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GRASWURZELREVOLUTION/1238: Make school, not war - Kritik am neoliberalen Bildungssystem


graswurzelrevolution 366, Februar 2012
für eine gewaltfreie, herrschaftslose gesellschaft

Make school, not war
Kritik am neoliberalen Bildungssystem

von Sigrid Lehmann-Wacker


"... daß wir keine Bildung gestatten - das heißt, kein angebildetes Wesen, jeder soll neugierig sein auf sich selber und soll sich zutage fördern wie aus der Tiefe ein Stück Erz oder eine Quell, die ganze Bildung soll darauf ausgehen, daß wir den Geist ans Licht hervorlassen."
Bettina Brentano (1801)   


Etwas ist schief gelaufen. Grundlegend. Nach dem aktuellen Gesundheitsreport der Techniker Krankenkasse (TK) ist der Anteil der StudentInnen, die Psychopharmaka verschrieben bekommen, seit 2006 um 44% gestiegen.

In Deutschland bricht zurzeit jeder fünfte Studierende ab. Nach Umfragen zählen Stress und Versagensängste zu den Hauptgründen für diesen Schritt. Die Türen der psychologischen Beratungsstellen an den Hochschulen, vor Einführung der Bachelor-Studiengänge oft erst ab dem dritten Semester aufgesucht, werden seit der Umstellung auf Bachelor- und Masterstudiengänge schon von Erstsemestern eingerannt.

Das in den 2000er Jahren bundesweit eingeführte Bachelor- und Mastersystem mit seinen marktförmig zugeschnittenen Modulen produziert überforderte Studierende, die ihr Studium zunehmend nur noch als schnell zu durchlaufende Station für den Eintritt in die Berufswelt verstehen. Studierende in den alten Diplomstudiengängen konnten sich noch in Ruhe in ihr Studium einfinden, da in der ersten Zeit nur wenig abschlussrelevante Prüfungen anlagen.

Nun geht der Stress nach bestandenem Turbo-Abi sofort weiter. Schon von Anfang des Studiums an geht es los mit einer nicht enden wollenden Flut von Hausarbeiten, Klausuren und anderen Leistungsnachweisen. Sie sind fast alle von Bedeutung für die Abschlussnote. Der neue Zeitgeist fordert dabei, die ganze Palette der Noten möglichst gut verteilt zu vergeben. Immer mehr setzt sich schon an Grundschulen die Tendenz durch, dass auch "Fünfen und Sechsen" zu verteilen seien. Für junge Menschen heißt es von daher, von Kind an "besser" sein zu müssen als andere, abhängig von einer oft ungerechten Bewertung durch andere für so genannte Leistungen. Ein Klima von Angst, Konkurrenzdruck und Vereinzelung macht sich unter dem "Humankapital" in den Bildungsanstalten breit. Im chronisch unterfinanziertem Bildungssystem bezahlen immer Menschen mit zerstörten Chancen und verbauter Zukunft.

Der Durchschnitt des Bachelor-Abschlusses entscheidet schließlich darüber, ob der oder die Studierende einen der nicht ausreichend vorhandenen Masterplätze erhält. Sich einfach etwas länger Zeit lassen? Wer nicht in der vorgegebenen Zeit studiert, erhält schnell kein Bafög mehr. Obwohl das Bildungsministerium eine Reduzierung der Studien- und Prüfungsleistungen beschlossen hatte, wollen sich DozentInnen immer wieder durch eine harte Benotung oder mit arbeitsaufwändigen Vorgaben als besonders anspruchsvoll profilieren, auf Kosten ihrer Studierenden. Manchmal streben auch ganze Fächer, Fakultäten oder Universitäten nach Höherem: So hat sich das Fach Latein an einer Universität mit seiner durchschnittlichen Durchfallquote von 80% nach dieser Logik ein Qualitätssiegel verdient.

Immerhin wurden auf Druck der Studierendenbewegung 2009 die Studiengebühren fast bundesweit wieder abgeschafft, außer in Niedersachsen und Bayern. Leider ist für die meisten Studierenden damit auch die Motivation geschwunden, noch weiter auf die Straße zu gehen, z.B. gegen die zunehmende Kommerzialisierung der Hochschulen und für ein selbstbestimmtes Studium.

Durch Scheinreformen war außerdem der Eindruck entstanden, es wäre auf kritische Forderungen der Studierenden eingegangen worden. War es ja auch schon fast unheimlich, mit wie viel populistischer Sympathie die Proteste 2009 in der Bevölkerung aufgenommen worden waren. Von Medien, PolitikerInnen und HochschulpräsidentInnen umschmeichelt und letztendlich nur mit dem Nötigsten abgespeist, versandete die Bewegung in Deutschland. Jetzt arbeiten nur noch wenige AktivistInnen auf kleiner Flamme.

"Wir haben Angst vor Arbeitslosigkeit, fehlenden Sozialversicherungen und einer nicht erfüllbaren Familienplanung", charakterisiert ein Student seine als überangepasst wahrgenommenen KommilitonInnen. Zeit für Engagement bliebe ihm sowieso nicht, angesichts der rigiden Stundenpläne mit wenig Wahlfreiheit, gekennzeichnet durch Lernstoffverdichtung und viele Veranstaltungen mit Anwesenheitskontrollen. "Die Idee, sich auch mal für andere einzusetzen, scheint für viele abwegig zu sein", erklärt Ralf, ein Aktivist der Bildungspolitischen Bewegung, den verhaltenen Widerstand aus den eigenen Reihen. "Wir vom AStA Bielefeld sind noch sehr kritisch, aber die meisten ASten sind zu reinen Serviceleistern herunter gekommen."

