der Rest wird immer reicher. Wir sind auf uns allein gestellt. Wir sind ganz allein.

Unser Präsident Mbeki politisiert - unser Ministerpräsident Ndebele, Shilowa in Gauteng und Rasool in Western Cape politisieren ebenso wie alle BürgermeisterInnen im ganzen Land. Aber wer wird über die wahren Probleme sprechen, die die Menschen jeden Tag bewegen - Wasser, Elektrizität, Land, Behausung? Wir dachten, eine lokale Regierung würde weniger über Politik sprechen und sich auf die Bedürfnisse der Menschen konzentrieren. Aber alles wird zur Politik.

Wir haben bemerkt, dass uns unsere Stadtverwaltung nicht zuhört, wenn wir mit ihnen in Zulu sprechen. Wir haben es in Englisch versucht. Jetzt haben wir begriffen, dass sie auch Xhosa oder Sotho nicht verstehen werden. Die einzige Sprache, die sie verstehen, ist, wenn wir Tausende Menschen auf die Straße bringen. Wir haben die Ergebnisse gesehen und das hat uns Mut gegeben. Das funktioniert sehr gut. Es ist das einzige Werkzeug, das wir für die Emanzipation unserer Leute zur Verfügung haben. Warum sollten wir damit aufhören?

Wir sind in unserem Leiden gereift. Wir hatten ein Programm, um einen Weg nach Vorne zu finden. Unser Programm bestand in der Fortsetzung der friedlichen Verhandlungen mit den Autoritäten, die erstmals vor zehn Jahren begonnen wurden. Aber unser Plan wurde vereitelt. Wir wurden belogen. Wir mussten uns einen Alternativplan einfallen lassen.

Der 16. Februar 2005 war der Beginn unseres Kampfes. An diesem Tag hatte das Kennedy Road Komitee eine sehr erfolgreiche Sitzung mit dem Vorsitz des Wohnbau-Portfolios vom Lenkungsausschuss der Stadtverwaltung, mit dem für Wohnbau zuständigen Direktor und mit dem Stadtrat des Wahlbezirks. Sie alle haben uns das leer stehende Land in Clare Estate zur Bebauung versprochen. Das Land in der Elf Road war eines der uns versprochenen Areale. Aber dann wurden wir von den Leuten betrogen, denen wir am meisten Vertrauen geschenkt hatten. Ohne Warnung oder Erklärung begannen nur einen Monat später Bulldozer das Land umzugraben. Die Leute waren aufgeregt. Sie gingen hin, um zu sehen, was geschah, und waren schockiert, als ihnen gesagt wurde, dass dort eine Ziegelfabrik gebaut werden soll. Es gingen noch mehr Menschen hinunter, um das zu sehen. Wir waren so viele, dass wir die Straße blockierten. Der Mann, der die Fabrik baut, rief die Polizei und unseren lokalen Stadtrat, jenen Mann, der durch unsere Stimmen an die Macht gekommen ist und auf den wir all unser Vertrauen und unsere Hoffnung gesetzt haben. Dieser Mann sagte zur Polizei: "Verhaftet diese Menschen, sie sind Verbrecher". Die Polizei schlug uns, ihre Hunde bissen uns und sie verhafteten vierzehn von uns. Wir fragten nach, was mit dem versprochenen Land geschehen war. Uns wurde gesagt: "Wer seid ihr, dass ihr glaubt, einen Anspruch auf dieses Land zu haben?" Dieser Verrat mobilisierte die Menschen. Die Menschen, die uns betrogen haben, sind für diese Bewegung verantwortlich. Sie sind die "zweite Kraft".

Unsere Bewegung begann mit vierzehn Verhaftungen - wir nennen sie die vierzehn HeldInnen. Mittlerweile sind wir vierzehn Siedlungseinheiten, die sich als Abahlali baseMondolo [BarackenbewohnerInnen] zusammengetan haben. Jede Siedlung hält einmal pro Woche eine Versammlung ab; die AnführerInnen aller Siedlungen versammeln sich einmal in der Woche. Wir sind zum Gespräch bereit, aber sollte dies nichts bringen, sind wir darauf vorbereitet, unsere Kraft einzusetzen. Wir werden tun, was immer nötig ist, um zu bekommen, was wir für ein sicheres Leben brauchen.

Aus unserer Erfahrung haben wir gelernt, dass, wenn man versucht zu erreichen, was man haben möchte, wenn man auf dem Wege friedlicher Verhandlungen, mit Bescheidenheit und Respekt für die Autorität erreichen will, was nur legitim ist, dass dieses Gesuch zum Verbrechen erklärt wird. Wir wurden mehr als zehn Jahre lang hintergangen, verarscht und demoralisiert. Darum sind wir auf die Straßen gegangen. Wenn wir uns dort zu Tausenden versammeln, werden wir ernst genommen.

