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GLEICHHEIT/3760: Ein Jahr nach der Loveparade-Katastrophe


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Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

Ein Jahr nach der Loveparade-Katastrophe

Von Dietmar Henning
23. Juli 2011


Am Sonntag jährt sich die Loveparade-Katastrophe in Duisburg. Am 24. Juli 2010 waren 21 zumeist junge Menschen am einzigen schmalen Ein- und Ausgang zum Gelände, auf dem das Raver-Festival stattfand, zu Tode gequetscht worden. Mehr als 500 Menschen wurden verletzt und Unzählige traumatisiert. Am Wochenende finden mehrere Veranstaltungen in Duisburg statt, die der Opfer gedenken.

Wie recht schnell nach dem Ereignis klar wurde, handelte es sich nicht um eine unglückliche Verkettung von Zufällen, ja nicht einmal nur um Fahrlässigkeit der verantwortlichen Behörden und des Veranstalters. Es war eine Katastrophe mit Ansage. Trotzdem ist bisher niemand verurteilt worden, und Oberbürgermeister Adolf Sauerland (CDU), der politisch Verantwortliche, befindet sich bis heute im Amt.

Die Veranstalter und die politisch Verantwortlichen hatten sich skrupellos über die Bedenken und Warnungen von Fachleuten hinwegsetzt. In einem 452-seitigen Zwischenbericht der Duisburger Staatsanwaltschaft, die in der Angelegenheit ermittelt, heißt es, die Genehmigung für die Loveparade sei "rechtswidrig" und "hätte zu keinem Zeitpunkt erteilt werden dürfen".

Der Veranstalter Lopavent, die Firma von Rainer Schaller, Inhaber der Fitness-Kette McFit, hatte die Großveranstaltung dem eigenen Profitinteresse untergeordnet. Aus Kostengründen wurden zahlreiche Auflagen missachtet, so die Auflage, "aus Sicherheitsgründen das gesamte Gelände mit einer Lautsprecheranlage auszustatten".

Am Tag der Loveparade war jedoch keine Lautsprecheranlage errichtet worden. Laut Aussage eines Polizisten begründete dies ein Mitarbeiter von Lopavent damit, dass die Kabelwege zu lang seien. Die Veranstalter-Firma setzte auch weniger Ordner als vereinbart ein. Die Staatsanwaltschaft ermittelt wegen des Anfangsverdachts der fahrlässigen Tötung und Körperverletzung gegen vier Mitarbeiter von Lopavent, nicht aber gegen Schaller selbst.

Die Polizei hat ebenfalls Fehler gemacht und zumindest zum Ausmaß der Katastrophe beigetragen. Im Zwischenbericht der Staatsanwaltschaft wird der Leitende Polizeidirektor Kuno Simon als Beschuldigter geführt. Der Bericht zeichne "das Bild einer hoffnungslos mit der Lage überforderten Truppe", kommentiert die Rheinischen Post. Über den damaligen Duisburger Vize-Polizeipräsidenten Detlef von Schmeling schreiben die Staatsanwälte: "Derzeit ist nicht bekannt, ob und wann sich der stellvertretende Polizeipräsident in der Einsatzzentrale im Polizeipräsidium Duisburg aufhielt."

Der Bericht stellt auch fest, dass eine sonst bei solchen Großveranstaltungen übliche "Bevorrechtigung der Mobilfunkanschlüsse der Einsatzkräfte weder beantragt noch geschaltet war". Bei einer solchen Vorrangschaltung entstehen hohe Kosten. Das nordrhein-westfälische Innenministerium, das von dem aus Duisburg stammenden Ralf Jäger (SPD) geführt wird, hatte mehrere Berichte vorgelegt, die das Ministerium und die Polizei entlasten. Der Zwischenbericht der Staatsanwaltschaft zeigt, dass dies wider besseres Wissen geschah.

Eine zentrale Verantwortung sieht die Staatsanwaltschaft bei der Stadtverwaltung und ihren Behörden. Oberbürgermeister Sauerland hatte sich vehement für die Durchführung der Loveparade in Duisburg eingesetzt und seinen Ordnungs-Dezernenten Wolfgang Rabe (CDU) darauf angesetzt, die Loveparade gegen alle Hindernisse durchzuboxen.

Die Ermittler werfen Rabe vor, ihm seien bei der Genehmigung "alle Gefahrenpunkte bekannt" gewesen. Er habe trotzdem darauf "gedrängt", die Loveparade stattfinden zu lassen.

Das Bauordnungsamt der Stadt hatte sich wiederholt geweigert, die Genehmigung für die Loveparade zu erteilen. Die Amtsleiterin war daraufhin versetzt worden. Als eine Verwaltungsmitarbeiterin die zu schmalen Fluchtwege kritisierte, wies Rabe sie zurecht: Der Oberbürgermeister wünsche die Veranstaltung nun mal, sie solle doch lieber "konstruktiv mitarbeiten". Auch Sicherheitsbedenken seitens der Polizei und Feuerwehr wischte Rabe beiseite.

