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GLEICHHEIT/7070: WHO warnt - Südamerika ist "neues Epizentrum" der Corona-Pandemie


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Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

WHO warnt: Südamerika ist "neues Epizentrum" der Corona-Pandemie

Von Bill Van Auken
25. Mai 2020


Der Nothilfekoordinator der Weltgesundheitsorganisation (WHO), Michael Ryan, erklärte am Freitag auf einer Pressekonferenz in Genf, dass Südamerika zum "neuen Epizentrum" der weltweiten Corona-Pandemie geworden ist.

Er fügte hinzu: "Wir verzeichnen zwar in vielen südamerikanischen Ländern einen Anstieg der Erkrankten... Doch Brasilien ist momentan eindeutig das am schwersten betroffene Land."

Am Freitag stieg die Zahl der bestätigten Fälle auf dem südamerikanischen Kontinent auf 578.187, die Zahl der Toten auf 29.361. Auf Brasilien, das größte Land Südamerikas, entfallen 320.000 bestätigte Fälle, die Zahl der Todesopfer liegt bei über 20.000 und steigt um mehr als 1.000 pro Tag.

Ryan hob besonders die Konzentration von Fällen in den Bundesstaaten São Paulo und Amazonas hervor, wo die Infektionsrate mit 450 auf 100.000 Einwohner zu den höchsten der Welt zählt.

Die Einschätzung der WHO ist eine Warnung vor der sozialen Katastrophe, die den 430 Millionen Bewohnern des Kontinents bevorsteht. Imperialistische Unterdrückung und kapitalistische Ausbeutung haben hier eine soziale Ungleichheit geschaffen, wie sie auf dem Planeten ihresgleichen sucht.

Brasilien

In Brasilien - ebenso wie in Lateinamerika insgesamt und auf Weltebene - offenbart die Zahl der bestätigten Fälle nur einen Bruchteil der tatsächlichen Ausbreitung des tödlichen Virus. Laut einer aktuellen Studie, der die wenigen in Brasilien gemachten Tests zugrunde liegen, registriert die Regierung mit großer Wahrscheinlichkeit nur einen von 20 Fällen. Gleichzeitig wird berichtet, dass viele Menschen zu Hause an dem Virus sterben oder sogar in den Straßen der Favelas von Rio de Janeiro und São Paulo.

In den verarmten Gebieten im brasilianischen Inland breitet sich die Krankheit sogar noch schneller aus. Im Bundesstaat Amazonas tritt sie auch in abgelegenen Dörfern auf, die teilweise zwei Stunden Flussfahrt vom nächsten Krankenhaus entfernt liegen. Das Überleben ganzer indigener Volksstämme ist dort bedroht.

Bei der Gesamtzahl der gemeldeten Infektionen hat Brasilien bereits Russland überholt, wobei die bestätigte Zahl der Toten in Brasilien siebenmal höher ist. Mehr Tote und Infizierte gibt es weltweit nur in den USA.

Das Gesundheitssystem des Landes steht am Rande des Zusammenbruchs. In den sechs öffentlichen Krankenhäusern von São Paulo sind nach eigenen Angaben bereits sämtliche Intensivpflegebetten belegt, obwohl die Zahl der Fälle weiter ansteigt. Die Patienten in den Notaufnahmen sind in vielen Fällen Arbeiter zwischen 30 und 40, die trotz der Pandemie weiterarbeiten müssen.

Das brasilianische Pflegepersonal leidet unter den Auswirkungen der Krankheit sogar noch mehr als ihre Kollegen im Rest der Welt: 137 Pflegekräfte sind bereits an dem Virus gestorben, viele Tausende weitere haben sich infiziert. Im ganzen Land demonstrieren und streiken Pflegekräfte und medizinische Fachkräfte gegen die unerträglichen Bedingungen in den Krankenhäusern und Pflegezentren. Sie fordern ausreichende Schutzausrüstung, Personal und medizinische Ausstattung wie Beatmungsgeräte, sowie eine angemessene Bezahlung dafür, dass sie sich täglich in Lebensgefahr begeben.

Der faschistische brasilianische Präsident Jair Bolsonaro reagierte mit der Ankündigung, seine Regierung werde die Regeln für den Einsatz des Malariamittels Hydroxychloroquin ändern. Auch Bolsonaros politischer Verbündeter US-Präsident Donald Trump wirbt für den Einsatz des Mittels. Bisher wurde das Medikament nur Personen verabreicht, die mit äußerst ernsten Symptomen stationär behandelt werden. Doch laut Bolsonaro soll es künftig auch bei einem leichten Verlauf empfohlen werden.

Es gibt keinen wissenschaftlichen Beleg, dass das Medikament irgendeine Wirkung im Kampf gegen das Coronavirus zeigt. Dafür deuten Studien jedoch darauf hin, dass der Einsatz von Hydroxychloroquin das Sterberisiko für Patienten deutlich erhöht, da u.a. Herzrhythmusstörungen auftreten können.