Der Kampf, der in der Kennedy Road seinen Ausgang nahm, ist der Beginn einer neuen Ära. Uns sind die Strategien gegenwärtig, die die Polizei einsetzt, um die Armen zu demoralisieren und zu bedrohen. Es kümmert uns nicht, dass sie Gefängnisse für uns bauen und mehr Sicherheitskräfte anwerben, wenn sie keine Bereitschaft zeigen, das zu hören, was wir sagen. Es ist für alle BarackenbewohnerInnen wichtig zu wissen, dass wir Kenntnis davon haben, was im Stadtteil Alexander in Johannesburg, in Port Elizabeth und in Kapstadt vor sich geht. Wir wissen, dass wir nicht allein sind in unserem Kampf. Wir haben solidarische Grüße geschickt. Wir werden solange nicht ruhen, bis den Armen Gerechtigkeit widerfährt - nicht nur in der Kennedy Road, denn es gibt viele Kennedy Roads, viele Mhlengis, viele arme Stimmen, die nicht gehört und nicht verstanden werden. Aber wir haben die Entdeckung gemacht, dass Sprache Wirkungen zeigt. Wir werden uns daran halten. Die Opfer haben gesprochen. Wir haben gesagt: Es reicht!

Es muss klar sein, dass dies kein politisches Spiel ist. Diese Bewegung ist eine Art soziales Werkzeug, durch dessen Einsatz die Gemeinschaft schnellere Resultate zu bewirken erhofft. Das hat nichts mit Politik oder Parteien zu tun. Unsere Mitglieder sind Teil aller politischen Organisation, die man sich nur vorstellen kann. Abahlali baseMjondolo ist eine unpolitische Bewegung. Sie wird ihren Job beenden, wenn Land und Behausung, Elektrizität sowie die wesentlichen Grunddienste erkämpft sind und Armut eliminiert ist. Wir werden uns so lange zusammenfinden, bis unsere Leute, erreicht haben, was gefordert wird - das Wesentliche. Bis dahin werden wir nicht aufhören.

Die Gemeinschaft hat begriffen, dass die Wahl von Parteien für uns keine Veränderung gebracht hat - insbesondere auf der Ebene der Wahlen für die lokale Regierung. Wir sehen einige wichtige Veränderungen auf nationaler Ebene, aber auf lokaler Ebene wird, wer immer die Wahlen gewinnt, von uns hinterfragt werden. Wir wurden von dem von uns gewählten Stadtrat betrogen. Wir haben uns daher entschlossen, nicht zur Wahl zu gehen. Die Kampagne "Kein Land, keine Behausung, keine Stimmabgabe", die gerade begonnen hat, ist eine Kampagne, auf die sich alle 14 Siedlungen geeinigt haben.

Die "dritte Kraft", das Leiden der Armen, ist unsere Triebkraft. Die "zweite Kraft" sind die, die uns verraten haben. Die "erste Kraft" war unser Kampf gegen die Apartheid. Die "dritte Kraft" wird dann ihr Ende finden, wenn die "vierte Kraft" aufkommt. Die "vierte Kraft" ist Land, Behausung, Wasser, Elektrizität, Gesundheitsversorgung, Bildung und Arbeit. Wir fordern nur das Wesentliche, keinen Luxus. Das ist der Kampf der Armen. Es wurde Zeit für die Armen, selbst zu zeigen, dass sie arm sein mögen im Leben, aber nicht im Denken.

Die Zeit war uns eine sehr gute Lehrerin. Die Leute haben sehr viel begriffen. Wir haben aus der Vergangenheit gelernt - wir haben alleine gelitten. Dieser Schmerz und dieses Leiden haben uns eine Menge beigebracht. Wir haben begonnen, zu verstehen, dass wir unter solchen Bedingungen nicht leben sollten. Eine Demokratie der Armen beginnt Einzug zu halten. Niemand hätte uns dies gesagt - weder unsere gewählten AnführerInnen noch sonst irgendwelche FunktionärInnen hätten uns gesagt, worauf wir Anspruch haben. Selbst die Friedenscharta ist nur in der Theorie brauchbar. Sie hat nichts mit dem gewöhnlichen Leben der Armen zu tun. Sie hilft uns nicht. Das Denken der Massen von Menschen ist das, was zählt. Wir haben festgestellt, dass unser Land reich ist. Weitere Flughäfen werden gebaut, es gibt weitere Entwicklungen der Point Waterfront in Durban, weitere Stadien werden renoviert, es ist viel Geld in Umlauf, soviel, dass es sogar an Mugabe verliehen wird. Aber wenn man nach dem Wesentlichen fragt, bekommt man die Antwort, es gebe kein Geld. Klar ist, dass es kein Geld für die Armen gibt. Das Geld ist für die Reichen bestimmt. Wir haben und dafür entschieden, zu sagen: "Es reicht!". Wir sind uns darin einig, dass etwas geschehen muss.


