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GRASWURZELREVOLUTION/1008: Erfolgreicher Generalstreik auf Guadeloupe


graswurzelrevolution 339, Mai 2009
für eine gewaltfreie, herrschaftslose gesellschaft

Transnationales
Erfolgreicher Generalstreik auf Guadeloupe
Élie Domota - ein neuer Martin Luther King?

Von Sal Macis


Der bisher größte Erfolg gegen die französische Regierung Sarkozy gelang Élie Domota und seinem Bündnis LKP (kreolisch: Lyianna kont pwofitasyon/Kollektiv gegen Profitmacherei) in dem Übersee-DÉpartement Guadeloupe auf den Antillen. Ein ununterbrochener Generalstreik legte das wirtschaftliche Leben auf der Insel während 44 Tagen lahm, vom 20. Januar bis zum 5. März 2009.
(Red. Süd)


Das Bild über dem Schreibtisch im Gewerkschaftsbüro von Élie Domota in der guadeloupischen Hauptstadt Pointe-à-Pitre ist programmatisch gemeint: Es ist ein eingerahmtes Foto von Martin Luther King, Jr. [1]

Domota ist Sprecher des Bündnisses von 49 Gruppen und Gewerkschaften in Guadeloupe, der LKP. Die LKP wurde vom 17.12.08 bis 20.1.09 in einem langen Prozess mehrerer Treffen gegründet und umfasst die drei großen Gewerkschaften, darunter Domotas UGTG (Union gÉnÉrale des travailleurs guadeloupÉens), politische Gruppen aus der langen Geschichte der Unabhängigkeitsbewegung und Assoziationen wie die Verbrauchervereinigung, den Mieterschutz, ökologische und kulturelle Gruppen, darunter die populäre MusikerInnen- und KünstlerInnen-Bewegung unter dem Namen Akiyo, deren T-Shirt Domota in der Regel trägt. 49 VertreterInnen sitzen im Bündnis an einem Tisch, jede Gruppe hat eine Stimme.

Die wichtigste Gewerkschaft, Domotas UGTG, hat dabei auf ihren Hegemonialanspruch verzichtet und ebenfalls nur eine Stimme. [2]

Sogar die bürgerliche "Le Monde", die sonst keine Gelegenheit auslässt, bei sozialen Bewegungen ganz allgemein - und in Guadeloupe besonders - von "violences" (Gewalttaten) zu sprechen, musste in einem Bericht über die Strukturen der LKP konstatieren: "Drei Viertel ihrer Beteiligten sind jedoch wirkliche Pazifisten, wie die Künstler der Bewegung Akiyo, deren Beitritt zum Bündnis entscheidend war. Patrick Coqk, den man Ko-La nennt, ist 40 Jahre alt und spielt die gwo-ka, die alte Trommel aus der Zeit der Sklavenbefreiung. Er behauptet: 'Für uns in Guadeloupe ist die Kultur die Basis von allem. (...) Wenn wir als Beispiel für den Planeten dienen können, dann pflanzen wir dieses aatkorn und wässern es sorgsam.'" [3]

Und das inmitten der drei, vier Tage, als Jugendliche außerhalb der LKP Gebäude in Brand steckten und mit Schusswaffen, vor allem alten Jagdgewehren, auf die Polizei feuerten, wobei es am 17.2. zum einzigen Toten des Generalstreiks kam: Jacques Bino, Akiyo-Mitglied und Gewerkschafter der UGTG. Er wurde nachts an einer Barrikade von Schüssen aus einem Jagdgewehr getroffen, als er mit seinem Auto umdrehen wollte. Als Sanitäter in Begleitung von Polizei dem Opfer zu Hilfe eilen wollten, wurden weitere Schüsse auf die Polizisten abgegeben und jede Rettung kam zu spät (siehe auch nebenstehenden Artikel zu Schusswaffen in den Vorstädten). [4]


Direkte gewaltfreie Aktionen während des Generalstreiks

Trotz dieser gewaltsamen Aktionen Jugendlicher während dreier Tage (die - fatale Übereinstimmung bei der Berichterstattung - sowohl von den bürgerlichen Medien wie von den gewaltausübenden Jugendlichen unisono als "Radikalisierung" ausgegeben wurde), die außerhalb und ohne Zustimmung der LKP agierten, muss der Erfolg dem Generalstreik und der Konsequenz der Streikenden zugesprochen werden.

Die Lebenshaltungskosten und Grundnahrungsmittelpreise in Guadeloupe und anderen Überseegebieten Frankreichs sind zum Teil doppelt bis dreifach so teuer wie im Mutterland. Die Bewegung LKP entzündete sich an dieser ökonomischen Ungerechtigkeit, deren Profiteure meist reiche Weiße, vor allem die Eigentümer von Bananen- und Zuckerrohrplantagen, "bÉkÉs" genannt, sind.