Bolsonaro, der das Coronavirus in der Vergangenheit als "kleine Grippe" bezeichnet hat, verteidigte seine Empfehlung, gab aber gleichzeitig zu, dass es keine wissenschaftlichen Beweise für die Wirksamkeit des Mittels gebe. "Wir sind im Krieg. Die Schande, nicht gekämpft zu haben, ist schlimmer als eine Niederlage", erklärte er.

Nachdem bereits zwei Gesundheitsminister aufgrund von Meinungsverschiedenheiten mit der Politik Bolsonaros zurückgetreten sind, besetzte der ehemalige Militär-Hauptmann den Posten nun mit einem General. Mittlerweile ist mindestens ein Dutzend der wichtigsten Positionen des Ministeriums mit Offizieren besetzt.

Während die brasilianische Regierung Hydroxychloroquin als Wundermittel darstellt, setzt sie ihren verbrecherischen Kurs fort, der auf ein Ende der Quarantänemaßnahmen und die Wiederaufnahme der Produktion abzielt. Die Arbeiter werden zur Rückkehr in Autofabriken, Fleischverarbeitungsbetriebe und andere Industrien gezwungen, um unter Lebensgefahr Profite für die herrschende Klasse zu erwirtschaften.

Unterdessen bemühen sich die Friedhofsangestellten, genügend Gräber für die Tausenden Menschen auszuheben, die jede Woche sterben.

Peru

Peru weist nach Brasilien die höchste Zahl bestätigter Corona-Fälle in Südamerika auf (111.000 Infizierte sowie mehr als 3 100 offizielle Todesfälle). Präsident Martín Vizcarra kündigte am Freitag die Verlängerung des seit 68 Tagen andauernden Ausnahmezustands und der Quarantänemaßnahmen bis zum 30. Juni an - allerdings mit einigen "Veränderungen und Flexibilisierungen". In ärmeren Gebieten kam es daraufhin zu vereinzelten Protesten, weil die Arbeiter dort von einer informellen Schattenwirtschaft abhängig sind, über kein Einkommen verfügen und zunehmend unter Hunger leiden.

Die "Flexibilisierungen", die die Vizcarra-Regierung angekündigt hat, betreffen unter anderem die Bergbauindustrie, die von transnationalen Konzernen dominiert ist und die wichtigste Einnahmequelle des Landes darstellt. Während der Betrieb aufrechterhalten wird, sprechen selbst die Berichte der Unternehmen von 603 infizierten Bergarbeitern. Die tatsächliche Zahl dürfte zweifellos viel höher sein.

Einen Eindruck von der tatsächlichen Zahl der Todesopfer vermitteln Informationen des peruanischen Innenministers, denen zufolge 106 Polizeibeamte an dem Virus bereits gestorben sind. Die Gefängnisse des Landes meldeten unterdessen 182 Häftlinge, die an der Krankheit gestorben sind. Die unkontrollierte Ausbreitung des Virus in den peruanischen Gefängnissen hat bereits zu Aufständen geführt. Bei einem davon wurden neun Insassen getötet.

Laut einem Bericht der Financial Times werden rund 8.000 Covid-19-Todesfälle in der offiziellen Statistik der Regierung Vizcarra nicht aufgeführt. Ein Regierungssprecher stellte zwar den Bericht an sich nicht in Frage, dementierte aber die Behauptung, die Zahl der Toten werde bewusst nach unten korrigiert. Er behauptete, die "anachronistischen Instrumente", mit denen die Toten gezählt werden, führten zu Verzögerungen bei der Aktualisierung der Zahlen.

Genau wie im Rest der Welt bricht auch in Peru das Gesundheitssystem unter der Last des Virus zusammen. Der Pfleger Miguel Armas aus dem Hipólito-Unanue-Krankenhaus in Lima erklärte gegenüber AFP: "Es ist wie in einem Horrorfilm: Innen (im Krankenhaus) sieht es aus wie auf einem Friedhof voller Leichen. Die Patienten sterben im Sitzen oder in ihren Rollstühlen."

Chile

Mit einer Zahl von 61.000 Infizierten liegt Chile derzeit an dritter Stelle und weist eine der höchsten Ausbreitungsraten auf. Am Freitag wurden mehr als 4.000 neue Fälle und 45 Todesopfer bestätigt. Da 90 Prozent der Intensivpflegebetten besetzt sind, hat die rechte Regierung von Präsident Sebastián Piñera das Militär angewiesen, Feldlazarette zu öffnen, um den Ansturm von Patienten zu bewältigen. In Santiago wurden als Reaktion auf die steigenden Todesopfer 1.000 neue Gräber ausgehoben.

Ende April hatte Piñera erklärt, das Land habe den Höhepunkt der Pandemie erreicht und hatte auf die Wiedereröffnung der Wirtschaft und des Einzelhandels gedrängt. Seither ist die Zahl der Infizierten in die Höhe geschossen.

Die Wut der Arbeiter und der Armen über die fehlenden Sozialleistungen während der Quarantäne hat zu Protesten gegen die Regierung und zu Konfrontationen mit den Carabineros geführt, der brutalen militarisierten Polizei des Landes. Im Arbeiterviertel El Bosque im Süden von Santiago gingen die Arbeiter am Freitag nach vorherigen Zusammenstößen mit den Sicherheitskräften erneut auf die Straße. Einer der Demonstranten erklärte gegenüber einem chilenischen Nachrichtensender: "Wir sind nicht gegen die Quarantäne, sondern gegen den Hunger!"