S'bu Zikode ist der gewählte Vorsitzende der Bewegung Abahlali baseMjondolo, die derzeit vierzehn Siedlungen umfasst.

Raute

S'bu Zikode

Land und Unterkunft

Lebende Politik und lebender Kommunismus

Übersetzt von Birgit Mennel

Text einer Rede von S'bu Zikode im Diakonia Council of Churches am Forum für ökonomische Gerechtigkeit im Jahr 2008. Der Text wurde für die vorliegende Ausgabe gekürzt.

Ich wurde gefragt, zu den brennenden Themen von Land und Unterkunft etwas zu sagen. Ich wurde nur eingeladen wegen der Stärke der Bewegung, von der ich ein Teil bin, und darum möchte ich der Diakonie im Namen von Abahlali baseMjondolo für diese Plattform danken.

Die Kirchen haben sich in schwierigen Zeiten hinter unseren Kampf gestellt - nach Bränden, nach Verhaftungen, nach Schlägen. Wir wissen um die Rolle, welche die Kirchen in Brasilien und in Haiti gespielt haben, und glauben, dass die Kirchen hier dieselbe Rolle übernehmen können, wenn sie klar Position beziehen, wie einige Kirchenführer dies bereits unerschrocken getan haben. Damit sie mit den Menschen sind und sich eindeutig auf die Seite der Menschen stellen, anstatt nur ein weiterer "Vertreter der eigenen Interessen" zu sein. Bischof Rubin Philip trat standhaft für eine Politik der Armen ein und ich möchte heute Abend sagen, dass wir ihm eine rasche und vollständige Genesung von seiner Krankheit wünschen.

Das Recht auf Land und Unterkunft ist in Südafrika immer noch ein enormes Problem. Es geht nicht um technische, sondern um politische Probleme. Diese Probleme sind nicht durch Gutachten von BeraterInnen, durch akademische Konferenzen im Internationalen Kongresszentrum und durch Treffen mit Mitgliedern des Exekutivrats im Hotel Suncoast lösbar. Diese Probleme können nur dann gelöst werden, wenn diejenigen Menschen, die in diesem System nicht zählen, die Menschen, die keinen eigenen Platz haben, sich erheben und ihren Platz einnehmen und als BürgerInnen dieses Landes gewertet werden.

Unsere Politik beginnt mit der Anerkennung der Menschlichkeit eines jeden Menschen. Wir haben beschlossen, dass wir nicht länger die netten Jungs und Mädels sein werden, die ruhig darauf warten, dass unsere Menschlichkeit eines Tages anerkannt wird. Die Stimmabgabe hat uns nichts gebracht. Wir haben uns unser Land in den Städten bereits genommen und wir haben dieses Land behalten. Wir haben außerdem den Entschluss gefasst, dass wir uns in allen Diskussionen Raum nehmen werden und dass wir dies jetzt tun. Wir nehmen unseren Platz auf bescheidene Weise ein, weil wir wissen, dass wir nicht auf alles Antworten haben, dass niemand auf alles Antworten hat. In unserer Politik geht es um ein vorsichtiges Miteinander, um ein Aushandeln von Dingen, um ein vorsichtiges miteinander Voranschreiten. Aber obwohl wir unseren Platz bescheiden einnehmen, nehmen wir ihn entschlossen ein. Wir erlauben dem Staat nicht, uns im Namen einer zukünftigen Revolution, die niemals eintreten wird, ruhig zu stellen. Wir erlauben den NGOs nicht, uns im Namen eines zukünftigen Sozialismus, den sie niemals aufbauen können, ruhig zu stellen. Wir nehmen uns unseren Platz ein als Menschen, die genauso zählen wie alle anderen. Manchmal nehmen wir uns diesen Platz auf der Straße, wo wir mit Tränengas und Gummigeschossen konfrontiert werden. Manchmal nehmen wir uns diesen Platz in den Gerichten. Manchmal in den Radios. Heute Abend nehmen wir uns diesen Platz hier. Unsere Politik geht von den Plätzen aus, die wir eingenommen haben. Wir nennen dies eine lebendige Politik, weil sie von den Menschen kommt und bei den Menschen bleibt. Dies ist unsere Politik und sie ist Teil unserer Leben. Wir organisieren sie in unserer eigenen Sprache und in unseren eigenen Gemeinschaften. Sie ist die Politik unserer Leben. Sie wird zu Hause gemacht, mit dem was wir haben und was für uns und von uns gemacht wurde. Wir sind nicht länger die Leiter für PolitikerInnen, damit diese über die Menschen aufsteigen können.

