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GLEICHHEIT/5753: Lettische Regierung tritt zurück


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Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

Lettische Regierung tritt zurück

Von Markus Salzmann
11. Dezember 2015


Die lettische Ministerpräsidentin Laimdota Straujuma kündigte am Montag ihren Rücktritt an. Damit tritt auch die gesamte rechts-konservative Regierung in Riga zurück. Bis zur Bestätigung einer neuen Regierung bleibt sie allerdings geschäftsführend im Amt.

Straujuma begründete ihren Rücktritt gegenüber Parteikollegen mit dem wachsenden Druck, dem sie sowohl in ihrer eigenen Partei "Einheit", der Regierungskoalition, der auch die Union der Grünen und Bauern (ZZS) und die ultrarechte Nationale Allianz (NA) angehören, als auch von Seiten der Europäischen Union ausgesetzt war.

Über den möglichen Rücktritt Straujuma hatten seit längerem Gerüchte in der lettischen Presse kursiert. Noch vor Kurzem hatte sie aber erklärt, sie bleibe trotz einer "Kampagne" gegen sie im Amt. Besonders mit den neofaschistischen Kräften in der Regierung war es zu Konflikten gekommen.

So hatte es heftige Auseinandersetzungen über die von der EU geforderte Aufnahme von 776 Flüchtlingen gegeben. Straujumas "Einheit" war dafür, weil sie negative Reaktionen der EU befürchtete, die beiden Koalitionspartner strikt dagegen. Drei der 13 Regierungsmitglieder brachen die Kabinettsdisziplin und stimmten gegen die Vorgabe der EU. Der grüne Staatschef Vejonis erließ schließlich ein Dekret, das die Regierung drängte, sich nach wochenlangen Streitereien in der Flüchtlingsfrage zu einigen.

Zu Konflikten hatte auch die Entlassung des Transportministers wegen eines Skandals bei der Fluggesellschaft Air Baltic geführt. Ein potenzieller Investor wurde verdächtigt, russische Interessen zu vertreten.

Hinzu kamen Schwierigkeiten bei der Umsetzung des Sparhaushalts für das kommende Jahr. Er sieht massive Steuererhöhungen vor. Im vergangenen Monat hatten Lehrer gegen brutale Kürzungen im Bildungssystem und die extrem niedrigen Löhnen gestreikt.

Straujuma ist seit Januar 2014 Regierungschefin. Sie trat die Nachfolge von Valdis Dombrovskis an, der nach fünf Jahren zurück getreten war. Anfang Oktober gewann sie unter dem Eindruck der Ukraine-Krise mit einem betont antirussischen Kurs die Parlamentswahl. Sie unterstützte nachdrücklich die von der EU gegen Russland verhängten Wirtschaftssanktionen und forderte eine stärkere Präsenz von NATO-Truppen in der Baltenrepublik.

In ihrer Antrittsrede hatte sich Straujuma verpflichtet, den strikten Sparkurs ihres Vorgängers fortzusetzen. Lettland war 2008 von der Weltwirtschaftskrise voll getroffen worden. Seither ist die Wirtschaft um mehr als 20 Prozent geschrumpft. Heute leben in dem zwei Millionen Einwohner zählenden Land 90.000 Menschen mehr in Armut als 2010. Die Armutsrate ist von 14 auf über 20 Prozent gestiegen. Der Sparkurs hat die soziale Ungleichheit drastisch verstärkt.

Straujumas Vorgänger Dombrovskis hatte unter Aufsicht des IWF und der EU Massenentlassungen im öffentlichen Dienst vorgenommen, Massensteuern erhöht und eine Flat-Tax verabschiedet, die die Reichen begünstigt. Er wurde dafür nach seinem Rücktritt mit dem Amt eines EU-Kommissars belohnt - zuständig für den "sozialen Dialog"!

Die lettische Regierung und die EU feierten das brutale Spardiktat als Erfolgsgeschichte. Während Besserverdiener durch die Flattax entlastet wurden, existiert in der Baltenrepublik der größte Niedriglohnsektor der EU mit Durchschnittslöhnen von zwei Euro in der Stunde.

Für die herrschenden Eliten ist das immer noch nicht genug. Das ist einer der Gründe für den Druck, der zum Rücktritt der Regierung führte. Der Chef der lettischen Zentralbank Ilmars Rimsevics hatte die Regierung auf einer Pressekonferenz am 4. Dezember aufgefordert, sich auf ein striktes "Null-Defizit-Budget" zu einigen. Der Haushalt für 2016 sieht ein Defizit von rund einem Prozent vor.

Rimsevics verlangte, dass sämtliche Ressorts Kürzungen hinnehmen - ohne "rote Linien" oder "Tabus". Er bezeichnete weitere Strukturreformen in Bildung und Gesundheit als grundlegend und äußerte die Hoffnung, dass es schon 2016 zu Reformen komme. Seit 2009 sind in Lettland bereits rund die Hälfte aller Kliniken geschlossen worden. In vielen Landesteilen existiert schon heute keine soziale Infrastruktur mehr. Weitere Kürzungen hätten katastrophale Folgen.

Teile der lettischen Eliten und der Europäischen Union hielten Straujuma nicht für geeignet, derart massive Maßnahmen durchzusetzen, und warfen ihr fehlendes Charisma und eine "Beamten-Mentalität" vor. Sie hielten sie nicht für rücksichtslos genug. Selbst die Vorsitzende der "Einheit" kritisierte vor kurzem die Regierungschefin im lettischen Fernsehen in scharfem Ton und erklärte, sie wünsche sich eine "entschiedene und aktive" Regierung.

Die Bildung einer neuen Regierung gilt als schwierig. Die politischen Parteien in Lettland sind durchwegs reaktionär. Sie vertreten kleine Minderheiten, meist ohne jede Basis in der Bevölkerung, und sind geprägt von Korruption, Vetternwirtschaft und politischer Unberechenbarkeit.

Staatspräsidenten Raimonds Vejonis, der einen neuen Premier nominieren muss, ist selbst tief in die Regierungskrise verstrickt. Er ist Vorsitzender der Grünen, einer Partei mit rund 500 Mitgliedern, die kurz vor der Unabhängigkeit des Landes von rechten Antikommunisten gegründet wurde und heute - wie der Koalitionspartner NA - die "Traditionen" Lettlands verteidigt. Gleichzeitig unterstützt sie die enge Bindung an die EU.

Vejonis hat angekündigt, mit allen Parlamentsparteien Gespräche aufzunehmen. Die Vorsitzende der regierenden "Einheit", Solvita Aboltina, schlug eine Koalition mit einer der beiden kleinen Oppositionsparteien "Bündnis der Regionen" und "Für Lettland von Herzen" vor. "Alles ist offen. Nichts ist klar," beschreibt Veiko Spolitis, ein Mitglied von "Einheit", die Lage.

Als wenig wahrscheinlich gilt dagegen eine Zusammenarbeit mit der Partei "Harmonie", die die größte Fraktion im lettischen Parlament stellt und sich vor allem auf die große russische Minderheit stützt. Völlig ausgeschlossen wird sie aber nicht.

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Quelle:
World Socialist Web Site, 11.12.2015
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Dezember 2015

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