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GLEICHHEIT/3695: Türkei - Dritte Amtszeit für Ministerpräsident Erdogan


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Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

Türkei: Dritte Amtszeit für Ministerpräsident Erdogan

Von Peter Schwarz
14. Juni 2011


Die AKP von Regierungschef Tayyip Erdogan hat die türkische Parlamentswahl vom Sonntag erwartungsgemäß gewonnen. Bei einer Wahlbeteiligung von 87 Prozent erhielt Erdogans islamisch-konservative Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung etwas mehr als die Hälfte aller Stimmen. 2007 hatte sie noch bei 46 Prozent und 2002 bei 34 Prozent gelegen.

Die AKP verfehlte jedoch das selbstgesteckte Ziel, 367 der 550 Parlamentssitze zu erobern. Eine Zweidrittelmehrheit hätte es ihr ermöglicht, ohne Beteiligung der Opposition die Verfassung zu ändern. Sie musste sogar einige Sitze abgeben und verfehlte mit 326 Mandaten auch die 330, die nötig wären, um eine neue Verfassung über eine Parlamentsabstimmung und ein anschließendes Referendum zu verabschieden.

Erdogan hatte geplant, die derzeit geltende, 1982 vom Militär erlassene Verfassung durch ein Präsidialsystem zu ersetzen. Das hätte ihn in die Lage versetzt, das Land nach Ablauf seiner dritten und letzten Amtszeit als Ministerpräsident als autoritärer Präsident weiter zu regieren.

Die Diskrepanz zwischen den prozentualen Stimmanteilen und der Anzahl der Mandate ergibt sich aus dem türkischen Wahlgesetz, das nur Parteien ins Parlament lässt, die mindestens zehn Prozent der Stimmen erhalten. Die AKP hatte gehofft, dass die rechtsextreme MHP (Partei der Nationalistischen Bewegung) an der Zehn-Prozent-Hürde scheitern werde, dann hätte sie mit der gleichen Stimmenzahl mindestens 30 Abgeordnetensitze mehr erhalten.

Kurz vor der Wahl waren mehrere anonyme Videos aufgetaucht, die MHP-Politiker bei verfänglichen sexuellen Aktivitäten zeigten. Die Quelle dieser Videos wurde im Umfeld der AKP oder regierungsfreundlicher Polizeikreise vermutet. Doch die MHP zog schließlich trotzdem mit 54 Abgeordneten ins Parlament ein. Ihr Stimmanteil ging zwar von 18 auf 13 Prozent zurück, sie blieb aber deutlich über der Zehn-Prozent-Marke.

Die größte Oppositionspartei, die kemalistische CHP (Republikanische Volkspartei) konnte dagegen deutlich zulegen. Sie erhöhte ihren Stimmenanteil von 21 auf 26 Prozent und wird im neuen Parlament mit 135 Abgeordneten vertreten sein. Ihr neuer Vorsitzender Kemal Kilicdaroglu hatte der Partei wieder ein stärker sozialdemokratisches Profil gegeben, nachdem sie unter seinem Vorgänger Deniz Baykal zu einem reinen Sprachrohr der Militärs verkommen war.

Einen deutlichen Zuwachs erzielte auch die Kurdenpartei BDP (Partei des Friedens und der Demokratie). Ihre Kandidaten erhielten knapp 7 Prozent der Stimmen und werden im Parlament mit 35 statt bisher 20 Abgeordneten vertreten sein. Da sie als Unabhängige antraten, unterliegen sie nicht der Zehn-Prozent-Hürde.

Die AKP verdankt ihren Aufstieg zur absoluten Mehrheit der Unterstützung finanzkräftiger Wirtschaftskreise und ihrem Versprechen, "Wohlstand für alle" zu schaffen. Als Erdogan 2003 die Regierung übernahm, hatte das Land wirtschaftlich am Boden gelegen. Dreistellige Inflationsraten und ein Wirtschaftszusammenbruch hatten 2001 die Ersparnisse der Mittelklasse sowie zahlreiche Existenzen zerstört und die Regierung gezwungen, harte Auflagen des Internationalen Währungsfonds zu akzeptieren.