Manchmal ist es schwierig, aber wir schreiten weiter gemeinsam voran. Manchmal wissen wir nicht mehr, was wir tun sollen, aber wir denken weiter gemeinsam. Manchmal bleibt eine Siedlung standfest. Manchmal schafft es eine Siedlung nicht standfest zu bleiben. Aber wir schreiten weiter gemeinsam voran.

[...]

Uns wurde klar, dass man uns, wann immer wir über Geschichte sprechen, vorwirft einen Angriff zu lancieren. Uns wurde klar, dass dies darum geschieht, weil die Reichen glauben möchten, dass wir arm sind, weil wir weniger wert sind als sie - weniger intelligent, weniger verantwortlich, weniger sauber, weniger ehrlich. Wenn wir arm sind, weil wir weniger wert sind als die Reichen, dann müssen wir glücklich sein über jede Kleinigkeit, die uns überreicht wird, wir müssen glücklich sein mit einem Fresskorb oder einigen alten Kleidern, während unsere Kinder unter Ratten, im Feuer und im Dreck sterben.

Aber wir sind nicht arm, weil wir weniger wert sind als die Reichen. Wir sind arm, weil wir arm gemacht werden. Die Reichen sind reich, weil sie reich gemacht wurden. Haben deine Vorfahren Land gehabt, dann kannst du auf die Universität gehen, bekommst einen guten Job und kannst dich gut um deine Familie kümmern. Haben deine Vorfahren das Land verloren, dann bist du froh, wenn du einen gefährlichen Job findest, den du hasst, damit deine Familie gerade überleben kann.

Die zunehmende Armut in ländlichen Gemeinschaften treibt hauptsächlich junge Menschen zur Migration in die Städte an. So lange daher die Städte ebenso wachsen wie die Armut, ist die Verstädterung keine Ausnahme. Die Menschen werden sich auf der Suche nach Hoffnung weiter in die Städte bewegen müssen. Diese Wirklichkeit fordert die städtischen Autoritäten dazu auf, die Städte miteinander zu teilen und dieses Wachstum zu akzeptieren. Es sind dieselben armen Menschen, die die Städte bauen und dann aus diesen vertrieben werden, um an Plätzen wie Parkgate dahinzusiechen, sobald sie die Bauten fertig gestellt haben, die dazu dienen, ausländisches Investment anzuziehen. Es sind dieselben armen Menschen, die für die Reichen waschen und bügeln, die in Baracken leben müssen, in denen sie ihre Kleider unter widrigen Bedingungen waschen und bügeln. Es sind dieselben armen Menschen, die unerschrocken die Häuser und Geschäfte der Reichen bewachen, die, wenn sie nach Hause kommen, ihre Häuser von jenen Verbrechern illegal zerstört finden, welche Landinvasionseinheiten genannt werden.

Das ist falsch. Wir brauchen demokratische Städte. Wir brauchen gerechte Städte. Wir brauchen einladende Städte. Wir brauchen Städte für alle.

Wir müssen uns darüber Gedanken machen, wie wir eine neue Art von Kommunismus, eine neue Art von Miteinander schaffen können. Einen lebenden Kommunismus, der jeder Einzelnen dieselbe Menschlichkeit zuspricht, wo sie auch geboren sein mag, wo immer ihre Vorfahren herkommen, seien diese arm oder reich, Frau oder Mann. Dieses neue Miteinander muss auch verstehen, dass die Welt, die Gott uns allen gegeben hat, von uns allen geteilt werden muss.

Dieses System, unter dem wir jetzt leiden, belässt das Land in den Händen der Abkömmlinge derer, die es mit den Gewehrläufen kolonialer Flinten geraubt haben. Dieses System verwandelt die AnführerInnen, denen in unseren Städten einst alles Vertrauen galt, in Feinde. Feinde, die die Armen nicht nur hassen und missachten, sondern Feinde, die die Polizei schicken, um die Armen zu verprügeln, zu verhaften und zu erschießen, wann immer wir unsere Anliegen verkünden. Heute Abend gedenken wir Mthokozisi Nkawanyana, ein Studenten und Barackenbewohner, der von der Polizei während eines Studierendenprotests letzten Donnerstag getötet wurde. Dieses System redet viel von Demokratie, aber es praktiziert keine Demokratie. Dieses System redet viel von den Rechten, von Geschlechtergleichheit und von Gerechtigkeit, aber es verwirklicht all dies nicht. Dies ist ein System, in dem nahezu alles im Namen der Armen getan wird, aber nur um die Armen wieder und wieder zu verraten und zu demoralisieren. Dies ist ein System, das die Einrichtung vieler Institutionen wie etwa NGOs, NPOs, Unternehmen und Staaten erlaubt, um die Menschenrechte der Armen und Marginalisierten in unseren Gesellschaften mit Füßen zu treten.

