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GLEICHHEIT/3689: Die EHEC-Epidemie


World Socialist Web Site
Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

Die EHEC-Epidemie

Von Andreas Reiss
8. Juni 2011


Einen Monat nach Beginn der Epidemie durch EHEC-Bakterien ist es Zeit, einen ersten Überblick über die bisherigen Entwicklungen zu geben und erste kritische Fragen zu stellen.

Das genaue Ausmaß der Epidemie ist noch nicht abzusehen. Bis zum 6. Juni waren die Erreger bei über 1.500 Patienten nachgewiesen; über 600 entwickelten die gefürchtete, potentiell lebensbedrohliche Folgeerkrankung eines "Hämolytisch-urämischen Syndroms" (HUS). Insgesamt 22 Menschen waren an der Infektion verstorben, davon 15 am HUS, sieben weitere an anderweitigen Folgen der Erkrankung.

Was ist "EHEC"?

Das ursächliche Bakterium ist vom Typ der sog. Enterohämorrhagischen Escherichia Coli, kurz EHEC, die seit 1977 bekannt sind. Keime dieser Art finden sich im Darm von Wiederkäuern (Rinder, Schafe, Ziegen). Die Übertragung auf den Menschen erfolgt durch orale Aufnahme, in der Regel infolge Kontamination von Nahrung oder Getränken durch Fäkalien EHEC-tragender Tiere.

Dass die Erkrankung von Menschen in Form (lokal mehr oder weniger begrenzter) Epidemien auftritt, ist nicht ungewöhnlich; bereits mehrfach in der Vergangenheit wurden örtlich und zeitlich gehäufte Ausbrüche von Erkrankungen beobachtet, die keinen anderen Schluss zuließen, als den einer "Quelle", die den Erreger in ihren Einflussbereich "streut". Im Jahr 2000 kam es in Kanada infolge verseuchten Trinkwassers zu einer Epidemie, die in ihren Ausmaßen der jetzigen in Deutschland ähnelt.

Eine Aufnahme von EHEC muss nicht zu Krankheitssymptomen führen. Erkrankt der Mensch, so treten übliche Symptome einer Magen-Darm-Infektion auf: Übelkeit, Erbrechen, Durchfall. Durch die Einwirkung bakterieller Toxine, welche die Darmwand angreifen, entstehen blutige Durchfälle - man spricht von einer "enterohämorrhaghischen Colitis", zu deutsch "blutigen Dickdarmentzündung".

Treten bakterielle Toxine aus dem Darm in die Blutbahn über, kann sich die gefürchtete Folgeerkrankung des Hämolytisch-Urämischen Syndroms (HUS) entwickeln. Bei diesem kommt es zum Zerfall roter Blutkörperchen und Blutplättchen mit nachfolgender "Verstopfung" von Blutgefäßen durch die Zerfallsprodukte; außerdem schädigen weitere Toxine des Bakteriums kleine Blutgefäße im Körper, besonders betroffen sind Gehirn- und Nierengefäße. Die Symptome hiervon sind vielfältig. Festzuhalten ist, dass ein HUS mit recht hoher Wahrscheinlichkeit zum akuten Nierenversagen führen kann und daher in jedem Falle als kritische Erkrankung gelten muss.

Die Behandlung der Infektion mit Antibiotika ist schwierig und kann sogar Gefahren bergen - durch das plötzliche Abtöten der Bakterien können in kurzer Zeit große Mengen in diesen enthaltener Toxine "freigegeben" werden und den Krankheitsverlauf, beispielsweise eines HUS, verschärfen. Die Therapie richtet sich daher auf die Bekämpfung der Symptome: Flüssigkeits- und Nährstoffersatz, Kreislaufstabilisierung; bei HUS eine sog. Blutwäsche (Plasmapherese), um die Toxine aus dem Kreislauf zu entfernen; bei schwerem Nierenversagen kann eine Dialyse notwendig sein.

Charakteristika des aktuellen Ausbruchs

Der für die momentane Epidemie verantwortliche Subtyp des EHEC-Erregers mit der Bezeichnung O104:H4 ist nach Aussage mehrere Experten in dieser Form zuvor nicht beobachtet worden; er trägt einige Gene von verwandten, aber nicht mit EHEC identischen Escherichia coli-Bakterien (sog. enteroaggregativen Escherichia coli, kurz EAEC).

Dass Bakterien verschiedener Stämme untereinander Gene "austauschen", auch dass hierdurch neue Krankheitserreger für den Menschen entstehen, ist ein bekanntes Phänomen und für sich genommen nicht ungewöhnlich. Der vermutlich stattgehabte Gentransfer wird mit gewissen Eigenschaften des neuen EHEC-Stammes in Verbindung gebracht und erklärt möglicherweise einige Charakteristika im Krankheitsverlauf betroffener Patienten.

Entschlüsselt wurde das Genom des Erregers durch das BGI (Beijing Genomic Institute) in China, was auf die Bedeutung internationaler Kooperation in der schnellen Erforschung und Eindämmungen neu aufgetretener Infektionskrankheiten verweist.

