Schattenblick →INFOPOOL →MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE

GRASWURZELREVOLUTION/1424: Anarchie kennt keine Altersgrenze


graswurzelrevolution 392, Oktober 2014
für eine gewaltfreie, herrschaftslose gesellschaft

Anarchie kennt keine Altersgrenze
Meine Begegnung mit der 92-jährigen Anarchistin Jean Pauline in San Francisco

von Anja Kraus



Im April 2014 bereiste ich San Francisco (SF) und Nordkalifornien. Auf einem Diskussionstreffen von AnarchistInnen riet mir ein Freund, ich solle auf jeden Fall den Anarchist Bookshop in SF besuchen, mit denen er vor 10 Jahren auf einer anarchistischen Buchmesse in Kontakt gekommen war.


Ich bekam Adresse und Telefonnummer. Bei den Reisevorbereitungen fiel mir siedend heiß ein, dass ich diesen Kontakt nicht verfolgt hatte und zwei Tage vor Abreise rief ich im Bookshop in SF an. Ich sei eine deutsche Anarchafeministin und würde gerne ihren Bookshop besuchen, wann es denn günstig wäre.

Der äußerst hilfsbereite und freundliche Gegenüber antwortet: "You need to meet Jean Pauline, she is the right discussion partner for you."

So kam es zu einer Verabredung mit der heute 92einhalb jährigen Anarchistin Jean Pauline, einen Tag nach Ankunft in SF, im traditionellen Hippie-Stadtteil High Ashbury.

Der anarchist bookshop liegt in SF in der Haight Street, eine bekannte Straße im alternativen Stadtteil. Es wimmelt von Smoke shops, Hippieklamottenläden mit gar nicht alternativen Preisen, gemütlichen Bars und Cafés, sowie Kräuterläden und es gibt die berühmten, gut sortierten Second Hand Läden. Der anarchist bookshop hat hier seit über 20 Jahren seinen Standort und wurde während meiner Anwesenheit stark frequentiert.

Auf einer Tafel vor dem Eingang sind einige anarchistische Prinzipien festgehalten, regionale Vermarktung, selbstbestimmtes Lernen und auch Taoismus stehen als Themen des Shops auf der Tafel.

Wir betreten einen größeren Raum, in dem gut sortiert zahlreiche Themen der Politik zu finden sind und zu meiner Freude auch ein altes Liederbuch von Arbeiterliedern mit mehrstimmigen Noten, was ich mir sogleich ergattere.

Der bookshop ist voll von Plakaten, eines davon benennt die große Zahl der Obdachlosen in SF "is there any reason to make a Revolution? 15000 Homeless People in SF are enough!"

Das größte Plakat im Bookshop ist eines von Emma Goldmann, ca. 1,5 auf 2 m groß ragt sie über der handbetriebenen Registrierkasse. Dort wartet Jean bereits auf uns.

Jean ist jüdischer Abstammung, ihre Familie hatte bereits zu Beginn des Jahrhunderts Russland verlassen müssen und siedelte dann nach Amerika.

Sie selbst kam mit 23 nach Kalifornien und heiratete hier. Aufgewachsen ist sie in New York und Brooklyn. Dann lebte sie lange im Süden Kaliforniens, bevor sie nach SF kam. Ihre Brüder waren Kommunisten, aber diese hätten nicht über Anarchismus geredet.

Vor dem Zweiten Weltkrieg hatte ihr Vater gebrauchte Kleidung verkauft, aber für diese Menschen gab es keine Gewerkschaft. Er arbeitete 16 Stunden täglich. Die Gewerkschaften kämpften damals für den 10 Stunden Tag. "Ich wusste schon damals, dass Gewerkschaften wichtig sind".

Jean antwortet auf die Frage, wie sie sich im Zweiten Weltkrieg verhalten hat: "Während des Zweiten Weltkrieges hatten wir Freunde, die vor dem Holocaust in Deutschland geflohen waren. So musste zum Beispiel die gesamte Familie des Ehemanns meiner Schwester aus Deutschland flüchten.

Viele andere Angehörige ihrer Familie wurden getötet. "Wir haben damals mit Roosevelt gesprochen und versucht ihn dazu zu bewegen, etwas zu tun, aber er tat nichts. Auch heute sprechen wir mit Obama, um die Deportationen von Mexikanern zu stoppen, aber er tut nichts."

Jean hat ihr Leben lang als Buchhändlerin gearbeitet. Nachdem sie 1977 in Rente gegangen war, lernte sie auf einer Party Menschen mit anarchistischen Ansichten kennen. Sie sagte, aber so denke ich schon immer, also bin ich Anarchistin.

So fing sie also 1980 an, im anarchist bookshop in SF zu arbeiten. Dort verdienen sie als Kollektiv genug, um die Miete für den Laden zu bezahlen, aber keinen Lohn für die MitarbeiterInnen. Ihr jetziger 84jähriger Lebensgefährte arbeitet auch im anarchist bookshop und kocht einmal in der Woche für die Obdachlosen in Oakland.

Viele der Obdachlosen sind ältere Menschen und Vietnam-Veterane und psychisch zerstört, aber auch viele Frauen und auch jüngere Menschen sind obdachlos. Von einem Taxifahrer hören wir, dass sogar Menschen mit Jobs obdachlos sind, weil sie keinen bezahlbaren Wohnraum finden. Ich bin in meinem Leben schon viel in verschiedenen Ländern gereist, aber ich habe nirgendwo auf der Welt so viele Bettler und Obdachlose gesehen wie in SF. Das hat mich sehr erschüttert. Viele Obdachlose pilgern auch in die Bay, um hier zu leben, weil sie bei den milden Temperaturen nicht erfrieren. Wir fragen Jean, ob es in SF noch andere anarchistische Gruppen gibt.