Wir müssen uns fragen, was ist das für ein System?

Dieses System ist ein System, in dem die Menschen in zwei Gruppen aufgeteilt werden: Die, die zählen und die, die nicht zählen. Diejenigen, die zählen haben Geld. Diejenigen, die nicht zählen, haben kein Geld. Dieses System zieht Unternehmensprofite menschlichen Werten vor. Dieses System verwandelt die Demokratie in eine Weise, Reichtum zu erlangen. Geld wurde zur Beherrschung des menschlichen Denkens geschaffen. Darum müssen wir dieses System vom Kopf auf die Füße stellen und den Mensch in den Mittelpunkt rücken. Wir müssen immer mit denen beginnen, denen es am schlechtesten geht.

In unserer Gesellschaft ist etwas sehr schief gelaufen, nämlich dass Unternehmensprofite vor menschlichem Wert kommen. In unserer Gesellschaft ist schief gelaufen, dass sich ein Denken breit gemacht hat, für das Fragen der Entwicklung der Job einiger schlauer TechnikerInnen ist, die im Namen der Mehrheit denken sollen. Grassroots-Organisationen wie etwa Abahlali baseMjondolo lehnen diesen Top-Down-Entwicklungsansatz, der in den Menschen nichts anderes sieht als hilflose Individuen, die nicht für sich selber denken können, aufs Schärfste ab. In dieser Perspektive besteht die Arbeit der Armen darin, zu wählen, wenn man es ihnen sagt, und passive DienstleistungsempfängerInnen zu bleiben. Darum wollen die sogenannten ExpertInnen für die Armen und für unsere Kämpfe unsere Proteste immer als "service provider protests" [Proteste für die Dienstleistungserbringung] bezeichnen, selbst wenn wir deutlich benennen, wofür wir kämpfen.

Wir sind die Menschen, die nicht dazu bestimmt sind, zu denken. Wir sind die Menschen, die nicht zur Teilnahme an der Planung und Diskussion von Angelegenheiten, die uns angehen, bestimmt sind. Wir sind die Menschen, die glücklich darüber sein sollen, dass sie von Fresskörben leben. Die Armen lehnen diese entmenschlichenden Charakteristika des Top-Down-Systems, das unsere Gemeinschaften und unsere Leben terrorisiert hat, aufs Heftigste ab.

Abahlali hat immer wiederholt, dass die Mehrheit unserer Leute an eine wahre Demokratie glaubt, eine Demokratie, die für jede gogo [Großmutter] und jeden mkhulu [Großvater] zu Hause sorgt; eine Demokratie, die die Menschen nicht unterschiedlich wahrnimmt; eine Demokratie, die nicht wenige Menschen besser dastehen lässt als die Mehrheit; eine Demokratie, deren Motor nicht der Reichtum ist, der unsere Gesellschaft entzweit hat. Wir glauben an eine partizipative Entwicklung der Menschen, für die Menschen und durch die Menschen selbst. Es macht uns betroffen, dass die meisten Häuser, die gebaut werden, für die Menschen ohne die Menschen gebaut werden. Darum akzeptieren einige Menschen diese Häuser nur ungern und vermieten oder verkaufen sie an verzweifelte GefährtInnen weiter, um zu ihren jondolos zurückzulaufen. Das ist keine Angelegenheit für die Polizei und die nationale Sicherheitsagentur. Die Ursache dafür ist nicht, dass BarackenbewohnerInnen nicht denken können oder dass sie dumm sind. Der Grund liegt im Scheitern der Behörden, die BarackenbewohnerInnen nicht nur in die Planung, sondern schon in die Festlegung, die Implementierung, das Monitoring und die Evaluierung der Projekte miteinzubeziehen - eigentlich in den ganzen Projektzyklus. Wenn man die Menschen, manchmal mit vorgehaltener Pistole, aus ihren Gemeinschaften entfernt und sie in ländliche Mülldeponien bringt, wo es keine Arbeit gibt, werden sie dort nicht bleiben. Menschen müssen überleben. Wir wollen, dass klar ist, dass der Bottom-Up-Entwicklungsansatz anerkennt, dass die Mehrheit der Armen ein angemessenes Leben bevorzugt. Folglich sind Kommunikation und Konsultation unerlässlich, wenn es die Autoritäten ernst meinen und jene respektieren würden, die sie "NutznießerInnen" nennen.