Oberster Dienstherr des Bauordnungsamts war nach Sauerland der inzwischen aus dem Amt geschiedene Stadtplanungs- und Bau-Dezernent Jürgen Dressler (SPD). Er hatte ungefähr einen Monat vor der Loveparade in einem handschriftlichen Vermerk die Zuständigkeit des Bauordnungsamts bestritten und notiert: "Die Entscheidung in allen Belangen obliegt II." Die II steht für das von Rabe geführte Ordnungs-Dezernat.

Dressler hatte diesen Vermerk nach einer Konferenz über den Brandschutz, die Beschränkung der Besucheranzahl und die Entfluchtung des Geländes bei der Loveparade erstellt und gehofft, er werde ihn vor Ermittlungen retten. Die Staatsanwaltschaft Duisburg deutet ihn jedoch als Anfangsverdacht. Sie wirft Dressler "Untätigkeit" vor. "Keiner der involvierten vorgenannten Mitarbeiter des Bauordnungsamtes war am Tage der Veranstaltung vor Ort", heißt es in ihrem Bericht. Es gab demnach keine Kontrolle der Genehmigungsinhalte und erteilten Auflagen.

Neben Rabe und Dressler ermittelt die Staatsanwaltschaft gegen weitere neun Mitarbeiter der Stadt, nicht aber gegen Oberbürgermeister Sauerland.

Dabei hat gerade der Oberbürgermeister den Unmut und die Wut der Bevölkerung wie kein anderer auf sich gezogen. Unmittelbar nach der Loveparade-Katastrophe hatte er versucht, die Opfer selbst für ihren Tod verantwortlich zu machen, indem er behauptete, sie seien am Eingang Mauern hochgeklettert, seien gestürzt und hätten so die Panik ausgelöst.

Bis heute hat er jegliche politische Verantwortung zurückgewiesen. Wäre die Loveparade ein Erfolg geworden, hätte er sich damit gerühmt. Nun behauptet er, er habe sich als Oberbürgermeister keinerlei Vergehen schuldig gemacht. Erst vor zwei Wochen bekannte er sich schließlich "zur moralischen Verantwortung", nach einem Jahr, in dem die Angehörigen der Toten und die Besucher der Loveparade neben ihrer Trauer auch noch die abstoßenden gegenseitigen Beschuldigungen der Verantwortlichen miterleben mussten.

Um ihre Unschuld zu beteuern, ließ die Stadt für fast 300.000 Euro von der eng mit ihr verbandelten Kanzlei von Dr. Ute Jaspers und Andreas Berstermann ein "Gefälligkeitsgutachten" erstellen, während Opfer und Hinterbliebene bis heute auf Entschädigung warten. Dem Duisburger Blog Xtranews drohte Jaspers mit einem Ordnungsgeld von 250.000 Euro, weil dort die Anlagen des Gefälligkeitsgutachtens veröffentlicht wurden, darunter Pläne, Protokolle usw., die einen wahrheitsgetreuen Einblick in den Ablauf der Genehmigung ermöglichen.

Die Stadt bezahlte dem ehemaligen Focus-Redakteur und PR-Berater Karl Heinz Steinkühler hohe Summen - es heißt 2.000 Euro am Tag -, um die Außendarstellung der Stadtverantwortlichen zu optimieren, allen voran von Adolf Sauerland selbst. Der Erfolg blieb allerdings aus. Bei den Gedenkveranstaltungen an diesem Wochenende wollen die Angehörigen Sauerland dennoch nicht dabei haben.

Die Duisburger Grünen-Spitze steht dafür umso fester an Sauerlands Seite. Gemeinsam mit der CDU-Ratsfraktion hatten die Grünen im letzten Jahr eine Abwahl des Oberbürgermeisters verhindert, die eine Bürgerinitiative mit 10.000 Unterschriften forderte. Die grünen Ratsfraktionsvorsitzenden Dieter Kantel und Doris Janicki sagten damals: "Dem OB ist derzeit keine persönliche Schuld anzulasten."

Seinen besten Freund hat Adolf Sauerland in Peter Greulich gefunden. Der Grüne Greulich ist Duisburgs Stadtdirektor und inzwischen auch kommissarisch für das Stadtplanungs- und Bauordnungsamt des ausgeschiedenen Dressler zuständig. Er steht fest zu Sauerland, gibt gemeinsame Fernseh-Interviews mit ihm und verteidigt ihn. Greulich hat Sauerland auch fast ein Jahr nach der Loveparade-Tragödie Kontakt zu einigen Angehörigen vermittelt. Zuvor waren alle Anstrengungen Sauerlands gescheitert.

