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GRASWURZELREVOLUTION/1199: In Japan wächst der Widerstand gegen die Atompolitik


graswurzelrevolution 361, September 2011
für eine gewaltfreie, herrschaftslose gesellschaft

In Japan wächst der Widerstand gegen die Atompolitik

Seit Beginn des Super-GAUs in Fukushima hat sich die Atmosphäre in Japan verändert.
Die Anti-AKW-Bewegung wächst.

Ein Bericht von Hikaru Tanaka


Der japanische Autor Hikaru Tanaka schreibt momentan ein Buch über die Atompolitik nach Fukushima. Wir haben ihn gebeten, die aktuellen Entwicklungen in Japan für die Leserinnen und Leser der GWR zu analysieren. Am 15.1.2011 schickte er uns den folgenden Artikel. (GWR-Red.)   


Monate sind seit Beginn der Atomkatastrophe in Fukushima vergangen. Und allmählich verändert sich die öffentliche Meinung in Japan zu den Atomkraftwerken. Nach Informationen mehrerer Meinungsforschungsinstitute antworteten im April etwa 50% der Befragten noch mit "Ja" auf die Frage zu der Erhaltung der bestehenden AKWs und zum AKW-Neubau, aber bereits im Juni befürworteten 70 bis 80% der Befragten grundsätzlich die Abschaffung aller AKWs; aber die Mehrheit von ihnen antwortete mit "allmählich" oder "nicht sofort".


Die Anti-AKW-Aktionen gegen Regierung und Energieversorgungsunternehmen nahmen in diesen vier Monaten deutlich zu.

An beiden Anti-AKW-Demonstrationen am 10. April und am 7. Mai in Tokio beteiligten sich jeweils mehr als 15.000 Menschen; am 11. Juni protestierten insgesamt 79.000 Menschen in mehr als 140 japanischen Städten. Ich beteiligte mich an der Demonstration in Osaka, wo mehr als 4.000 Menschen etwa zwei Stunden lang durch das Zentrum zogen. Sie riefen: "Schützt unsere Kinder!", "Alle AKWs sofort abschalten!", "Regierung, wir fordern eine Wende der Energiepolitik". In Fukushima konnte man auf mehreren Plakaten die Worte "Gebt uns unsere Heimat zurück!" sehen.

In Tokio haben die Veranstalterinnen und Veranstalter der Demonstration vor mehr als 20.000 Menschen mehrere Forderungen gestellt: "Alle AKWs sofort stilliegen", "Schluss mit dem AKW-Neubau", usw. (1)

Im Juli gab es auch eine große Anti-AKW-Versammlung in Tokio, woran sich wiederum mehr als 20.000 Menschen beteiligt haben. Im kommenden September werden weitere große Demos und Versammlungen veranstaltet.


Aktionen gegen Tepco

Außer diesen Demonstrationen gab es auch viele Aktionen gegen Tokyo Electric Power Company (Tepco), vor allem von der Bevölkerung aus Fukushima. Eltern waren zum Parlament gezogen, um den von der Regierung beschlossenen Jahresbelastungsstandard 20mSv für Schulkinder auf 1mSv abzustufen.

Ende Juni haben bei mehreren Aktionärsversammlungen der Elektrizitätsgesellschaften viele Aktionäre den Rückzug aus AKW-Geschäften vorgeschlagen. Alle diese Vorschläge wurden mehrheitlich abgelehnt, aber bei dieser Gelegenheit protestierten viele AktivistInnen vor den Gebäuden, in denen die Aktionärsversammlungen tagten.(2)

Japanische AnarchosyndikalistInnen, organisiert in der Free Workers' Federation (AFW)(3), brachten andere Probleme ans Licht. 2007 in Nishinari/Osaka gegründet, wo viele Tagelöhner und Obdachlose leben, veröffentlichte die AFW am 8. Mai die Tatsache, dass ein 60 Jahre alter Arbeitsloser im März eine Stellenanzeige gefunden hatte, wo ein Unternehmer einen Lastwagenfahrer in Onagawa in der Miyagi Präfektur suchte. Als Lohn wurden 12.000 Yen pro Tag versprochen.

Aber der Mann wurde nicht zum Onagawa, sondern zum zerstörten Fukushima Daiichi AKW gebracht, wo er 30 Tage lang, vom 19. März bis zum 15. April, widerwillig arbeiten musste. Natürlich protestierte er gegenüber dem Unternehmer, der ihn unter Vortäuschung falscher Tatsachen eingestellt hatte, aber der Arbeiter hatte kein Geld, um nach Osaka zu fahren, so dass er dann bis zum Ende des Vertrages auf dem Gelände des havarierten AKWs gearbeitet hat.

