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GLEICHHEIT/2812: Erhält die Bundeswehr einen Freibrief zum Töten?


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Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

Erhält die Bundeswehr einen Freibrief zum Töten?

Von Peter Schwarz
3. Dezember 2009


Die Eskalation des Kriegs in Afghanistan hat die zweite Regierung von Angela Merkel (CDU) in eine schwere Krise gestürzt. Nur vier Wochen nach ihrem Amtsantritt mussten der ranghöchste General der Bundeswehr, ein Staatssekretär und ein Minister ihren Stuhl räumen.

Wie stets bei solchen Krisen muss man zwischen dem unmittelbaren Anlass und der tieferen Ursache unterscheiden. Unmittelbarer Anlass ist die Vertuschung des Massakers von Kundus, der blutigsten Militäraktion, die deutsche Soldaten seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs zu verantworten haben. Die tiefere Ursache liegt in einem grundlegenden Wandel der Bundeswehr: Nach über sechs Jahrzehnten beansprucht sie wieder das Recht, die Einwohner anderer Länder straflos töten zu dürfen.

Angesichts der deutschen Geschichte geht ein solcher Wandel nicht ohne Spannungen und Verwerfungen ab. Die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung lehnt Kriegseinsätze deutscher Soldaten nach wie vor ab. Aufgrund der ungeheuren Verbrechen von Hitlers Wehrmacht hatte Deutschland in den ersten zehn Nachkriegsjahren überhaupt keine eigenen Streitkräfte unterhalten. Auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges wurde dann 1955 gegen erbitterten Widerstand aus der Bevölkerung die Bundeswehr gegründet. Ihre Aufgabe blieb auf die Verteidigung des Nato-Territoriums beschränkt. Praktisch kam sie nie zum Kriegseinsatz.

Das änderte sich mit der deutschen Wiedervereinigung und dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Deutschland erhielt seine volle Souveränität zurück und die Herrschenden suchten nach Mitteln und Wegen, ihren außenpolitischen Interessen auch militärisch Nachdruck zu verleihen. Nach mehreren kleineren Einsätzen im Rahmen der UNO ebneten SPD und Grüne schließlich den Weg für den ersten groß angelegten Kriegseinsatz der Bundeswehr: die Beteiligung am völkerrechtlich umstrittenen Kosovokrieg, in dessen Verlauf Serbien massiv bombardiert wurde. Drei Jahre später, 2002, schickte die rot-grüne Regierung die Bundeswehr nach Afghanistan.

Wegen der anhaltenden Opposition gegen internationale Kriegseinsätze wurde dieser Einsatz stets als Friedens- oder Aufbaumission bezeichnet. Die Bundeswehr, so die offizielle Propaganda, befinde sich nicht im Krieg und sei auch keine Besatzungsarmee, sie sichere vielmehr den Frieden, stabilisiere das Land und schaffe so die nötigen Voraussetzungen für den Aufbau von Zivilgesellschaft und Infrastruktur.

Jetzt lässt sich diese Fiktion nicht länger aufrechterhalten. Der Krieg in Afghanistan ist in den vergangenen Monaten immer weiter eskaliert und hat mit der Entscheidung Präsident Obamas, die amerikanischen Truppen um weitere 30.000 auf 100.000 Soldaten zu erhöhen, Dimensionen wie einst der Vietnamkrieg erreicht.

Ziel des Kriegs ist nicht die Demokratisierung des Landes oder die Zerstörung von al-Qaida, sondern die Verteidigung der Vorherrschaft der imperialistischen Westmächte im ölreichen Zentralasien. Der neue Bundesverteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg hat dies bei seinem Antrittsbesuch in Washington offen ausgesprochen, als er sagte, man müsse sich von der "romantischen Idee der Demokratisierung des ganzen Landes nach westlichem Vorbild" verabschieden.

In der Bundeswehr hat diese Entwicklung zu erheblichen Spannungen geführt. Sie beteiligt sich an einem brutalen Besatzungskrieg, in dem Soldaten täglich ihr Leben riskieren und die Zahl der Opfer wächst. Trotzdem hielt die Regierung in ihrer bisherigen Propaganda daran fest, dass es sich um einen reinen Sicherheits- und Polizeieinsatz handle.

Das beraubt die Militärs nicht nur der ihrer Ansicht nach dringend benötigten öffentlichen Anerkennung, es hat auch zur Folge, dass sie dem Zivilrecht unterworfen sind. Töten sie afghanische Zivilisten, ermitteln deutsche Staatsanwälte. Während amerikanische und britische Elitetruppen routinemäßig angebliche Taliban töten und ganze Häuser mit ferngesteuerten Bomben zerstören, müssen deutsche Soldaten mit strafrechtlichen Ermittlungen rechnen, wenn sie dasselbe tun.