Die Erkrankten sind ungewöhnlich alt - tritt HUS normalerweise bei Kindern auf, so betrifft es im aktuellen Fall in erster Linie junge Erwachsene. Vorwiegend sind Frauen betroffen. Das in der aktuellen Epidemie beobachtete HUS verläuft häufig schwerer, als dies gemeinhin der Fall ist. Zu den Ursachen dieser Tatsachen existieren Vermutungen, auf die einzugehen hier nicht notwendig ist.

Die Epidemie besitzt einen ganz eindeutigen Schwerpunkt in Norddeutschland: Die absolute Mehrzahl der Erkrankten lebt in Hamburg, Niedersachsen, Schleswig-Holstein oder Nordrhein-Westfalen, die meisten andernorts Erkrankten haben sich zum Zeitpunkt der wahrscheinlichen Aufnahme des Erregers dort aufgehalten. Hieraus folgt, dass die "Quelle" der Epidemie entweder in Norddeutschland selbst liegt oder dort "zu streuen" begonnen hat. Ein weiterer Schwerpunkt lag in Hessen - hier konnten mit größter Wahrscheinlichkeit Kantinen in Darmstadt und Frankfurt mit zahlreichen Erkrankungen in Verbindung gebracht werden.

Erkrankte in anderen, insgesamt zwölf Ländern hatten sich zuvor mit einer Ausnahme in Norddeutschland aufgehalten; besagter Ausnahmepatient hatte indirekten Kontakt nach Norddeutschland.

Nach ersten Meldungen, EHEC sei auf aus Spanien importierten Gurken nachgewiesen worden, stellte sich bald heraus, dass dieser EHEC-Stamm nicht dem für die aktuelle Epidemie verantwortlichen entspricht. Als weitere mögliche Infektionsquelle wurde ein Gartenbaubetrieb im niedersächsischen Uelzen benannt. Dieser neue Verdacht stützte sich nicht auf den Nachweis der Bakterien, sondern ging sozusagen indirekt vor: Die bekannten Verbreitungswege der Produkte des Betriebs (namentlich bestimmte Sprossen) decken sich mit Hauptausbruchspunkten der Epidemie, die Kantinen in Hessen eingeschlossen. Wie der Erreger auf die Sprossen gekommen sein kann, ist noch unklar.

Auf bisher untersuchten, aus besagtem Betrieb stammenden Proben wurde EHEC nicht nachgewiesen; die schließt jedoch nicht aus, dass der Herd der Epidemie hier liegt. Denkbar ist, dass der gesamte Bestand an verunreinigtem Material bereits ausgeliefert, verzehrt oder weggeworfen ist. Die "Ur-Kontamination" durch Exkremente von Wiederkäuern auf Nahrungsmittel mag bereits beendet sein, ein Nachweis im Nachhinein unmöglich. Mit zunehmender Dauer der Epidemie sinkt insgesamt die Wahrscheinlichkeit einer lückenlosen Beweiskette; dies ist nicht ungewöhnlich, auch bei früheren Epidemien wurde häufig keine Quelle der Kontamination identifiziert.

Kritische Fragen im Zusammenhang mit EHEC

Soweit die wesentlichen bekannten Fakten. Die Erkenntnisse sind an vielen Stellen lückenhaft, die nächsten Wochen mögen Wichtiges zum Verständnis der Epidemie beitragen. Bereits der aktuelle Stand an Informationen wirft jedoch einige bedeutende Fragen auf.

Wie bei vergleichbaren Epidemien (allgemeiner gesagt: für den Menschen nachteiligen Naturereignissen) muss man unterscheiden zwischen einerseits dem blinden, zufälligen Spiel der Natur, das durch den Menschen kaum zu beeinflussen ist; und andererseits den gesellschaftlichen Bedingungen, auf die z.B. eine Infektionswelle trifft und die den konkreten Fortgang der Epidemie bestimmen. Die bloße Existenz von EHEC ist eine Naturgegebenheit; auch die permanente Mutation von Bakterien mit Bildung neuer Stämme und daraus resultierend neuer Krankheitsbilder ist durch bewusstes menschliches Handeln nicht nennenswert zu beeinflussen.

Es wurde bereits auf die Bedeutung internationaler Zusammenarbeit bei der raschen Identifizierung und Charakterisierung des Erregers hingewiesen. Die Entschlüsselung des Genoms von EHEC O104:H4 fand in China statt. Die Labore, die zuvor in Münster die Oberflächen-Eigenschaften des Keimes beschrieben, arbeiten mit internationaler Technologie und Know-How. Die Geschwindigkeit, mit der heute Informationen über eine eben erst einsetzende Epidemie gesammelt wird, ist schwindelerregend und nie dagewesen.

Der Umsetzung dieses Wissens in praktische Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung werden jedoch durch das System von privatem Profit und nationalstaalichen Interessen schwere Hindernisse in den Weg gelegt.