Am vierten Arbeitstag wurde ihm endlich ein Dosimeter gegeben; an jedem Tag hat er über seine Strahlenbelastung Notizen gemacht: "23. März, 0.124 [mSV]", "24. März, 0.166 [mSV]" usw.; er hat mindestens zwei Wochen lang die Arbeit verrichtet, bei der er täglich einer extrem hohen Strahlenbelastung ausgesetzt war.

Nachdem er nach Osaka zurückgekehrt war, wurde ihm von dem Unternehmer mitgeteilt, dass der dem Mann einen geringfügig höheren Lohn bezahlen kann, weil der Unternehmer sich "in einem Punkt" entschuldigen müsse, weil er den Arbeiter eingestellt habe, "ohne zu wissen, wie die Situation in den Fukushima AKWs nach dem Erdbeben war".

Dieser Unternehmer betreibt eine Zulieferfirma, die auf der dritten Stufe unten von den assoziierten Unternehmern von Tepco steht. Diese Struktur für AKW-Arbeitseinstellung ist normal. Diese Struktur hat manchmal vier Stufen, aber es gibt einige Aussagen, dass es sogar acht Stufen gäbe.

Die "Arbeiter von mitarbeitenden Firmen" machen 80% der Arbeiter in japanischen AKWs aus. Die assoziierte Firma von Tepco und alle Zulieferfirmen machen damit große Geschäfte. Manchmal beteiligte sich auch die japanische Mafia "Yakuza" an dieser Struktur.

Es gibt einige Aussagen, dass andere obdachlose Tagelöhner ebenfalls unter Vortäuschung falscher Tatsachen nach Fukushima gebracht wurden.

Kurz nachdem Medien über diese Vorfälle berichtet haben, war einer der vielen Arbeiter, die in Fukushima Daiichi tätig waren, gestorben. Der Mann, der mit einer Frau aus Thailand verheiratet war, kam aus der Shizuoka Präfektur und war von einer Zulieferfirma der vierten Stufe eingestellt worden. Am vierten Tag der Einstellung war er gestorben. Der Arzt, der den Totenschein ausstellte, nannte als Todesursache einen "Herzinfarkt".

Seine Frau hat beantragt, dass der Tod ihres Mannes als Arbeitsunfall vom Arbeitsamt von Yokohama, wo Tepco offiziell die Arbeiter anwirbt, anerkannt wird. Aber es ist sehr selten, dass die Arbeitsämter den Tod oder Krankheiten eines AKW-Arbeiters als Arbeitsunfall anerkennen.

Nach Angaben des Fotografen Kenji Higuchi haben seit den 1960er Jahren in Japan insgesamt zwei Millionen Menschen an und in den AKWs gearbeitet: Higuchi glaubt, dass mindestens 500.000 Arbeiter einer überhöhten Strahlenbelastung ausgesetzt waren. Einige Arbeiter oder ihre Familien kämpfen bis heute dafür, dass ihre Krankheit (z.B. Leukämie) vom Arbeitsamt als Arbeitsunfälle anerkennt werden. Nur wenige Familien hatten bisher damit Erfolg.

Die AKW-Arbeiter werden zur Arbeit von einem AKW zum nächsten geschickt, deshalb nannte sie der Schriftsteller Kunio Horie, der einmal als AKW-Arbeiter arbeitete und über seine Erfahrungen schrieb, "Genpatsu Gypsy", d.h. AKW-Wanderer.

Japanische AKWs werden seit mehr als 40 Jahren nicht nur von "Wissenschaft und Technik", sondern auch von diesen unbekannten Arbeitern, die für sehr geringe Löhne ihre Gesundheit und ihr Leben gefährden, unterstützt.(4)

Die anarchosyndikalistische AWF schreibt in ihrem Newsletter No. 12: "Die AKW-Strahlenbelastungsarbeit, die auf Arbeitslosen und Armut beruhen, wird von der Politik der Regierung und Atomindustrie verstärkt. Die Gesundheit der zu den untersten Schichten gehörenden Arbeiter ist täglich geschädigt. Wir werden die Zulieferungsstruktur, die die AKW-Strahlenbelastungsarbeit produziert, und den internationalen Finanzkapitalismus der die AKW-Industrie fördert, zusammen mit ihrem Werkzeug ans Licht bringen."


Anmerkungen:

(1) http://lobornetjp.blogspot.com/2011/07/no-nukes-action-beats-angry-youths.html

(2) http://federaciodechifonproletoj.wordpress.com/

(3) http://lobornetjp.blogspot.com/2011/07/cries-for-no-nukes-prevail-as-9200.html

(4) http://video.google.com/videoplay?docid=4411946789896689299


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Quelle:
graswurzelrevolution, 40. Jahrgang, Nr. 361, September 2011, S. 6
Herausgeber: Verlag Graswurzelrevolution e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. September 2011