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GLEICHHEIT/3124: Gesundheitssystem - Bundesregierung bittet Versicherte zur Kasse


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Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

Gesundheitssystem: Bundesregierung bittet Versicherte zur Kasse

Von Jan Peters und Katharina Wied
24. Juni 2010


Die Parteien der Regierungskoalition CDU, CSU und FDP haben sich Ende letzter Woche darauf geeinigt, die Gesundheitsversorgung weiter einzuschränken und das wachsende Defizit der Krankenkassen auf die Versicherten abzuwälzen.

Die gesetzlichen Krankenkassen erwarten für dieses und das kommende Jahr ein Defizit von 11 Milliarden Euro. Auch ein Defizit von bis zu 15 Milliarden Euro wird nicht ausgeschlossen.

In der zwölfstündigen Sitzung am vergangenen Freitag wurde Einigkeit erzielt, dass das Defizit vorwiegend zu Lasten der Versicherten geht. Die Koalitionsrunde verständigte sich auf Leistungskürzungen von 4 Milliarden Euro, die über Abstriche bei Ärzten, Kliniken, Apotheken und dem Pharmagroßhandel eingespart werden sollen. Die restlichen 7 Milliarden Euro des erwarteten Defizits sollen durch ein noch auszuhandelndes System von Zusatzbeiträgen der Versicherten hereingeholt werden.

Das Defizit der gesetzlichen Krankenkassen ist die Folge der Gesundheits-, Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik aller Parteien, die in den vergangenen Jahren in wechselnder Zusammensetzung an der Regierung beteiligt waren.

Sie versuchen seit langem, die solidarische (einkommensabhängige) und paritätische (jeweils zur Hälfte durch Arbeitgeber und Beschäftigte) Finanzierung der Krankenversicherung, die bis ins 19. Jahrhundert zurückgeht, zu sprengen. Gegen die solidarische Finanzierung richtet sich die Kopfpauschale, bei der Millionär und Putzfrau denselben Beitrag entrichten müssen und Familienmitglieder nicht mehr mitversichert sind, gegen die paritätische Finanzierung das Einfrieren und letztlich die Abschaffung des Arbeitgeberbeitrags.

Schon unter der Regierung von Helmut Kohl (1982-1998) hatte jede Gesundheitsreform Kürzungen der Leistungen zur Folge.

Unter der folgenden rot-grünen Regierung von Gerhard Schröder (SPD) führten dann vor allem die Hartz-Reformen zur finanziellen Belastung des Gesundheitssystems. So verringerten sich infolge der Zunahme prekärer Arbeitsverhältnisse und niedriger Tarifabschlüsse der Gewerkschaften die Beitragsaufkommen der Krankenkassen massiv. Darüber hinaus stiegen die Ausgaben der Krankenkassen laufend an, weil sich die rot-grüne Koalition weigerte, den wachsenden Profitinteressen der Pharmaindustrie entgegenzutreten.

Kurz vor ihrer Abwahl führte die Regierung Schröder dann 2005 einen Sonderbeitrag in Höhe von 0,9 Prozent des Einkommens ein, der von den Versicherten allein bezahlt wird. Das war der erste Schritt, die paritätische Finanzierung aufzubrechen.

Die CDU der derzeitigen Kanzlerin Angela Merkel warb schon 2003 für eine Kopfpauschale. Auf ihrem Leipziger Parteitag beschloss sie, dass zukünftig jeder erwachsene Versicherte einen gleich hohen Beitrag von 180 Euro plus einen Vorsorgebeitrag von 20 Euro für eine kapitalgedeckte Altersrückstellung zahlen solle. Die kostenlose Mitversicherung nicht arbeitender Familienmitglieder entfiel in diesem Modell. Der Arbeitgeberbeitrag sollte nach den damaligen Vorstellungen der CDU bei 6,5 Prozent eingefroren werden, direkt an die Lohnempfänger ausgezahlt werden und der Lohnsteuer unterliegen.

Im Wahlkampf 2005 wurde dann die niedersächsische Sozialministerin Ursula von der Leyen (CDU), die heutige Bundesarbeits- und Sozialministerin, in das so genannte Kompetenzteam Angela Merkels berufen. Von der Leyen war zuvor vehement für die Kopfpauschale eingetreten. Sie sei entschlossen, die Kopfpauschale auch "gegen Widerstände in der Bevölkerung" durchzusetzen, kommentierte der Tagesspiegel im Juli 2005.

Als dann aber Union und FDP in der Bundestagswahl 2005 die erwartete Mehrheit verfehlten und Merkel eine Große Koalition mit der SPD bildete, stellte sie die Pläne für die Kopfpauschale nochmals zurück. Mithilfe der SPD setzte sie stattdessen einen Mechanismus in Gang, der die Krankenkassen ausbluten ließ und gleichzeitig die technischen Voraussetzungen für einen späteren Übergang zur Kopfpauschale schuf.