[...]

Es ist sehr traurig, dass einige AkademikerInnen und NGOs immer noch glauben, es wäre ihr natürliches Recht, zu herrschen, anstatt die Kämpfe der Armen zu unterstützen. Wir haben uns jahrelang ruhig verhalten, aber jetzt müssen wir sagen, dass wir wissen, dass die Arbeit der Intellektuellen im Center for Civil Society [Zentrum für Zivilgesellschaft] darauf beruht, unsere Intelligenz festzulegen, um unsere Intelligenz so zu auszuhöhlen. Sie versuchen Individuen zu kaufen, GenossInnen einzuschüchtern und erzählen die schlimmsten Lügen, um uns zu testen und zu zeigen, dass wir zu dumm sind, um über unsere eigenen Kämpfe nachzudenken. Sie scheitern daran, zu verstehen, dass wir arm und nicht dumm sind.

Das ist ihre Politik.

Die BarackenbewohnerInnen glauben, dass Land und Unterkunft in den Städten ein sichereres Umfeld mit sich bringen werden, ein Umfeld, frei von brennenden Baracken, ein Umfeld, frei von Ratten, Vergewaltigungen und Verbrechen, die immer dann passieren, wenn unsere Kinder und Frauen Wasser und Klos in den Büschen suchen müssen. Wenn wir es ernst meinen mit sozialen Städten, dann muss der erste Schritt der Respekt vor menschlichem Leben und menschlicher Würde sein. Mnikelo Ndabankulu, ein Sprecher von Abahlali baseMjondolo sagt häufig: "Wir brauchen keine Elektrizität, aber unsere Leben brauchen das." Unsere Siedlungen sind nicht zeitweilig. Einige von uns haben ihr ganzes Leben dort verbracht. Unsere Kinder sind dort aufgewachsen. Elektrizität, Wasser und Sanitäranlagen können den BarackenbewohnerInnen nicht länger verweigert werden. Die Stadtgemeinde eThekwini hat uns des Öfteren gesagt, dass nicht Geld, sondern Land das Problem sei. Aber das Problem bestand niemals nur darin, dass es in den Städten kein Land gibt, wie uns immer erzählt wurde. Dieses Problem lässt sich lösen, aber das würde die Anerkennung der Menschlichkeit eines jeden Einzelnen notwendig machen; und die Anerkennung des Menschen stand niemals an erster Stelle. In dieser Stadt gilt Armsein, das Wohnen in einer Baracke oder der Straßenverkauf als Verbrechen. Solange all das kein gesichertes Recht ist, werden die Armen immer als UnruhestifterInnen wahrgenommen werden, während sie gleichzeitig von allem positiven Denken, das zum Aufbau einer sozialen Stadt beitragen könnte, ausgeschlossen bleiben. Wir brauchen eine Stadt, in der jede/r mitreden kann und die gleiche Möglichkeit hat, diese Stadt zu einer sozialen Stadt zu gestalten und umzugestalten.

1. Die Räumungen müssen aufhören.

2. Lebensrettende Grunddienste, inklusive Elektrizität, Wasser, Abfallbeseitigung und Toiletten müssen allen Siedlungen zur Verfügung
    gestellt werden.

3. Das Land, auf dem Siedlungen gegründet wurden, muss einer kollektiven EigentümerInnenschaft der in den jeweiligen Siedlungen
    lebenden Menschen übertragen werden.

4. Die Siedlungen müssen, so möglich, ausgebaut werden.

5. Wenn Menschen umgesiedelt werden müssen, müssen sie die Möglichkeit bekommen, auf ein gut gelegenes Land zu ziehen.

6. Das Land des Unternehmens Tongaat-Hullet muss enteignet werden, damit die Armen dort wohnen können.

7. Es muss Schluss sein mit den erzwungenen Vertreibungen. Menschen dürfen nur auf freiwilliger Basis umgesiedelt werden.

8. Die Regierung muss mit jenen Organisationen verhandeln, die die Siedlungen vertreten, und nicht mit der lokalen Gemeindeverwaltung.