"Ja wir haben eine Gruppe in Berkley, sie treffen sich einmal pro Woche und dort publizieren wir die 'black cards', kleine anarchistische Bücher mit aktuellen Themen. In anderen Bezirken der Bay area gibt es pm press und ak press, aber immerhin leben in der gesamten Bay area 30 Millionen Menschen." (Anmerkung: San Francisco ist eine Halbinsel, dort leben 2 Millionen Menschen aber auf der anderen Seite der Bay area befinden sich weitere Städte wie Oakland, Castro, Berkley und viele mehr, mit insgesamt 30 Millionen BewohnerInnen.)

Welche besonderen Aktivitäten machst du noch?

"Meine Familie hatte Kontakte zu den Frauen in Schwarz in Israel. Wir starteten 1988 in Tel Aviv, jeden Freitag treffen sie sich dort in Tel Aviv, um gegen die Besetzung von Gaza zu protestieren. So tun wir es genauso jeden Samstag um 12 Uhr in Oakland. Wir machen seit über acht Jahren jeden Samstag vor dem Wochenmarkt in Oakland beim Grand Lake Theatre eine Schweigeminute gegen die Besetzung des Gaza durch Israel.

'Not in our name' - meist sind es fünf Familien jüdischer Tradition. Die Männer ziehen sich Masken und Frauenkleidung an und nehmen mit den Frauen an der women in black action teil." An diesem Samstag werden sie ein neues Flugblatt dabei haben über die Verwendung amerikanischer Steuergelder der War Resisters Legue.

Da am nächsten Tag Samstag ist, beschließen wir spontan mitzumachen.

Jean lädt uns ein, im Haus von ihr und ihrem Lebensgefährten eine Nacht zu bleiben und gemeinsam gehen wir am nächsten Tag zum Aktionstag.

Wir bauen ein Tischlein auf, legen ein schwarzes Tuch darüber und legen die Flugblätter darauf aus, sowie einige Anstecker zum Verkaufen. Dann - alle haben sich für die Performance schwarz angezogen, halten alle Schilder nach oben mit Parolen und wir schweigen 10 Minuten. Viele der vorbeifahrenden AutofahrerInnen machen wohlwollende Handzeichen, eine Schwarze motzt mich eifersüchtig an: "Warum kümmert ihr euch um Palästina, wir werden hier im Land benachteiligt."

Als ich ihr erzähle, dass ich in Deutschland Aktionstage für die Freiheit von Mumia Abu Jamal gemacht habe, ist sie besänftigt und erzählt, dass sie früher in der Black Panther Party war, aber jetzt ist sie schnell verschwunden und zeigt keine Solidarität.

Was ich schön fand: Die Männer der Frauen in Schwarz haben alle bei den Aktionen mitgemacht, der Ehemann von Jean hat sich eine überdimensionale Frauenfigur übergezogen und die anderen Männer haben so mitgemacht. Da das Ganze vor dem Theater stattfand, war es außer einer Gender Frauenaktion auch noch eine schöne Aktionsform.

In einer Gesellschaft, in der wir Frauen bei männlichen Bezeichnungen wie "Teilnehmer oder Mitarbeiter" ständig mitgemeint werden, war es für mich schön zu erleben, wie die Männer der Politaktivistinnen bei den "Women in Black" Aktionen selbstverständlich mitmachen und mit unterstützen.

Hier war nichts zu spüren von der eifersüchtigen Haltung vieler deutscher Männer, die jede Frauenaktion sowie jeden Aufruf gleich häufig abzuwaschen als Angriff auf ihre Männlichkeit begreifen.

Nach der Aktion waren ich und meine Lebensgefährtin beseelt und beglückt von soviel standfester mühevoller Kleinarbeit.

Die Gruppe versucht ca. einmal im Monat ein Flugblatt mit aktuellen Themen aus dem Gaza auszulegen, aber sie verteilen wenig, sondern warten auf Menschen, die sich für die Aktion interessieren. Einige werden an der belebten Straße ins offene Autofenster gereicht.

Die Themen der Flugblätter sind z.B. Übergriffe auf Kinder im Gaza, Verwendung der Steuergelder für Militärausgaben, welche Firmen profitieren von der Situation im Gaza, politische Situation in Israel und vieles mehr. Da Jean Pauline in San Francisco eine bekannte Persönlichkeit ist, wurde sie bereits von verschieden Leuten angefragt, über sie eine Autobiographie zu schreiben, aber sie ist zu beschäftigt, um dies zu tun.

Als wir abreisten, erfuhren wir, dass ihr Lebensgefährte schwer erkrankt ist. Die beiden sind für mich Vorbilder und haben mir Mut gemacht, bis ins hohe Alter politisch aktiv zu bleiben.


Adresse des booksbops:
Bound together Bookstore - an anarchist Collective
1369 Haight Street, San Francisco
CA 94117, 415-431-8355
boundtogehterbooks.wordpress.com

*

Quelle:
graswurzelrevolution, 43. Jahrgang, Nr. 392, Oktober 2014, S. 5
Herausgeber: Verlag Graswurzelrevolution e.V.
Koordinationsredaktion Graswurzelrevolution:
Breul 43, D-48143 Münster
Telefon: 0251/482 90-57, Fax: 0251/482 90-32
E-Mail: redaktion@graswurzel.net
Internet: www.graswurzel.net
 
Die "graswurzelrevolution" erscheint monatlich mit
einer Sommerpause im Juli/August.
Der Preis für eine GWR-Einzelausgabe beträgt 3 Euro.
Ein GWR-Jahresabo kostet 30 Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 15. Oktober 2014