Die Große Koalition beschloss 2007 eine Gesundheitsreform, die 2009 in Kraft trat. Seither fließen alle Beiträge in einen Gesundheitsfonds, aus dem allen gesetzlichen Krankenkassen pro Versichertem ein pauschaler Betrag überwiesen wird. Ein Ausgleich für ältere und chronisch kranke Versicherte findet nur noch über Durchschnitts-Pauschalen und daher kaum mehr statt.

Die Beitragssätze wurden bei 14,9 Prozent eingefroren, wobei die Unternehmen 7 Prozent, die Beschäftigten 7,9 Prozent bezahlen. Den Krankenkassen wurde die Möglichkeit eingeräumt, bei Finanzierungsengpässen von den Versicherten einen Zusatzbeitrag in Höhe von pauschal 8 Euro oder maximal einem Prozent des Einkommens zu erheben, aufgrund der Beitragsbemessungsgrenze von derzeit 3.750 Euro also höchstens 37,50 Euro. Wer mehr verdient, kann in die private Krankenversicherung wechseln und sich aus der solidarischen, gesetzlichen Krankenversicherung verabschieden.

Die Einführung des Gesundheitsfonds sollte den Wettbewerb erhöhen und kleinere Kassen vom Markt verdrängen. Dieser Prozess scheint nun in vollem Gange zu sein. Innerhalb kürzester Zeit haben drei Betriebskrankenkassen beim Bundesversicherungsamt (BVA) eine drohende Insolvenz angemeldet. Es handelt sich um die Gemeinsame Betriebskrankenkasse Köln (GBK), die City BKK und die BKK Heilberufe.

Die vor der Insolvenz stehende City BKK mit ihren gut 200.000 Versicherten hat 2009 und 2010 rund 50 Millionen Euro Schulden angesammelt. Eine Fusion mit einer anderen Kasse könnte eine drohende Insolvenz verhindern. Zu einer Fusion hat sich jedoch keine andere Kasse bereit erklärt, da die City BKK viele kranke und alte Menschen mit hohen Behandlungskosten versichert und die Kassen an möglichst vielen jungen und gesunden Mitgliedern interessiert sind.

Daher haben sich das Gesundheitsministerium und das BVA laut einem Bericht des Wochenmagazins Der Spiegel bereits auf die Schließung der City BKK zum 1. September 2010 verständigt. Die Schließung der City BKK mit ihren 500 Beschäftigten würde laut dem Vorstandsvorsitzenden des BKK-Landesverbands Baden-Württemberg, Konrad Ehling, 150 Millionen Euro kosten.

Für diese Kosten müssen die übrigen Betriebskrankenkassen haften. Das wiederum kann andere kleinere Kassen in finanzielle Nöte bringen. Da für solche Fälle keine Rücklagen gebildet wurden, müssen die Gelder von den laufenden Ausgaben abgezweigt werden. Ehling fürchtet daher einen Dominoeffekt für andere Krankenkassen. Nach Meinung von Experten werden viele der derzeit 128 Betriebskrankenkassen nicht überleben, weil sie zu wenig Versicherte haben.

Denn der Handlungsspielraum der Krankenkassen ist eher begrenzt. Die Versichertenstruktur sowie der Beitragssatz und damit die Einnahmen sind von ihnen kaum zu beeinflussen. Die Ausgaben sind zum allergrößten Teil gesetzlich vorgegeben, nur wenige Leistungen sind freiwillig. Kurzfristig können die Krankenkassen nur bei diesen sparen sowie bei den Ausgaben für Kliniken, Ärzte, Kuren und Medikamenten rigoroser prüfen, um Einsparungsmöglichkeiten auszureizen.

Ein weiterer Posten sind die Verwaltungskosten. Doch die Krankenkassen-Vorstände unterscheiden sich nicht von anderen Unternehmensvorständen: Sie wollen vor allem bei den Löhnen ihrer Beschäftigten sparen. Die Financial Times Deutschland berichtet, dass die drittgrößte Krankenkasse, die Deutsche Angestellten Krankenkasse (DAK) mit 4,8 Millionen Versicherten ebenfalls insolvent gehen könnte und daher mit den Gewerkschaften bereits Verhandlungen über Lohnkürzungen bei ihren 14.000 Beschäftigten führt.

Nach einer Studie der Wirtschaftsberatungsgesellschaft Ernst & Young werden von den 169 Kassen aufgrund von Fusionen oder Pleiten im Jahre 2015 nur noch 50 Kassen übrig bleiben. Die Anzahl soll bereits bis 2012 auf etwa 100 sinken. Die Anzahl der Betriebskrankenkassen geht demnach bis auf zehn zurück.

Die gegebene Situation und das Defizit in Höhe von mindestens 11 Milliarden Euro sind also durchaus gewollt und absehbar gewesen. Nun sollen sie als Druckmittel für weitere Kürzungen herhalten.