9. BarackenbewohnerInnen haben das Recht, der Regierung zu widersprechen.

10. BarackenbewohnerInnen haben das Recht, sich selbst außerhalb politischer Parteien zu organisieren.

Wir haben die Leute gebeten, mit uns zu sprechen und nicht für uns. Wir haben die Leute gebeten, mit uns zu arbeiten und nicht für uns. Wir haben die Leute gebeten, mit uns zu denken und nicht für uns. Wir haben die Leute gebeten, zu verstehen, dass unsere Bewegung immer unseren Mitgliedern gehören wird und nicht einer NGO oder einer politischen Partei. Wir haben die Leute gebeten, zu verstehen, dass wir eine lebendige Solidarität brauchen; eine Solidarität, die auf der Teilhabe an unserer lebenden Politik beruht; eine Solidarität, die sich auf das wirkliche tagtägliche Leiden und die Kämpfe unserer Leute stützt. Ich danke der Diakonie für diese Gesprächseinladung. Ich danke den Kirchen für ihre wackere Unterstützung in den schwierigen Zeiten unseres Kampfes. Ich lade jeden hier dazu ein, am Aufbau einer Partnerschaft für eine demokratische Stadt mit uns und mit allen anderen demokratischen Organisationen der Armen mitzuarbeiten. Ich lade Sie alle zum Gipfel der Barackenfeuer ein. Vielleicht können wir dort beginnen. Wir werden sehen.


S'bu Zikode ist der gewählte Vorsitzende der Bewegung Abahlali baseMjondolo, die derzeit vierzehn Siedlungen umfasst.

Raute

Elisabeth Steger

Eva Egermann, Anna Pritz (Hg.): school works - Beiträge zu vermittelnder, künstlerischer und forschender Praxis

Wien: Löcker Verlag, 2009, 180 Seiten, 12 Euro

Schularbeiten oder Schule arbeitet? Keines von beiden. Derzeit wird an der Akademie der bildenden Künste in Wien gestreikt. Durch das Buch erhält man aber Auskunft darüber wie es um die Ausbildung am IKL, dem Institut für künstlerisches Lehramt bestellt ist - wenn nicht gestreikt wird (Können KünstlerInnen überhaupt streiken?). Die Publikation versammelt Beiträge von LehrerInnen, BildungswissenschaftlerInnen, KunstvermittlerInnen und KünstlerInnen. Diese Beiträge sind - so der Vorstand des Instituts, Martin Beck - "als Geflecht von Sprechformaten arrangiert, das Bildungs- und Vermittlungsdebatten mit künstlerischen Beiträgen verschränkt. Was dabei entsteht, ist der Versuch einer Neuorganisation des diskursiven Verhältnisses von Schule und Kunstwelt: ein produktiver Austausch zwischen zwei institutionellen Feldern, deren Beziehung (im Rahmen politischer Rhetorik) zwar immer als wichtig erachtet wird, die aber im Bildungsalltag oft nur peripher miteinander in Berührung kommen."

Ein Geflecht von Sprechformaten - das klingt sehr neumodisch und in der Tat, die neoliberal forcierte Projektpolitik hat "natürlich" auch an diesem Institut längst Einzug gehalten. Die Auseinandersetzung mit dem Fach geschieht sehr intensiv, das zeigt das Heftchen, auch wenn es schleißig produziert ist. Das interessanteste "Sprechformat" ist für mich eine Zeichnung von Ingular Sing auf den Seiten 120 und 121 mit dem Titel "schul arbeit" aus dem Jahr 2009. Sie zeigt gleichberechtigt neben- und ineinander gestellte, text- und bildsprachlich verfasste Gedanken zum derzeitigen Zustand des Schulsystems im künstlerischen Fach, das in Österreich auch bildnerische Erziehung genannt wird. "School works - school does not work. Ein verwirrter, erwartungsloser Blick auf die Verhältnisse zwischen Schule, Arbeit und der Krise des Kapitalismus", steht da etwa. Rechterhand sehen wir ein Bild im Bild, eine eingerahmte theriomorphe Figur, einen männlichen Lehrkörper, genau genommen einen lehrenden Oberkörper mit weißem Hemd und schwarzem Sakko und Binder vor einem weißen Sockelpult stehend, einen grünen Kopf mit gelbem Schnabel als Haupt tragend. Vor rotem Hintergrund schaut uns dieses einzelne Aufbruchwesen zwischen Vergangenheit und Zukunft etwas hilflos, aber sehr direkt an. Ingular Sing unterrichtet in Wien Englisch an Vor- und Volksschulen; er ist "Teil einer wöchentlichen Diskussionsgruppe, welche die Beziehung zwischen Bildung und Kapitalismus in Krisensituationen untersucht. Seiner Überzeugung nach sind Lehrende Lernende und Lernende tatsächlich die Lehrenden". Dieser letzte Satz könnte auch aus dem Buch "Lehren und Lernen als Aufführungskünste" stammen, das im Jahr 1970 von Robert Filiou unter Mitwirkung von John Cage, George Brecht, Joseph Beuys und anderen verfasst wurde. John Cage sagte über lebenslanges Lernen und die Uni, den Gesamtkomplex Erziehung, vor 40 Jahren: "Dies alleine, der reine Gedanke, dass man sein ganzes Leben damit verbringen würde, ausgebildet zu werden, ist heutzutage abstoßend, nicht weil man daran denken kann, wie das sein würde, sondern weil man sich erinnert, wie es war. Man würde sich nicht wünschen, in den Universitäten zu leben, so wie man sie heute kennt. Sondern wir müssten die Universitäten so verändern, dass sie wie die Orte sind, die wir gern haben, so wie wir unser ungeregeltes, anarchistisches Künstlerleben gern haben." Von Ingular Sing entworfen ist offensichtlich auch die Postkarte des derzeitigen Akademiestreiks direkte.aktion@gmail.com mit einem Statement Für eine freie Bildung und dem Titel: How to survive the university. Take Space Make Time. Ja - es gibt auch Leute, die snailmail (Schneckenpost) schreiben.