Erst kürzlich hat eine örtliche Mitgliederversammlung der Grünen eine Resolution verabschiedet, die die Abwahl Sauerlands befürwortet - mit 21 zu 18 Stimmen. Ein zweiter Versuch, Sauerland abzuwählen, ist aufgrund einer Gesetzesänderung durch die rot-grüne Landesregierung unter Hannelore Kraft (SPD) möglich. Während beim ersten Abwahlversuch noch der Rat der Stadt der Abwahl zustimmen musste, ist es jetzt möglich, eine Abwahl per Unterschriftensammlung zu erzwingen.

Diese "Lex Sauerland" verlangt für die Beantragung der Abwahl die Unterschriften von 15 Prozent aller Wahlberechtigten, das sind in Duisburg gut 55.000 Unterschriften, die zudem in vier Monaten gesammelt werden müssen. Dies dürfte aber im Fall Sauerland kein Problem sein. Die Hürden für die eigentliche Abwahl hat die rot-grüne Landesregierung jedoch höher gesetzt, schließlich könnte sich das Gesetz auch irgendwann gegen sie richten. Die Abwahl benötigt das Votum von 25 Prozent aller Wahlberechtigten, in Duisburg rund 90.000 Stimmen. Würde die Abwahl am Sonntag stattfinden, würde diese Zahl erreicht.

Das Problem ist aber nicht nur Sauerland. Die Opfer der Loveparade stehen in Duisburg einer breiten Allianz aus Wirtschaft, Geschäftemachern und Parteien gegenüber, die die Sicherheit und das Leben der Loveparade-Teilnehmer ihren wirtschaftlichen und politischen Interessen untergeordnet haben.

Sauerlands Adlatus Rabe hatte in einem Interview mit der Rheinischen Post im Februar 2010 nicht zu Unrecht darauf verwiesen, dass 2007 alle Ratsparteien - einschließlich der Linkspartei - für die Loveparade gestimmt hatten. Dies sei nicht nur eine "Imagefrage", sondern auch eine Geldfrage gewesen. "Wir gehen nach erster Schätzung von positiven Effekten von 500.000 bis 1.000.000 Euro aus."

Wie so oft bei solchen Katastrophen, die scheinbar einzigartige Ursachen haben, widerspiegelt sich auch in der Tragödie von Duisburg und der Reaktion der Verantwortlichen darauf der Zustand der gesamten Gesellschaft. Die abgrundtiefe Verantwortungslosigkeit gegenüber Hunderttausenden vorwiegend jungen Menschen, an deren Wohlergehen und Sicherheit niemand Interesse hatte, ist nicht auf Duisburg und die tragischen Ereignisse des vergangenen Jahres beschränkt. Sie kennzeichnet große Teile der herrschenden Klasse in Wirtschaft, Politik und staatlicher Verwaltung.

Die selbstherrliche Arroganz und bürokratische Rücksichtslosigkeit, mit der Millionen von Arbeiterfamilien in Europa derzeit für die Folgen der internationalen Wirtschaftskrise bezahlen müssen, die nicht sie, sondern die Banken und ihre Fondsmanager und Börsenspekulanten verschuldet haben, findet ihre Entsprechung in Duisburg, wo jeder siebte Einwohner Hartz-IV-Leistungen bezieht.

In den nächsten vier Jahren zahlt die mit 1,7 Milliarden Euro verschuldete Stadt 430 Millionen Euro an die Banken für "Zinsen und sonstige Finanzaufwendungen". Als vor einer Woche hingegen 15 Schüler und Schülerinnen aus der türkischen Stadt Aydin im Rahmen eines Austauschprogramms Duisburg besuchen wollten, war dafür kein Geld da. Vor einem Jahr waren rund 15 Jugendliche aus Duisburg in der Türkei freundlich aufgenommen worden, den Gegenbesuch sagte die Stadt nun aus Geldmangel kurzfristig ab. Das Land NRW hatte seinen Zuschuss von 6.120 Euro um 2.493 Euro gekürzt.

Karl Janssen (CDU), Leiter des städtischen Dezernats für Familie, Bildung und Kultur, sagte: "Mir sind die Hände gebunden, ich darf das Geld nicht freigeben." Als es um die Genehmigung der Loveparade ging, hat dagegen kein Verantwortlicher erklärt, ihm seien "die Hände gebunden", weil er auf Gesetze, Vorschriften, Sicherheitsrichtlinien und Auflagen zu achten habe. Alle Bedenken wurden beiseite gewischt. Diese Verantwortungslosigkeit zahlten 21 Raver mit dem Tod.


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Quelle:
World Socialist Web Site, 23.07.2011
Ein Jahr nach der Loveparade-Katastrophe
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veröffentlicht im Schattenblick zum 26. Juli 2011