Der jetzige Bundesgesundheitsminister Philipp Rösler (FDP) hatte die Einführung der Kopfpauschale zur Voraussetzung für seine Amtsübernahme gemacht. Seine ursprünglichen Pläne sahen die Einführung einer einheitlichen Kopfpauschale vor, die zusätzlich zu dem bisherigen Beitragssatz von allen Versicherten erhoben werden sollte. Die Pauschale selbst sollte "einkommensunabhängig" sein, das heißt von Geringverdienern genauso wie von jedem besser Verdienenden eingezogen werden. Eine erste Version sah die Einführung der Pauschale ab 2011 in einer Höhe von zunächst "nur" 29 Euro pro Monat und erst danach weitere stufenweise Anhebungen vor.

Geringverdiener sollten einen aus Steuermitteln finanzierten Zuschuss erhalten. Auf diese Weise, propagierten die Befürworter der Kopfpauschale, würden die soziale Gerechtigkeit bewahrt und die Kosten des sozialen Ausgleichs von den Beitragszahlern auf alle Steuerzahler übertragen. Doch das war reine Propaganda. Der Sozialausgleich aus Steuergeldern ist angesichts der Haushaltskürzungen nicht nur illusorisch, sondern auch der Willkür zukünftiger Parlamentsentscheidungen ausgeliefert. Er kann, ist das Prinzip der Kopfpauschale erst einmal eingeführt, jederzeit gekürzt oder abgeschafft werden.

In Wirklichkeit ist der von der FDP propagierte Sozialausgleich kaum mehr als ein schlecht getarnter Versuch, die Kosten der Gesundheitsversorgung für die Beschäftigten zu erhöhen und für die Unternehmen zu senken. In einer nachgebesserten Version sollten deshalb die Mittel für die Finanzierung des Sozialausgleichs von den Versicherten über eine Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze gewonnen werden. Nach Protesten aus CDU/CSU und der eigenen Partei wurde dieser Vorschlag aber ad acta gelegt.

Obwohl sich alle Regierungsparteien über den generellen Kurs einig sind - Entlastung der Unternehmen, keine Anhebung des Arbeitgeberanteils und schrittweise Einführung einer wie auch immer gearteten Kopfpauschale -, gibt es heftige Auseinandersetzungen über das taktische Vorgehen.

Rösler stieß bisher mit seinen Plänen insbesondere bei der CSU, aber auch in den Reihen der CDU auf Widerstand. Seine ungeschminkte Bevorzugung der Unternehmen und Besserverdienenden, so die Befürchtung, könnte angesichts der Milliarden-Rettungspakete für die Banken und des Sparprogramms der Regierung offenen Widerstand provozieren.

In der CSU ebenso wie in Teilen der CDU setzt man lieber auf Einsparungen, Kürzungen und Nullrunden für Ärzte und Krankenhäuser und eine verschleierte Einführung der Kopfpauschale. In Teilen der Koalition gibt es daher Überlegungen, die Auflagen für den Zusatzbeitrag zu lockern, indem die Ein-Prozent-Grenze verdoppelt wird, die Kassen also maximal 75 Euro Zusatzbeitrag von ihren Versicherten erheben können. Auch eine Erhöhung der Pauschale von 8 Euro auf 15 Euro monatlich ist im Gespräch. Dabei ist der pauschale Zusatzbeitrag im Prinzip ein Schritt in Richtung der Kopfpauschale, weil er einkommensunabhängig erhoben wird und ein sozialer Ausgleich nicht erfolgt.

Die in der gesetzlichen Krankenversicherung fehlenden 11 bis 15 Milliarden sind im Verhältnis zu dem riesigen Bankenrettungspaket von Hunderten Milliarden keine große Summe. Aber genauso wie beim so genannten Rettungspaket für die Finanzwirtschaft, dessen Kosten die einfache Bevölkerung tragen soll, sollen die Versicherten durch höhere Zusatzbeiträge oder Leistungskürzungen dafür aufkommen.

Das wird dazu führen, dass sich die Tendenz zur Zwei-Klassen-Medizin verstärkt. Das Grundrecht auf eine umfassende und dem Stand der Forschung und Technik entsprechende Gesundheitsversorgung verkommt vollends zur Ware. Die gesetzlich Versicherten werden nur noch eine minimale Versorgung erhalten. Wer es sich leisten kann, muss sich durch Zusatzversicherungen mit weiteren Beiträgen seine Leistungen erkaufen.

Siehe auch:
Bundesregierung bereitet Zwei-Klassen-Medizin vor
(19. Januar 2010)
http://www.wsws.org/de/2010/jan2010/gesu-j19.shtml


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Quelle:
World Socialist Web Site, 24.06.2010
Gesundheitssystem: Bundesregierung bittet Versicherte zur Kasse
http://wsws.org/de/2010/jun2010/gesu-j24.shtml
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veröffentlicht im Schattenblick zum 25. Juni 2010