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GRASWURZELREVOLUTION/1754: Stichworte zum Postanarchismus - Erziehung


graswurzelrevolution 428, April 2018
für eine gewaltfreie, herrschaftslose gesellschaft

Stichworte zum Postanarchismus 3.
Erziehung: Zur Unvereinbarkeit von Anarchismus und Kindern

von Oskar Lubin


Das Problem am partnerschaftlichen Umgang mit Kindern ist, dass sie sich nicht verhalten wie Partnerinnen und Partner. Außer vielleicht wie Freunde nachts betrunken auf einer Party. Lass mich, ich will das ausziehen, is' mir doch egal, ob es schneit! Nein, ich will nicht mitkommen! Kinder müssen das Partnersein erst lernen. Es bedarf aber einer "Praxis der Gleichheit",(1) schrieb Peter Kropotkin 1913 in "Der Anarchismus", um ein Gerechtigkeitsgefühl bei allen und gegenüber allen zu erzeugen. Ein kaum einlösbarer Anspruch. Zweijährige sind noch nicht einfühlsam.

Ethische Normen und moralisches Empfinden beruhen auf gesellschaftlichen Konventionen und müssen erst angeeignet werden. Dass es sich gebietet, bei einer roten Ampel stehen zu bleiben, sieht auch der Dreijährige schnell ein, weil er die rasenden Autos sieht. (Ob er der eigenen Einsicht Folge leistet, ist eine andere Frage.) Aber warum er beim Essen die Füße vom Tisch nehmen soll, das ist erklärungsbedürftig. Eine Bedürftigkeit, die Erwachsene aber auch nicht bei allen Kleinigkeiten bedienen dürfen. Denn Erklärungen überfordern Kinder schnell. Ihr Zugang zum vernünftigen Argument ist begrenzt.

Außerdem: Kinder sind leider keine geborenen Sozialist*innen. Wie die Anteilnahme müssen sie auch das Teilen erst lernen. Aber immerhin - wer mit Geschwisterkindern lebt, kennt das - das Verbünden gegen die Mächtigen kommt vergleichsweise schnell. Die auch in libertären Kreisen seit Jean-Jacques Rousseau gepflegte Annahme, der Mensch sei von Natur aus gut (also etwa: solidarisch) und dann kämen die Institutionen, insbesondere der Staat, und machen alles kaputt, ist leider falsch. Sie hält keiner Empirie stand. Fragen sie beliebige Eltern.

Und trotzdem. Wie bei der leider etwas in Vergessenheit geratenen Antipädagogik heißt es auch bei Jesper Juul, dem Familientherapeuten und Beratungsliteraturbestsellerautor: "Erziehung ist immer Manipulation und kränkt".(2) Man erlaube sie daher auch nur Menschen, die man liebe. Und was diese sich auch immer an Konzepten und bewussten Maßnahmen ausdenken, das sei im Grunde bestenfalls für die Katz. Eher sogar kontraproduktiv. "Diese bewusste Erziehung macht auf Kinder keinen großen Eindruck, zumindest keinen guten."(3)

Kinder lernten stattdessen viel mehr von dem, was sie vorgelebt bekommen, als von ausgedachten Maßnahmen. Mit dieser Grundhaltung unterscheidet sich Juul erfrischend von vielen vergleichbaren Autor*innen, in deren Büchern es häufig darum geht, wie man die lieben Kleinen am besten austrickst und dazu bringt, zu machen, was man selbst will.

Auch wenn Juul Eltern als "Leuchttürme" beschreibt, die den Weg weisen, oder als "Leitwölfe", die die Führung in der Familie übernehmen sollen: Seine immer wieder variierte Ausgangsthese ist die von der Kooperation. Kinder müssen kooperieren, weil sie sonst nicht überleben würden. Letztlich kooperieren wir alle. Und zwar vor allem aus einem Grund: "wir alle wollen uns für jemanden als wertvoll empfinden"(4).

Wenn Kinder - oder Menschen überhaupt - mal nicht kooperieren, hat das einen von zwei Gründen: "Sie sind entweder gekränkt oder überfordert." (5) Das sagt Katharina Saalfrank, die andere aus anarchistischer Sicht akzeptable Beraterin in Sachen Leben mit Kindern. Akzeptabel, weil sie sich konsequent gegen jede Form von Strafen ausspricht.