In diese Situation platzte das Massaker von Kundus.

Es ist bis heute nicht klar, was Bundeswehroberst Georg Klein am 4. September dazu bewogen hat, den Befehl zu einem Luftangriff auf zwei entführte Tanklaster zu geben, dem nach Nato-Angaben bis zu 142 Opfer, darunter zahlreiche Zivilisten zum Opfer fielen. Sicher ist lediglich, dass die offizielle Darstellung von unerklärten Widersprüchen strotzt.

So wird bis heute daran festgehalten, Klein habe den Angriffsbefehl ohne Rücksprache mit seinen Vorgesetzten erteilt. Das ist wenig glaubwürdig, wenn man bedenkt, dass zwischen der Entführung der beiden Lastwagen und ihrer Zerstörung sechs Stunden lagen, während denen sie unter ständiger Beobachtung standen, sich vom deutschen Stützpunkt entfernten und schließlich in einer Sandbank stecken blieben - also offensichtlich keine unmittelbare Gefahr für deutsche Einheiten darstellten.

Mittlerweile steht fest, dass Klein gleich mehrere grundlegende Einsatzregeln der Nato verletzt und die Piloten der amerikanischen Jagdbomber, die die tödlichen Bomben abwarfen, belogen hat. So gab es weder eine akute Bedrohung noch eine direkte Feindberührung, ohne die Klein den Befehl zum Luftangriff nicht hätte eigenmächtig erteilen dürfen. Der Spiegel, der den offiziellen Untersuchungsbericht ausgewertet hat, gelangt zum Schluss: "Wer den Isaf-Bericht sorgfältig liest, muss den Eindruck gewinnen, dass Klein töten wollte."

Die gesamte Bundesregierung reagierte auf das Massaker von Kundus, indem sie die Wahrheit systematisch vertuschte und die Öffentlichkeit belog. Verteidigungsminister Franz Josef Jung leugnete tagelang, dass es zivile Opfer gegeben habe. Bundeskanzlerin Merkel verbat sich im Bundestag jede "Vorverurteilung" der Bundeswehr. Und Jungs Nachfolger Karl-Theodor zu Guttenberg verteidigte den Luftangriff selbst einen Monat später noch als militärisch notwendig.

Der Vertuschungsversuch misslang schließlich, weil starke Kräfte innerhalb des Militärs dagegen steuerten. Der amerikanische Isaf-Kommandeur General McChristal traf bereits zwölf Stunden nach dem Bombenabwurf persönlich am Tatort ein und kritisierte das Verhalten von Klein. Das ihn begleitende "Initial Action Team" gelangte zum Schluss, dass es "mit sehr großer Wahrscheinlichkeit zivile Opfer gegeben" habe. Diese Information gelangte auch an die Medien, die zusätzliche Beweise über zivile Opfer lieferten.

Nachdem die Bundesregierung immer mehr in die Enge geraten war, veröffentlichte die Bild-Zeitung schließlich interne Bundeswehrberichte und ein Video des Luftangriffs aus einem der beteiligten Kampfflugzeuge. Sie entlarvten die Lügen der Bundesregierung und führten zum Rücktritt von Generalinspekteur Wolfgang Schneiderhan, Staatssekretär Peter Wichert und dem inzwischen ins Arbeitsministerium gewechselten Verteidigungsminister Franz Josef Jung.

Erneut ist nicht klar, wer der Bild-Zeitung das inkriminierende Material zugespielt hat. Es kann eigentlich nur aus Militärkreisen stammen. Laut Spiegel kursieren im Verteidigungsministerium sogar Gerüchte, das Umfeld von Jung-Nachfolger Guttenberg habe es weitergereicht, um missliebige Personen loszuwerden. Guttenberg hat sich zwar an der Vertuschung des Massakers beteiligt, er profiliert sich aber auch als Sprachrohr des Militärs und bemüht sich, ihm den nötigen juristischen und politischen Freiraum für internationale Kriegseinsätze zu verschaffen.

Jedenfalls sind die führenden deutschen Behörden jetzt gezwungen, klar Stellung zu beziehen. Die Staatsanwaltschaft Potsdam hat die Ermittlungen gegen Oberst Klein an die Bundesanwaltschaft abgegeben. Experten erwarten, dass diese das Verfahren als Angelegenheit des Völkerstrafrechts behandeln wird. Das hätte weit reichende Folgen. Klein könnte dann nur noch bestraft werden, wenn er vorsätzlich ein Kriegsverbrechen begangen hätte - was ihm die Bundesanwaltschaft mit Sicherheit nicht vorwerfen wird. Das Töten von Menschen in Afghanistan im Rahmen des Isaf-Einsatzes wäre dagegen, anders als bei Anwendung des deutschen Strafrechts, legal.

