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GLEICHHEIT/4096: 100.000 Berliner Hartz-IV-Haushalte von Zwangsumzug bedroht


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Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

100.000 Berliner Hartz-IV-Haushalte von Zwangsumzug bedroht

Von Ernst Wolff
1. März 2012


Die monatliche Warmmiete allein lebender Hartz-IV-Empfänger in Berlin darf 378 Euro nicht überschreiten. Paare müssen mit 444 Euro auskommen, Drei-Personen-Haushalte mit 542 Euro. Für eine vierköpfige Familie beträgt die Höchstmiete 619 Euro. Kommt es zu einer Mieterhöhung, durch die die Obergrenze überschritten wird, muss die Wohnung geräumt werden. Geschieht das nicht freiwillig, droht der Zwangsumzug.

2009 wurden in Berlin 428 derartige Zwangsumzüge durchgeführt. 2010 stieg die Zahl auf 1.195, 2011 waren es bereits 1.313. 2012 droht diese Zahl zu explodieren.

Wie erst jetzt bekannt wurde, erhielten im vergangenen Jahr insgesamt 65.511 Hartz-IV-Haushalte Mahnschreiben der Berliner Jobcenter, in denen sie aufgefordert wurden, die "Kosten der Unterkunft" zu senken. Die Zahl aller Berliner Hartz-IV-Haushalte, deren Wohnkosten im vergangenen Jahr über den zulässigen Werten lagen, belief sich auf 99.148, d.h. ein Drittel aller Hartz-IV-Empfänger. Die restlichen 34.000 fielen in die Kategorie "Härtefälle" (Alleinerziehende, Schwangere, Senioren). Ihre Mehrkosten werden von den Behörden übernommen.

Viele Betroffene versuchen, dem Wohnungswechsel zu entgehen, indem sie die Nebenkosten senken. Sie drosseln die Heizung, schränken den Wasserverbrauch ein und verbrauchen so wenig Strom wie möglich. Haben diese Maßnahmen nicht den gewünschten Erfolg, reagieren die Behörden im Allgemeinen rigoros und setzen damit eine Spirale in Gang, die ein Sozialarbeiter so beschreibt: "Erst wird der Strom abgestellt, dann kommt die Zwangsräumung und dann geht's ab in die Wohnungslosigkeit."

Für diejenigen, die bereit sind, ihre bisherige Wohnung aufzugeben, stellen sich weitere Probleme. In Neukölln zum Beispiel steht für 15 Hartz-IV-Bezieher, die einen Bescheid vom Jobcenter bekommen haben, gerade einmal eine bezahlbare Wohnung zur Verfügung. Den meisten Betroffenen bleibt also nichts anderes übrig, als ihr soziales Umfeld zu verlassen und in die letzten mietgünstigen Unterkünfte Berlins zu ziehen - die Großsiedlungen in Spandau oder in Marzahn-Hellersdorf.

Grundlage dieses jüngsten Frontalangriffs auf sozial Schwache sind wirtschaftliche und politische Entscheidungen, die in den vergangenen Jahren in Berlin getroffen wurden und deren Auswirkungen jetzt mit voller Wucht durchschlagen. Vor allem die Politik des rot-roten Senats zeigt verheerende Auswirkungen.

Unter der Koalition aus SPD und Linkspartei wurden zwischen 2002 und 2011 etwa fünfzig Prozent des öffentlichen Wohnungsbestandes verkauft. Um die Haushaltslöcher aus dem Berliner Bankenskandal zu stopfen, ging man im Jahr 2004 so weit, die größte landeseigene Wohnbaugesellschaft, die 1924 gegründete GSW, an zwei weltweit berüchtigte Finanzinvestoren zu verkaufen.

Obwohl selbst das Managermagazin das Unternehmen Cerberus in einem Artikel mit der Überschrift "Unter Geiern" als gierigen, rücksichtslosen und mit "brachialer Gewalt" operierenden Hedgefonds angeprangert hatte, zögerten SPD und Linkspartei nicht, ihm und einer Immobilienfirma der US-Bank Goldman Sachs 2004 insgesamt 65.000 Berliner Wohnungen zum Preis von 405 Millionen Euro zu verkaufen und damit mehr als zweihunderttausend Mieter ihrer Willkür auszuliefern.

2009 verkaufte das Investoren-Duo 15.000 Wohnungen weiter, was ihm nach nur fünf Jahren für ein Elftel der Wohnungen die horrende Summe von 447 Millionen Euro und damit zehn Prozent mehr als den ursprünglichen Kaufpreis für alle Wohnungen einbrachte. Die Mieter dagegen mussten sich mit immer schlechterer Wartung und kontinuierlichen jährlichen Mietpreiserhöhungen abfinden, die in der Regel doppelt so hoch ausfielen wie der Berliner Durchschnitt.

Als die Investoren schließlich beschlossen, den Rest der GSW an der Börse zu versilbern, warnte der Vorsitzende des Berliner Mietervereins, mit dem Ziel "langfristig sozial verträglicher Mieten ist dieser Börsengang nicht zu vereinbaren".

Seine Warnung hielt SPD und Linkspartei genauso wenig zurück wie die Tatsache, dass eine solche Transaktion laut Kaufvertrag ausdrücklich untersagt war. Der Börsengang wurde mit der offiziellen Begründung erlaubt, man hätte sonst den Verlust von Arbeitsplätzen und den Ausfall von Steuergeldern hinnehmen müssen. Über die verheerenden langfristigen Folgen für sozial schwache Mieter wurde kein Wort verloren.

Wenn die Linkspartei jetzt auf die Medienmeldungen über die drohenden Zwangsumzüge reagiert und in ihrer Presseerklärung vom Dienstag "eine grundlegende Neuausrichtung der Wohnungspolitik" fordert, ist das mehr als verwunderlich. Geradezu grotesk klingt allerdings der weitere Text, in dem es heißt: "Dazu gehören aus unserer Sicht die Einführung von Mietobergrenzen, die Stärkung der Mieterrechte ebenso, wie Spekulationen mit Wohnraum und der Zweckentfremdung einen Riegel vorzuschieben."

Die Empfänger der Job-Center-Briefe sind in zweifacher Hinsicht Opfer: Zum einen der Sozialpolitik von SPD und Grünen, die ihren Lebensstandard durch Gerhard Schröders Agenda 2010 und die Einführung von Hartz IV gesenkt und sie in die Armut getrieben haben. Zum anderen sind sie Opfer des rot-roten Berliner Senats und damit der Politik der Linkspartei. Ohne deren Mithilfe hätte der Senat keine einzige Entscheidung in der Wohnungspolitik treffen können.

Alle noch so linken Phrasen auf der Website der Linkspartei ändern nichts an den Tatsachen: Sie und ihre Parlamentarier haben aktiv dazu beigetragen, dass ein Hedgefonds wie Cerberus den Milliardären, deren Geld er verwaltet, heute noch riesige Gewinne einbringt, während die Armen in Berlin selbst in den bescheidensten Behausungen Angst haben müssen, nach der nächsten Mieterhöhung ihr Dach über dem Kopf zu verlieren.


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Quelle:
World Socialist Web Site, 01.03.2012
100.000 Berliner Hartz-IV-Haushalte von Zwangsumzug bedroht
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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. März 2012