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GLEICHHEIT/2402: Brüssel - Differenzen bestimmen EU-Krisengipfel


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Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale (IKVI)

Brüssel: Differenzen bestimmen EU-Krisengipfel

Von Stefan Steinberg
4. März 2009
aus dem Englischen (3. März 2009)


Die Staats- und Regierungschefs der EU-Mitgliedsstaaten trafen sich am Sonntag in Brüssel zu eintägigen Gesprächen über die wuchernde Wirtschaftskrise. Die Krise hat zwar in ganz Europa schwerwiegende Auswirkungen, die zentral- und osteuropäischen Länder sind aber besonders hart getroffen.

Das Treffen wurde Anfang Februar einberufen, um die protektionistischen Pläne des französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy zum Schutz der französischen Autoindustrie auf Kosten der osteuropäischen Länder zu diskutieren. In der Zwischenzeit mussten weitere drängende Probleme in die Tagesordnung aufgenommen werden, besonders die mögliche Zahlungsunfähigkeit mehrerer osteuropäischer Länder.

Am Ende der Beratungen erklärten sich die Gipfelteilnehmer geschlossen gegen eine protektionistische und nationalistische Antwort auf die Krise. Der britische Premierminister Gordon Brown sagte sogar, dass eine protektionistische Politik von EU-Mitgliedsländern "der Weg in den Ruin" wäre.

In der Praxis erwiesen sich die Gipfelteilnehmer aber als unfähig, sich auf irgendwelche konkreten praktischen Schritte gegen die Kreditknappheit in Europa oder gegen den vielfach befürchteten Zusammenbruch osteuropäischer Banken zu verständigen, oder auch ein gesamteuropäisches Konjunkturprogramm zu verabschieden. Die wichtigsten europäischen Länder schafften es nicht einmal, ein gemeinsames Programm für die Rettung ihrer jeweiligen Autoindustrie auf die Beine zu stellen. Ein zentraler Vorschlag auf der Konferenz - ein Milliarden schweres Rettungspaket für Osteuropa - wurde von Deutschland und anderen prominenten EU-Mitgliedern rundheraus abgelehnt. Es hieß, Problemfälle könnten nur von "Fall zu Fall" behandelt werden.

Der Brüsseler Gipfel wurde von einigen Zeitungen gelobt, und die Süddeutsche Zeitung schätzte das Treffen wie folgt ein: "Die europäischen Länder haben gerade im richtigen Augenblick Einigkeit demonstriert." Nichts könnte weiter von der Wahrheit entfernt sein. Es wurden keine substantiellen Vereinbarungen getroffen, und hinter den Kulissen war es offensichtlich, dass die nationalistischen Spaltungen, die sich schon in den letzten Monaten immer deutlicher gezeigt hatten, heute zum Zerreißen gespannt sind.

Vor dem Treffen am Sonntag hatte der ungarische Ministerpräsident Ferenc Gyurcsany warnend darauf hingewiesen, dass die globale Finanzkrise eine neue, gefährliche Spaltung der 27 Mitglieder starken Europäischen Union herauf beschwört. Fast zwei Jahrzehnte nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und ihrer Satellitenstaaten in Ost- und Zentraleuropa erklärte Gyurcsany: "Wir sollten keinen neuen Eisernen Vorhang und keine Spaltung Europas in zwei Teile zulassen."

Gyurcsany schlug vor, dass die wohlhabenderen Länder der EU in einen EU-Sonderfond von bis zu 190 Milliarden Euro einzahlen sollten, um die Volkswirtschaften einiger osteuropäischer Länder zu unterstützen, denen die Zahlungsunfähigkeit drohe. Ungarn traf sich mit acht weiteren Nachbarn aus der Region - Polen, Slowakei, Tschechische Republik, Bulgarien, Rumänien und die baltischen Staaten - vor dem Gipfel separat, um die Strategie für den Gipfel zu diskutieren. Damit demonstrierten diese Staaten das wachsende Misstrauen zwischen den osteuropäischen und den westeuropäischen Ländern.

Auch im Block der osteuropäischen Länder herrscht Uneinigkeit. So wiesen mehrere Länder wie Polen und die Tschechische Republik Gyurcsanys Vorschlag zurück. In einer Rede vor dem polnischen Parlament hatte der polnische Finanzminister schon vergangene Woche erklärt, im Umgang mit der tiefen Wirtschaftskrise suche seine Regierung "nach einer polnischen Lösung für ein polnisches Problem".

Auf dem Gipfel wurde Gyurcsanys Projekt eines Milliarden schweren Rettungsfonds dann von westlichen Ländern unter der Führung von Deutschland klar abgelehnt.