Bereits im Dezember 2008 kam es zu den ersten Verkehrsblockaden; am 19. Januar 2009 begannen die Verwalter und Konzessionäre aller Tankstellen einen unbefristeten Streik.

Am 20.1. präsentierte die LKP eine Liste mit erst 132, dann 146 konkreten Forderungen, angefangen von Preissenkungen für Grundnahrungsmittel bis hin zu 200 Euro monatlichem Zuschlag für SozialhilfeempfängerInnen und ArbeiterInnen, die weniger als den anderthalbfachen Mindeststundenlohn verdienen. Es kam zu Demonstrationen, die am 20.1. mit 15.000 Menschen begannen und sich regelmäßig steigerten, bis am 9.2. ca. 100.000 Menschen demonstrierten (bei einer Gesamtbevölkerungszahl der Insel von 400.000!). Als direkte gewaltfreie Aktionen wurden verschiedene Besetzungen durchgeführt, u.a. in Supermärkten oder auch bei der Gepäckabfertigung des Flughafens; Gruppen Streikender blockierten Straßen und als die aus der französischen Metropole immer zahlreicher hinzukommenden, aber ortsunkundigen PolizistInnen zur brutalen Blockadeauflösung schreiten wollten, waren die Blockierenden schon wieder woanders und blockierten erneut. Supermärkte wurden örtlich ausgeräumt; an den Tankstellen bildeten sich lange Schlangen; die gesamte Infrastruktur und das öffentliche Leben kamen zum Stillstand. Dieser Zustand setzte den Verhandlungswillen von Unternehmerverbänden und der Pariser Regierung in Gang. [5]

Am 4.3. abends kam es schließlich zu einer Einigung. Lange weigerte sich der größte Unternehmerverband Medef zuzustimmen. Er musste schließlich von der Regierung zur Einigung gezwungen werden, wobei die Regierung die Zahlung von 150 der 200 Euro monatlichem Zuschlag für die unteren Einkommensgruppen für drei Jahre übernahm. Kann also gut sein, dass der Konflikt in drei Jahren erneut aufflammt - oder auch schon früher. In einer extrem detaillierten Liste von 165 Punkten regelt das Abkommen den Höchstpreis der Baguette und anderer Nahrungsmittel, die Anstellung von LehrerInnen (die Bildungseinrichtungen für Jugendliche sind katastrophal, viele fallen während der Schulzeit raus und reagieren dann verzweifelt, d.h. gewaltsam), Preissenkungen für Hin- und Rückflüge nach Frankreich, die Senkung der Benzinpreise um umgerechnet einen halben Euro pro Liter usw. Kein einziger Punkt der ursprünglich geforderten 146 Forderungen wurde ausgelassen. [6]

In einem Kommentar in der französischen anarchistischen Wochenzeitung "Le Monde libertaire" wurde das guadeloupische Beispiel euphorisch als "grève reconductible" gefeiert: "Eine allgemeine Lehre ist aus dem Kampf unserer Brüder und Schwestern auf der Insel zu ziehen: Der branchenübergreifende, unausgesetzte Streik ist nicht nur möglich, sondern unbedingt nötig, damit ein kämpfendes Unternehmertum und eine ihm hörige Regierung zurückweicht." [7] Anhand dieses Beispiels wird dann gleich die aktuelle Bewegung in Frankreich kritisiert, wo die Gewerkschaftsführer zu einem Tag der Massendemonstrationen ausriefen - und dann ohne Streik einfach den nächsten Tag der Massenmobilisierung in zwei Monaten abwarteten.

Besser machen es da schon die Übersee-Geschwister der Guadeloupe-Streikenden: Die Bewegung in Guadeloupe löste einen 38-tägigen Generalstreik mit der Struktur eines ähnlichen Bündnisses, des "Kollektivs des 5. Februar", auf der antillischen Nachbarinsel Martinique aus. Am 14. März kam es zu einem Abkommen, ebenfalls mit 200 Euro monatlichem Zuschlag für die unteren Einkommensgruppen und Preissenkungen für insgesamt 400 präzise genannte Einzelhandelsartikel. Ähnliche Massenbewegungen entstanden daraufhin in Guyana/Südamerika und auf RÉunion, einer französischen Insel im Indischen Ozean.


Frankreich ist Kolonialmacht, aber wie lange noch?

Die herrschenden Medien wittern unter dem Deckmantel der sozialen Bewegungen nationale Unabhängigkeitsbestrebungen. In der Tat ist eine Mehrheit der in der LKP zusammengefassten Gruppen autonomistisch bis nationalistisch, doch in der Massenbewegung wurde daraus keine nationalistische Strategie und keine dahingehende Forderung wurde erhoben. Im Jahr 2003 hatte es nämlich ein Referendum für eine Verwaltungsreform gegeben, welche das Tor zur Unabhängigkeit weit aufgestoßen hätte: Doch 72,98 % der GuadelouperInnen stimmten dagegen.