Die Studierendenbewegung war letztendlich auch der Versuch, die Vereinzelung zu durchbrechen, sich in neuen, produktiveren Lebensformen zu bewegen, in denen sich Bildung an Werten wie Emanzipation und Mündigkeit orientiert. 50% eines Jahrgangs werden in Deutschland in Zukunft eine Hochschulausbildung durchlaufen und also hier in einer wichtigen Phase ihres Lebens entscheidend geprägt werden. Hier wäre der Ort, eigeninteressegeleitet und im Austausch mit anderen Bildung zu erzielen.

Denn bloßes Wissen ist in unserer Gesellschaft durch die zunehmende Medialisierung beinahe von jedem Ort zu jeder Zeit von jedermann abrufbar.

In den Bachelor-Studiengängen wird inzwischen sogar in traditionell freigeistigen Disziplinen wie den Literaturwissenschaften oder Philosophie anhand von Klausuren nur noch Wissen abgefragt. In überfüllten Seminaren und Vorlesungen gehen die Einzelnen unter, wenn sie nicht schon vorher beim Wettrennen um Listenplätze aus der Veranstaltung herausgeflogen sind.

Rabea, 25, Studentin in Osnabrück: "Fest steht in meinen Augen, dass es so nicht weitergehen kann, wenn sich die Gesellschaft nicht eine Horde unkreativer, unkritischer und für das Ja-Sagertum prädestinierter Dummköpfe heranziehen will!"

Seit längerer Zeit mehren sich nun Stimmen aus der Wirtschaft, dass solch universitäre FachidiotInnen, die zu kreativen und kritischen Denken gar nicht mehr fähig seien, so nun auch wieder nicht gewollt seien. Gelder werden an allen Ecken und Enden gestrichen, und so sehen sich Schulen und Hochschulen immer stärker gezwungen, auf Drittmittelgebende zurückzugreifen, was die Unabhängigkeit der Lehre und Forschung angreift.

Demokratische Strukturen werden geschwächt oder gar verhindert, beeinträchtigten diese doch die Effizienz der Lernfabrik. Gleichzeitig verschärfen sich die Beschäftigungsverhältnisse im akademischen Mittelbau.

Manche DozentInnen bekommen gar kein Honorar für ihre Lehrtätigkeit. Andere erhalten oft nur 15 Euro die Stunde, ohne sonstige Aufwandsentschädigungen für Vorbereitung oder Betreuung ihrer Studierenden und deren Hausarbeiten, etc. Während in Deutschland die Zahl der Demonstrierenden seit 2009 stark abgenommen hat, gehen weltweit weiterhin Millionen auf die Straße, bestreiken die (Hoch-)Schulen und besetzen Hörsäle, um Freiräume für Diskussionen zu schaffen, die für alle offen stehen sollen.


Internationaler Kampf

Tatsächlich ist der Kampf um ein besseres Bildungssystem nur im internationalen Kontext zu verstehen und zu führen, als Kampf gegen die Krisen und Perversionen des Kapitalismus, gegen diese Wurzel der gesellschaftlichen Missstände.

Seit Jahren organisieren sich Studierende auf der International Student Movement (ISM)-Plattform und rufen zu den jährlich statt findenden "Global Weeks of Action for Education" (GWA) auf. Für eine öffentliche Finanzierung des Bildungssystems, ohne Einflussnahme der Wirtschaft auf Lehrinhalte, Studienstrukturen und Stellenvergabe. ISM-Africa, ISM-Asia, ISM-Balkans und ISM-North America sind eng mit ISM-Global vernetzt und unabhängig von Parteien, Gewerkschaften und anderen Organisationen. Vor allem in Barcelona, Jakarta, Kairo, Rom, Islamabad und San Francisco bereiten Aktive im Rahmen der GWA Aktionen vor. Ein Erfolg war die Besetzung einer Starbucks-Filiale auf dem Campus der Bodaziçi Üniversitesi in Istanbul am 5. Dezember 2011. Über 100 Studierende verliehen damit ihren Forderungen nach bezahlbarem und gesundem Essen Ausdruck und protestierten darüber hinaus gegen die zunehmende Kommerzialisierung und Gentrifizierung auf dem Campus. Zahlreiche DozentInnen, KünstlerInnen, SchriftstellerInnen, Organisationen und Gruppen solidarisierten sich mit den BesetzerInnen und besuchten diese in den umfunktionierten Räumen während der tagelangen Besetzung.

Nicht immer geht es für AktivistInnen gut aus: Am 15. April 2011 gingen Studierende an der Universität von Makerere, der mit mehr als 30.000 Studierenden größten öffentlichen Hochschule Ugandas, in den Streik, um sich gegen die Verdoppelung ihrer Studiengebühren zu wehren. Die Antwort kam in Form von Schlagstöcken, Tränengas und Folter.

Es kann aber auch nach vorne losgehen: Nachdem am 10. Mai 1968 in Paris um die 100 StudentInnen bei dem Kampf um die besetzte Uni Sorbonne verletzt wurden und etwa 500 StudentInnen festgenommen wurden, solidarisierten sich immer mehr Arbeiter mit der Studentenbewegung. Am 18. Mai 1986 erlebte Frankreich seinen ersten wilden Generalstreik.


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Quelle:
graswurzelrevolution, 41. Jahrgang, Nr. 366, Februar 2012, S. 7
Herausgeber: Verlag Graswurzelrevolution e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 8. Februar 2012