Während Erdogans Regierungszeit erlebte die türkische Wirtschaft dann ein starkes Wachstum. Das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen verdreifachte sich. Im vergangenen Jahr betrug der Zuwachs der Wirtschaftsleistung neun Prozent. Die Türkei ist auf Platz 17 der größten Wirtschaftsnationen aufgerückt. Erdogan versprach im Wahlkampf eine Fortsetzung dieses Aufschwungs und kündigte gigantische Projekte an, so den Bau eines 50 Kilometer langen, 150 Meter breiten Kanals zur Umgehung des Bosporus und mehrerer Trabantenstädte zur Behebung der Wohnungsnot.

Die türkische Wirtschaft ist allerdings nach wie vor äußerst labil. Das zeigte sich 2009, als die Wirtschaftsleistung infolge der internationalen Krise um 14 Prozent einbrach.

Auch die sozialen und politischen Gegensätze im Land sind nach wie vor unvermindert tief. Die Arbeitslosenrate liegt über 9 Prozent, und es besteht eine tiefe Kluft zwischen dem industrialisierten Westen und dem agrarisch strukturierten und wenig entwickelten Osten, die sich auch in der ungelösten Kurdenfrage niederschlägt.

Erdogan hatte seine politische Laufbahn in den 1970er Jahren im islamistischen Lager begonnen. Als Bürgermeister von Istanbul erlangte er dann in den 1990er Jahren eine gewisse Popularität in ärmeren Stadtteilen, vor allem unter Zuzüglern aus Anatolien. 2001 brach er mit der islamistischen Wohlfahrtspartei und gründete zusammen mit anderen ehemaligen Mitgliedern die AKP.

Die AKP entwickelte sich zum Sprachrohr der sogenannten anatolischen Bourgeoisie, d.h. jener Vertreter der türkischen Wirtschaft, die sich durch das alte kemalistische Establishment benachteiligt fühlten. Die ersten Regierungsjahre Erdogans waren entsprechend vom Machtkampf mit den Kemalisten und dem Militär geprägt, die große Teile der Wirtschaft und den Staatsapparat mit teilweise mafiösen Strukturen kontrollierten. Noch 2008, als Erdogan bereits fünf Jahre Regierungschef war, versuchten sie die AKP mit Hilfe der Justiz zu verbieten.

Im Konflikt mit den Kemalisten sah sich Erdogan gezwungen, an breitere Bevölkerungsschichten zu appellieren. In der Auseinandersetzung mit Justiz und Militär gab er sich als "Demokrat" und gewann damit die Unterstützung von liberalen Intellektuellen. Es gelang ihm schließlich, den Einfluss des Militärs zurückzudrängen. Inzwischen sitzen mehrere Generäle in Untersuchungshaft. Auch an die unterdrückte Minderheit der Kurden machte er Zugeständnisse. So ließ er die lange Zeit verbotene kurdische Sprache wieder zu; als Amtssprache darf sie allerdings auch weiterhin nicht benutzt werden.

Die anatolische Bourgeoisie vollzog indessen einen rasanten Aufstieg. Viele der reichsten Unternehmer des Landes - wie der Betreiber von Kraftwerken, Hotels und Einkaufszentren Nahit Kiler und der Bau- und Medienunternehmer Ahmet Calik - stammen aus dem engsten Umfeld Erdogans.

"Was in der Türkei heranwächst, ist eine perfekte Allianz", kommentiert Die Zeit diese Entwicklung. "Die AKP als politischer Förderverein neuer Wirtschaftskonzerne - und die Geschäftsleute als geneigte Sponsoren der AKP. Nicht die Religion verbindet sie, sondern Wachstumsideologie. ... Man schätzt sich, man ist befreundet, man ist verwandt - und trinkt abends am Kamin so manches Gläschen Fruchtsaft miteinander."

Nachdem es die Auseinandersetzung mit dem alten kemalistischen Establishment mehr oder weniger zu seinen Gunsten entschieden hat, zeigt auch Erdogans Regime zunehmend autoritäre Züge. Im Wahlkampf war dies ein ständiges Thema. Journalisten und Wissenschaftler beklagten sich, dass Kritiker der Regierung unter Druck gesetzt und Stellen an den Universitäten ausschließlich nach Parteizugehörigkeit vergeben werden.