Das Votum steckt den nationalistischen Gruppen noch in den Knochen und sie halten sich in demokratischer Rücksichtnahme daran - auch daran, dass die LKP ein Aktionsbündnis und keine Partei zur Machteroberung ist. Rosan Mounien, Altaktivist der UGTG und LKP-Mitglied: "Wir haben kein Regierungsprogramm, sondern wir unterstützen eine Volksbildung für eine breite und bewusste Bürgerbeteiligung. Sollte einmal die Stunde der fundamentalen Wahl wiederkommen, sollen die GuadelouperInnen nicht durch simplistische Argumente entmutigt werden können, wie sie während des Referendums 2003 vorgebracht wurden. Wir haben deshalb kein Programm, dem es um Machteroberung geht." [8]


Élie Domota als Integrationsfigur

Élie Domota ist erst seit Frühling 2008 Sprecher der UGTG-Gewerkschaft. Politisch sozialisiert wurde er zuerst bei der Christlichen Arbeiterjugend (JOC), dann in trotzkistischen Gruppen, bevor er mit dem Trotzkismus brach. [9]

Wie insgesamt alle drei großen Gewerkschaften gehörte auch die UGTG ursprünglich zur Unabhängigkeitsbewegung, die in den 1970er und 1980er Jahren sehr militant war, mehrere Attentate durchführte und zum Teil klandestin agierte. Als der Zyklon Hugo 1989 die Insel verwüstete und viele Opfer relativ schnell finanzielle Entschädigung aus dem französischen Mutterland erhielten, brach dem militanten Nationalismus aber die Basis weg.

Die UGTG gründete sich 1973 und ging aus mehreren Spaltungen der kommunistischen Gewerkschaftsbewegung der Insel hervor. Zunächst stützte sie sich auf LandarbeiterInnen auf den Bananen- und Zuckerrohrplantagen, organisierte später Hotelangestellte, Tankwarte, Supermarktpersonal und Verwaltungsbeamte. In den 90er Jahren wurde die UGTG zur stärksten Gewerkschaft der Insel und entwickelte ein Konzept des "grève insurrectionelle" (aufständischer Streik).

Während ihrer Streiks führte die UGTG Betriebsbesetzungen durch, aus denen manchmal die gewerkschaftliche Selbstverwaltung des Betriebs hervorging. Vor allem bei von Schließung bedrohten oder zum spekulativen Verkauf angebotenen Unternehmen war das der Fall. Im Jahre 2000 wurden von der UGTG sieben Unternehmen, darunter zwei Hotels, in gewerkschaftlicher Selbstverwaltung geführt. (10) Mit den anderen, ebenfalls autonomistischen Gewerkschaften CGTG und CTU lag die UGTG im Clinch, bis unter Domota bei den Betriebsrats-/Vertrauensleute-Wahlen im Dezember 2008 die UGTG mit mehr als 50 Prozent als Siegerin hervorging.

Domota nutzte die Gunst der Stunde nicht zum egozentrischen Triumph, sondern zur Verständigung mit den bisherigen Konkurrenz-Organisationen - eine entscheidende Voraussetzung für die folgende Massenbewegung des Aktionsbündnisses LKP.


Anmerkungen:

[1] Le volcan guadeloupÉen ne dort que d'un oeuil, in:
Ouest-France, 15.4.09, S. 3.

[2] Guadeloupe: Ce que le LKP ne dit pas, in: Express, 26.2.09, S. 34.

[3] B.G.: Le pouvoir d'achat, au coeur du soutien populaire au LKP, in: Le Monde, 21.2.09, S. 10.

[4] Vgl.: De nouveaux tirs dans la nuit en Guadeloupe, in: LibÉration, 19.2.09.

[5] Von der LKP veröffentlichte Chronologie der Ereignisse, vgl. Website: AGEN, 25.2.09.

[6] Vgl. zu den Streikergebnissen: Sami Chemin: Petites îles, grandes luttes, in: Le Monde libertaire, 12.-18.3.09, S. 5; und Guadeloupe: le LKP appelle "à la reprise de l'activitÉ normale", in: LibÉration, 5.3.09.

[7] Sami Chemin, in: Le Monde libertaire, ebd., S. 5.

[8] Rosan Mounien, zit. nach: Express, 26.2.09, S. 35.

[9] Siehe: Le pouvoir d'achat..., in: Le Monde, 21.2.09, S. 10.

[10] Xavier Crettiez, Isabelle Sommier (Hg.): La France rebelle, Editions Michalon, Paris 02, S. 109-114.


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Quelle:
graswurzelrevolution, 38. Jahrgang, GWR 339, Mai 2009, S. 8
Herausgeber: Verlag Graswurzelrevolution e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 29. Mai 2009