Die Proteste in El Bosque haben sich auf weitere Teile des Landes ausgedehnt. Die offensichtliche Unfähigkeit der Regierung, das Coronavirus zu bekämpfen oder die Millionen zu versorgen, die ohne Arbeit oder Einkommen dastehen, könnte die Massenproteste gegen soziale Ungleichheit wiederaufflammen lassen, an denen sich im letzten Oktober Millionen Menschen beteiligt hatten.

Ecuador

Ecuador liegt zwar mit 36 000 bestätigten Fällen hinter Chile - hauptsächlich, weil weniger getestet wird -, hat aber unter den südamerikanischen Ländern die dritthöchste Zahl an Todesopfern (3.056). In der größten Stadt des Landes, der Hafenstadt Guayaquil am Pazifik, spielten sich im März und April grauenhafte Szenen ab: Weil die Krankenhäuser überfüllt waren, blieben die Leichen in ihren Wohnungen oder auf den Straßen liegen. Der Anstieg der Todesfälle in Guayaquil ist zwar zurückgegangen, doch in der im Hochland liegenden Hauptstadt Quito ist sie gestiegen. Auch hier sterben Menschen auf offener Straße.

Die rechte Regierung von Präsident Lenín Moreno, die enge Beziehungen zu den USA pflegt, hat die Pandemie ausgenutzt, um mit weiteren drastischen Sparmaßnahmen die Forderungen des IWF und des ausländischen Kapitals zu erfüllen. Unter dem zynischen Deckmantel eines "Gesetzes über humanitäre Unterstützung" hat die Regierung die Subventionen für Benzinpreise abgeschafft sowie Arbeitszeiten und Gehälter im öffentlichen Dienst gekürzt. Die großen Gewerkschaften, Bauernverbände und andere soziale Gruppen haben für Montag zu Massenprotesten aufgerufen.

Kolumbien

Auch Kolumbien verzeichnete bis Freitag mit 18.330 bzw. 652 einen starken Anstieg von Erkrankungen und Todesfällen. Am Donnerstag demonstrierten Pflegekräfte in Bogotá gegen das Versäumnis der rechten Regierung von Iván Duque, ausreichend Material und Ausrüstung für die Krankenhäuser des Landes zur Verfügung zu stellen. Laut dem Nationalen Gesundheitsinstitut sind 12 Pflegekräfte gestorben, fast 1.000 sind erkrankt. Demonstranten berichteten über fehlende Schutzausrüstung und warfen der Regierung vor, seit Monaten kein Gehalt bekommen zu haben.

Auch in Argentinien und Bolivien steigt die Zahl der Infizierten und der Todesfälle rasch an. In Bolivien wird die diktatorische Regierung, die letztes Jahr durch einen von den USA unterstützten Putsch an die Macht kam, von einem Korruptionsskandal erschüttert: Sie zahlte für ungeeignete Beatmungsgeräte einen Preis, der das Doppelte der wirklichen Kosten betrug. Der verantwortliche Gesundheitsminister ist ein enger politischer Verbündeter der nicht gewählten Präsidentin Jeanine Áñez.

Abgesehen von unzähligen Todesopfern durch das Coronavirus sind Arbeiter in Südamerika auch mit den verheerenden wirtschaftlichen Folgen der Pandemie konfrontiert. Die UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik rechnet mit einem Anstieg der Armutsquote auf 34,7 Prozent der Bevölkerung, was 215 Millionen Menschen entspricht. 13 Prozent bzw. 80 Millionen Menschen werden in extreme Armut stürzen.

Die Internationale Arbeitsorganisation rechnet damit, dass die Zahl der Arbeitslosen in Südamerika im zweiten Quartal des Jahres 2020 auf 305 Millionen ansteigen wird. Den 158 Millionen Beschäftigten in der Schattenwirtschaft Südamerikas und der Karibik - rund 54 Prozent der arbeitenden Bevölkerung - drohen aufgrund der Krise Einkommensverluste von mehr als 80 Prozent.

Die kapitalistische Ausbeutung und die imperialistische Unterdrückung, die soziale Ungleichheit und die autoritäre Herrschaft, die bereits vor der Coronavirus-Pandemie herrschten, werden von der derzeitigen Krise noch einmal drastisch verschärft. Dies schafft zugleich die Bedingungen für revolutionäre Erhebungen in der ganzen Hemisphäre. Die Krise legt immer deutlicher dar, dass die unabhängige politische Mobilisierung und die internationale Vereinigung der Arbeiterklasse für den Sozialismus die entscheidenden Aufgaben im Kampf gegen die Pandemie und ihre Auswirkungen auf die Bevölkerung sind.

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Quelle:
World Socialist Web Site, 25.05.2020
WHO warnt: Südamerika ist "neues Epizentrum" der Corona-Pandemie
https://www.wsws.org/de/articles/2020/05/25/lati-m25.html
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veröffentlicht im Schattenblick zum 26. Mai 2020

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