Raute

Veranstaltungen

Vortrag und Diskussion mit G. M. Tamás: Konterrevolution gegen eine Konterrevolution

G.M. Tamás war während der Wende Dissident, von 1990 bis 1994 Abgeordneter im ungarischen Parlament und ist heute ein bekannter linker Intellektueller. An diesem Abend spricht G. M. Tamás über den Charakter der Proteste von 1989, über die auf den Regimewechsel folgende neoliberale "Schocktherapie" sowie deren wirtschaftliche und politische Folgen in den Ländern des ehemaligen "real existierenden Sozialismus". Dabei zeigt er, dass es bis heute vor allem die extreme Rechte ist, die mit nationalistischer und faschistischer Rhetorik die Widerstände gegen die neoliberalen Reformregierungen in Osteuropa für sich vereinnahmt und so die politische Landschaft entscheidend prägt. Eine Veranstaltung der Redaktionen grundrisse, Perspektiven und Streifzüge
21. Dezember 2009, 18h30, Ost-Klub, 1040 Wien, Schwarzenbergplatz 10

"Über Marx hinaus" (Assoziation A): Buchvorstellung und Diskussion mit Max Henninger, Maria Mies und Karl-Heinz Roth
15. Jänner 2010, 19 Uhr Universität Wien, Neues Institutsgebäude, voraussichtlich Hörsaal II, Universitätsstraße 7, 1010 Wien

Raute

IMPRESSUM

Erscheinungsdatum dieser Ausgabe: 10.12.2009,

Ein Jahresabo kostet für 4 Nummern Euro 20,-, das 2-Jahres-Abo nur 35,- Euro!
Bestellungen entweder an grundrisse@gmx.net oder an K. Reitter, Antonigasse 100/8, A-1180 Wien

Bankverbindung: Österreich: BAWAG Konto Nr. 03010 324 172 (K. Reitter), Bankleitzahl 14000.
International: BIC = BAWAATWW, IBAN = AT641400003010324172, Empfänger = K. Reitter

Die offenen Redaktionstreffen der Grundrisse finden jeden 2. und 4. Montag im Monat um 19 Uhr im
"Amerlinghaus", 1070 Wien, Stiftgasse 8 statt. Interessierte LeserInnen sind herzlich eingeladen.

Weitere Infos unter: www.grundrisse.net und unter
redaktion@grundrisse.net

Medieninhaberin: Partei "grundrisse" Antonigasse 100/8, 1180 Wien
Herausgeberin: Redaktion "grundrisse" (Dieter A. Behr, Martin Birkner, Bernhard Dorfer, Robert Foltin,
Maniel Fuchs, Markus Grass, Käthe Knittler, Minimol, Franz Naetar, Paul Pop, Karl Reitter)

MitarbeiterInnen dieser Nummer: Katharina Hajek, Peter Haumer, Birgit Mennel,
Rainer Monk, Bahman Shafig, Elisabeth Steger, Gerold Wallner

Layout: Lisa Bolyos

Erscheinungsort: Wien. Herstellerin: Digidruck, 1030 Wien

Offenlegung: Die Partei "grundrisse" ist zu 100% Eigentümerin der Zeitschrift "grundrisse".

Grundlegende Richtung: Förderung gesellschaftskritischer Diskussionen und Debatten.

Copyleft: Der Inhalt der "grundrisse" steht unter der GNU-Lizenz für freie Dokumentation, außer wenn anders angegeben.

ISSN: 1814-3156, Key title: Grundrisse (Wien, Print)


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Quelle:
grundrisse - zeitschrift für linke theorie & debatte
sondernummer winter 2009, nr. 32
Herausgeberin: Redaktion "grundrisse"
Antonigasse 100/8, 1180 Wien
E-Mail: grundrisse@gmx.net
Internet: www.grundrisse.net


veröffentlicht im Schattenblick zum 5. Februar 2010