Kooperation wäre demnach also auch eine gute Grundlage für Partnerschaft. Der anarchistische Kunsthistoriker Herbert Read (1893-1968) hatte darauf gehofft, alle zwanghaften Moralkodes und die Moral von Gehorsam und Disziplin durch eine "Moral der Zuneigung"(6) ersetzen zu können. Lehrer*innen sollten Freund*innen werden, die keine vorgefertigten Regeln vorsetzen, sondern ihre Kinder dazu ermutigen, ihre eigenen kooperativen Tätigkeiten auszuführen, um damit spontan ihre eigenen Regeln zu erarbeiten."(7)

Gemeinsam Regeln erarbeiten klingt gut, weil partnerschaftlich Zwei Haken gibt es: Erwachsene sind erstens per se Mächtiger. Sie sind es konkret, weil Kinder abhängig sind, und sie sind es strukturell, weil sie rechtlich bevollmächtigt sind und so auch im Alltag adressiert werden. Diese Machtstruktur lässt sich nicht wegdiskutieren oder dadurch wegzaubern, dass Kinder ihre Eltern oder Bezugspersonen beim Vornamen nennen. Zweitens müssen die ausgehandelten Regeln dann leider auch noch vermittelt werden mit anderen, bereits bestehenden Regeln. Die Strumpfhose im Winter muss nicht nur aus Gesundheitsgründen sein, sie muss auch deutlich vor neun Uhr auf den Beinen sitzen, sonst wird das mit Kita und Jobbeginn ziemlich knapp. Nur zum Beispiel.

Anarchistische Pädagogik, schrieb der Experte zum Thema, Ulrich Klemm, war und ist "Bestandteil der sozialen und politischen Bewegung des Anarchismus [...], also Ausdruck revolutionären Bewußtseins".(8) Das ist zwar dick aufgetragen, aber warum nicht?! Aber wer, wenn nicht Anarchist*innen mit ihrem Anspruch auf Praxistauglichkeit von Theorie, sollte wissen: Bewusstsein reicht nicht. Es ist nur ein erster Schritt zur Praxis. Und die kann gar nicht anders als widersprüchlich sein. Denn erstens hat man es mit einem prinzipiellen Machtverhältnis zu tun. Kinder brauchen emotionale und kognitive Orientierung. Emotional: Kränkungen und Überforderungen werden ja nicht als solche benannt, sondern äußern sich etwa im erbitterten Kampf um die Strumpfhosenlosigkeit. Kognitiv: "Papa, ist Afrika in Amsterdam?" Da muss geordnet werden. Zweitens existiert leider eine von Herrschaft durchzogene Gesellschaft, die die Erwachsenen-Kind-Beziehung umgibt. Da braucht es Vermittlung, Kompromiss, und die - das Wort kommt jetzt absichtlich - Führungsrolle eines Menschen, der sich mit den häufig abstrusen Feinheiten sozialer Konventionen und Ritualen auskennt. Über die Süßigkeiten-an-der-Kasse-Knatscherei lässt sich noch hinweggehen. (Cool bleiben ist im Umgang mit Kindern ohnehin das A & O). Im Supermarkt gebrüllte, auf andere Kundinnen gemünzte Fragen wie "Papa, warum ist die so dick?" müssen irgendwie der Vermeidung zugeführt werden. Weil sie andere verletzen.

Aber Verbote nützen da, wie auch sonst, eigentlich nichts. Stattdessen Aufgreifen, Erklären, Aushandeln. Aber nicht zu viel, sonst droht Überforderung (bei Kindern). Nicht zu wenig, sonst droht Autoritarismus (durch Eltern). Es ist alles nicht so einfach. Trotzdem ist Klemm letztlich auch zuzustimmen, wenn er konstatiert: "Libertäre Pädagogik in einer von Machtverhältnissen und Ungleichheit bestimmten Gesellschaft wird zum ständigen Ankläger an Formen autoritärer Kommunikation und Interaktion".(9)


Anmerkungen:

(1) Peter Kropotkin: Der Anarchismus. Ursprung, Ideal und Philosophie. Hrsg. Von Heinz Hug. Grafenau und Wien: Trotzdem Verlag und Monte Verita Verlag 1993, S. 91.

(2) Jesper Juul: 5 Grundsteine für die Familie. Wie Erziehung funktioniert. München: Kösel-Verlag 2015, S. 130.

(3) Ebd., S. 137.

(4) Ebd., S. 34.

(5) Katharina Saalfrank: Kindheit ohne Strafen. Neue wertschätzende Wege für Eltern, die es anders machen wollen. Weinheim Basel: Beltz Verlag 2017, S. 26.

(6) Herbert Read: "Die Erziehung des freien Menschen." in: Ders.: Kunst, Kultur und Anarchie. Politische Essays wider den Zeitgeist. Hrsg. Von Ulrich Klemm. Grafenau: Trotzdem Verlag 1991, S. 89-132, hier S. 118.

(7) Ebd.

(8) Ulrich Klemm: "'Verbrannte Pädagogik.' Über den aktuellen Zusammenhang von Pädagogik und Anarchismus." In: Hans-Jürgen Degen: Anarchismus heute. Positionen. Berlin: Verlag Schwarzer Nachtschatten 1991, S. 102-118, hier S. 102.

(9) Ebd., S. 116.

*

Quelle:
graswurzelrevolution, 47. Jahrgang, Nr. 428, April 2018, S. 15
Herausgeber: Verlag Graswurzelrevolution e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Mai 2018

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