Als der Verdacht bestand, EHEC könnte über spanische Gurken nach Deutschland gelangt sein, dieser Verdacht veröffentlicht wurde und de-facto Importverbote spanischer Agrarprodukte durch mehrere deutsche Bundesländer nach sich zog, rief dies wütende Reaktionen in Spaniens Elite hervor. Schon Tage bevor sich der Verdacht als falsch herausgestellt hatte, schwadronierte die spanische Gesundheitsministerin Leire Pajín, die Beschränkungen für spanische Produkte seien "verantwortungslos und ungeheuerlich" und warnte vor "Schuldzuweisungen" ohne gesicherte Erkenntnisse; alsbald wurden Schadenersatzforderungen gegen Deutschland "geprüft".

Dabei ist es völlig normal und selbstverständlich, dass bei Vorliegen einer Epidemie und Nachweis eines verdächtigen Keimes die entsprechende Quelle ausgeschaltet werden muss. Dass ein Nachweis sich später als im konkreten Fall nicht klärend herausstellen kann, liegt in der Natur der Sache und muss in Kauf genommen werden.

Nebenbei sei angemerkt, dass dennoch EHEC-Bakterien anderer Art tatsächlich nachgewiesen worden sind. Wenn aus konkretem Anlass intensiv überprüft wird und sich sogleich neben dem eigentlich gesuchten ein anderer Krankheitserreger findet, was sagt das über die Produktionsbedingungen der untersuchten Nahrungsmittel aus? Was über die Kontrollen beim Import?

Als Russland im Zuge der Epidemie zunächst deutsche und spanische Lebensmittel aus dem Verkauf nahm und später ein Importverbot für Gemüse aus der EU verhängte, sah der Russland-Gesandte der Europäischen Union, Fernando Valenzuela, hierin einen Verstoß gegen Regeln der Welthandelsorganisation WTO, der beizutreten Russland sich bemüht; er drohte indirekt nachteilige Folgen des Importverbotes für diese Bemühungen an. Ein Sprecher der EU-Kommission nannte die Entscheidung "unverhältnismäßig", sie sei sofort zurückzunehmen.

Solange die Herkunft eines Infektionserregers nicht geklärt ist, können umfassende Maßnahmen gegen dessen Verbreitung durchaus sinnvoll sein, gleichwohl sie sich im Nachhinein mit hoher Wahrscheinlichkeit als zu umfassend herausstellen werden. Es darf aber gefragt werden, ob hinter den Maßnahmen Russlands die Besorgnis um die Gesundheit der Bevölkerung steht, oder ob sie in der aktuellen Krise als Vehikel zur Stärkung der nationalen Produktion gesehen wird.

In Deutschland wies der Präsident des Bauernverbands, Gerd Sonnleitner, berechtigterweise auf die enormen Schäden hin, die den Bauern in Deutschland aus der Krise entstehen. Er kritisierte die Warnungen vor bestimmten Gemüsesorten, die zur Eindämmung der Seuche nicht beigetragen habe. Nach dem Stand der Informationen müssen diese Warnungen jedoch ohne jede Frage als sinnvoll betrachtet werden.

Zusammenfassend wird deutlich, dass die genannten Institutionen nicht unvoreingenommen am Schutz der Bevölkerung arbeiten, nicht rückhaltlos die Eindämmung der Epidemie anstreben, sondern in jeder ihrer Handlungen das von ihnen vertretene Wirtschaftsinteresse im Blick haben.

Schließlich wirft die Krise um EHEC Fragen zu den Zuständen im deutschen Gesundheitssystem auf. Die Krankenhäuser in den am schwersten betroffenen Städten und Regionen stoßen an ihre Grenzen. SPIEGEL-Online zitierte den Pressesprecher des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein, Oliver Grieve: "Das Personal arbeitet seit gut zwei Wochen rund um die Uhr, die Leute verzichten freiwillig auf Urlaub, auf Wochenenden, sie schlafen sogar hier." Patienten müssen in umliegende Kliniken überwiesen werden; wer nicht schwer erkrankt ist, wird zuhause isoliert.

Dass eine unvorhersehbare Epidemie zu erhöhten Belastungen führt, versteht sich von selbst. Dass Kliniken "am Limit" arbeiten, ist jedoch keine Erscheinung der vergangenen Wochen, sondern vielerorts seit Jahren ein Dauerzustand - dies nach nicht enden wollenden Kürzungsorgien an Personal, Material und Infrastruktur. Um ein Mindestmaß an Versorgung der Patienten zu gewährleisten, muss das Personal nicht zeitweise, sondern tagtäglich an seine Grenzen und über diese hinaus gehen. Es ist scheinheilig, dem Klinikpersonal nun für seinen aufopfernden Einsatz zu danken und die außergewöhnlichen Belastungen zu beklagen, dabei aber über die Grundmisere zu schweigen.


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Quelle:
World Socialist Web Site, 08.06.2011
Die EHEC-Epidemie
http://www.wsws.org/de/2011/jun2011/ehec-j08.shtml
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veröffentlicht im Schattenblick zum 9. Juni 2011