Auch in der Kurdenfrage hat Erdogan einen Kurswechsel vollzogen. Hatte er im Wahlkampf 2007 noch pathetisch versichert: "Das Kurdenproblem ist auch mein Problem", so behauptet er nun, es gebe in der Türkei kein Kurdenproblem mehr. Und dies obwohl die Kurdengebiete nach wie vor ein Armenhaus und kurdische Politiker der ständigen Verfolgung durch Polizei und Justiz ausgesetzt sind.

Erdogans autoritäre Anwandlungen sind nicht nur das Ergebnis persönlicher Hybris, wie dies einige europäischen Kommentare behaupten, die ihn wegen seiner Pläne zur Einführung eines Präsidialsystems mit dem russischen Ex-Präsidenten Wladimir Putin vergleichen. Die AKP verdankt ihren jüngsten Wahlerfolg dem Versprechen steigenden Wohlstands, aber die Umstände, unter denen die türkische Wirtschaft rasant wachsen konnte, nähern sich rasch ihrem Ende. Mit seinen autoritären Methoden bereitet sich Erdogan auf künftige Klassenauseinandersetzungen vor.

Das Wirtschaftswachstum der vergangenen Jahre war nicht zuletzt auf eine außenpolitische Offensive zurückzuführen, mit der die Türkei versuchte, sich als regionale Großmacht zu verankern. Hatten sich die Kemalisten außenpolitisch noch völlig den USA untergeordnet und eine nahezu autarke Wirtschaftspolitik verfolgt, entwickelten Erdogan und sein Außenminister Ahmet Davutoglu eine außenpolitische Offensive entlang der Linien des alten osmanischen Reiches.

Die Verwicklung der USA in den Afghanistan- und Irakkrieg hatte der türkischen Außenpolitik einen gewissen Freiraum verschafft. Ohne mit der Nato-Mitgliedschaft und der engen militärischen Bindung an die USA zu brechen, verfolgte Ankara einen Kurs nach dem Prinzip "zero problems with your neighbours" (Außenminister Davutoglu). Ankara bemühte sich um die Aufnahme in die EU, unterhielt enge politische und militärische Beziehungen zu Israel, pflegte aber auch enge Kontakte zum Iran, zu Syrien, zu Saudi-Arabien, zu Ägypten und zu den Scheichtümern am Golf. Der islamistische Hintergrund der AKP kam Erdogan dabei zugute.

Die jüngste Eskalation der Spannungen im Nahen Osten entzieht dieser Politik nun den Boden. Die Beziehungen der Türkei zu Israel hatten sich schon nach dem Gazakrieg vor drei Jahren merklich abgekühlt. Nun droht auch ein offener Konflikt mit Syrien, nachdem das Assad-Regime in unmittelbarer Nähe der türkischen Grenze Oppositionelle niederschießt und Zehntausende über die Grenze flüchten.

Auch der wachsende Konflikt zwischen Iran und Saudiarabien um die Vorherrschaft am Persischen Golf macht es der Türkei zusehend schwierig, zu beiden Seiten gute Beziehungen zu pflegen. Die USA ihrerseits verlangen immer ultimativer, dass sich alle Nato-Mitglieder uneingeschränkt auf ihre Seite stellen. Ankaras Versuch, im Libyen-Konflikt einen Kompromiss mit Gaddafi zu vermitteln, sind in Washington auf offene Ablehnung gestoßen.

Erdogan und seine Bewunderer stellen den jüngsten Wahlerfolg der AKP als Teil einer ungebrochenen Erfolgsgeschichte dar, in deren Verlauf die Türkei zum "China Europas" (The Economist) aufsteigt. Tatsächlich kennzeichnet er einen Wendepunkt. Der Türkei stehen heftige soziale Erschütterungen und regionale Konflikte bevor.


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Quelle:
World Socialist Web Site, 14.06.2011
Türkei: Dritte Amtszeit für Ministerpräsident Erdogan
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veröffentlicht im Schattenblick zum 15. Juni 2011