Das deutsche Völkerstrafgesetzbuch stammt aus dem Jahr 2002. Es wurde von der rot-grünen Bundesregierung kurz nach Beginn des Afghanistankriegs vorsorglich verabschiedet. Öffentlich wurde es als Instrument dargestellt, mit dem Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit auch dann verfolgt werden können, wenn sie von Nicht-Deutschen außerhalb Deutschlands begangen werden. Es enthält aber auch Klauseln, die die Verantwortlichkeit militärischer Befehlshaber regeln.

Wird Oberst Klein gestützt auf das Völkerstrafgesetzbuch freigesprochen oder das Verfahren eingestellt, schüfe dies einen Präzedenzfall. Die Bundeswehr erhielte damit einen Freibrief, im Rahmen ihrer Auslandeinsätze Menschen zu töten, ohne deshalb mit staatsanwaltlichen Ermittlungen rechnen zu müssen. Darauf drängen militärische Krise seit langem. Sie fordern "Rechtsicherheit", was einschließt, dass der Afghanistaneinsatz bei seinem richtigen Namen genannt und als Krieg bezeichnet wird. Der neue Verteidigungsminister Guttenberg schloss sich noch am Tag seiner Amtsübernahme dieser Forderung an, indem er mit der bisherigen Sprachregelung brach und den Einsatz in Afghanistan als "bewaffneten Konflikt" und "nichtinternationalen Krieg" bezeichnete.

Auch der Verteidigungsausschuss des Bundestags, der sich am Mittwoch als Untersuchungsausschuss konstituiert hat, verfolgt das Ziel, der Bundeswehr den Rücken zu stärken. Schwerpunkt seiner Untersuchung sind nicht die Ereignisse in Kundus, sondern die "Informationspannen" im Verteidigungsministerium, die es in Zukunft zu vermeiden gelte. Im Gegensatz zu einem eigenständigen Untersuchungsausschuss tagt der Verteidigungsausschuss geheim, es wird also wenig nach außen dringen. Seine Mitglieder waren schon bisher über die laufenden Ereignisse informiert und zu strikter Geheimhaltung verpflichtet - sie ermitteln also gewissermaßen gegen sich selbst.

Hinzu kommt, dass alle Bundestagsparteien tief in den Afghanistankrieg verstrickt sind: SPD und Grüne haben die Bundeswehr nach Afghanistan geschickt, Union und FDP wollen das deutsche Kontingent aufstocken, und die Linkspartei spricht sich zwar für eine Abzugstrategie aus, aber erst nachdem das Land befriedet und unter Kontrolle gebracht ist.

Erhält die Bundeswehr als Folge des Kundus-Massakers einen Freibrief zu töten, hätte dies weitgehende Auswirkungen. Sie könnte nicht nur rücksichtsloser gegen Aufständische in Afghanistan vorgehen und dabei zivile Opfer in Kauf nehmen, sie könnte sich auch unbeschwerter an den gezielten Tötungsaktionen beteiligen, die das Gesicht moderner Kolonialkriege prägen.

Vor allem die amerikanische, die israelische und die britische Armee sind längst dazu übergegangen, des Terrorismus Verdächtige gezielt zu liquidieren. Eine dubiose Geheimdienstinformation oder eine Denunziation reichen aus, um ein Todesurteil zu vollstrecken, ohne dass ein Staatsanwalt oder gar ein Richter die Anklage jemals zu Gesicht bekämen. Vollzogen wird das Urteil meist durch ferngesteuerte Raketen. Auf internationaler Ebene finden seit Jahren Debatten über die rechtliche Grauzone statt, in der sich diese Mordaktionen bewegen.

Die Teilnahme deutscher Soldaten an solchen Aktionen hat weit reichende historische Implikationen. Hitlers Wehrmacht hatte während des Vernichtungskriegs im Osten Kriegsverbrechen von unsagbarem Ausmaß begangen. Seither waren dem deutschen Militär die Hände gebunden. Die Lösung dieser Fesseln hat gefährliche Folgen für die internationale und für die deutsche Arbeiterklasse.


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Quelle:
World Socialist Web Site, 03.12.2009
Erhält die Bundeswehr einen Freibrief zum Töten?
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veröffentlicht im Schattenblick zum 4. Dezember 2009