Deutschland und die Niederlande wiesen auch den Vorschlag zurück, den osteuropäischen Ländern eine rasche Aufnahme in die Eurozone in Aussicht zu stellen, obwohl deren Währungen in den letzten Wochen dramatisch an Wert verloren haben. Die EU bildet mit ihren 27 Mitgliedsstaaten den größten Binnenmarkt der Welt, aber nur sechzehn Länder gehören zur Eurozone und haben die gleiche Währung.

Mehrere osteuropäische Länder müssen derzeit riesige Kredite bei westlichen Banken mit ihren rapide verfallenden Währungen zurückzahlen, die sie in Euro aufgenommen hatten, viele davon bei deutschen und österreichischen Banken. Eine schnelle Mitgliedschaft in der Eurozone würde die von den osteuropäischen Ländern zu leistenden Rückzahlungen an die westlichen Banken deutlich verringern.

Kanzlerin Angela Merkel wollte in der Frage des Rettungsprogramms und des Eintritts in die Eurozone keinesfalls nachgeben. Sie erklärte auf dem Gipfel: "Ich kann nicht erkennen, dass alle zentral- und osteuropäischen Länder in der gleichen Lage wären", und fügte hinzu, man könne die erschreckende Lage in Ungarn nicht mit der anderer Länder vergleichen. Sie wurde von dem niederländischen Ministerpräsidenten Jan Peter Balkenende unterstützt, der eine "Aufweichung" der Kriterien für die Zulassung zur Eurozone ebenso ablehnte.

Während Frankreich und Deutschland zwar die Bitten osteuropäischer Länder um Unterstützung zurückwiesen, machten sie klar, dass sie eine Liste eigener Forderungen haben. In erster Linie beanspruchen sie das Recht für sich, höhere Subventionen an die französischen und deutschen Autohersteller zu vergeben.

Nicolas Sarkozy hatte kürzlich seine europäischen Nachbarn vor den Kopf gestoßen, als er seine Zusage von Finanzhilfen für die französische Autoindustrie davon abhängig machte, dass Peugeot und Renault keine Produktionsanlagen mehr in andere Länder wie Tschechien oder die Slowakei verlagerten. Später goss er weiteres Öl in das protektionistische Feuer, als er Peugeot-Citroen und Renault je drei Milliarden Euro Kredite zusagte, wenn sie keine französischen Autowerke schlössen.

Auf den Vorhalt in Brüssel hin, ob seine Maßnahmen zur Unterstützung der französischen Autoindustrie nicht protektionistisch seien, verteidigte Sarkozy seine Haltung mit dem Verweis auf seinen britischen Kollegen Gordon Brown. Niemand habe Brown einen Protektionisten genannt, als er die Mehrheit an mehreren britischen Banken übernommen habe, sagte Sarkozy gegenüber der Presse.

Kanzlerin Merkel und ihre Regierung wiederum suchen um die Erlaubnis der EU nach, dem wankenden deutschen Autohersteller Opel möglicherweise Staatsgelder zur Verfügung stellen zu dürfen. Merkel und Sarkozy nannten die Subventionsrichtlinien der EU zu restriktiv und reformbedürftig.


Die Krise in Osteuropa

Nach der Ablehnung seines Vorschlags warnte Ferenc Gyurcsany am Ende des Gipfels erneut davor, dass die Verweigerung von größeren Rettungsaktionen zu "einem massiven Rückgang" der östlichen Wirtschaften und zu "großen Zusammenbrüchen" führen könnte, und dass dies Auswirkungen auf ganz Europa hätte. Die Folge wären wachsende politische Unruhen und Auswanderungsdruck in den osteuropäischen und Einwanderungsdruck in den westeuropäischen Ländern.

Obwohl führende europäische Länder umfangreiche Rettungspakete zur Unterstützung von schwächelnden Ländern in Osteuropa ablehnten, sind sie sich durchaus über das Ausmaß der Krise in diesen Ländern bewusst. Sie sind schließlich als Investoren in diesen Ländern führend und verfügen über umfangreiche Handelsbeziehungen mit ihnen.

Europäische Banken haben etwa 1,6 Billionen Euro in Osteuropa investiert. Österreich hat alleine 230 Milliarden Dollar investiert (das sind 70 Prozent seines Bruttosozialprodukts), und deutsche Banken hatten Ende September 170 Milliarden Euro in der Region investiert.

Die Gefahr des Zusammenbruchs einer osteuropäischen Volkswirtschaft ist sehr real, und dies könnte zu einer Kettenreaktion im gesamten europäischen Bankensystem führen. Seit Anfang des Jahres hat der DAX fast 20 Prozent seines Wertes verloren. Die Verluste an osteuropäischen Börsen sind doppelt so hoch. Der rumänische BET ist dieses Jahr schon um 38,5 Prozent und der polnische WIG um 31, 2 Prozent gefallen. Und das, obwohl einige Länder, der Internationale Währungsfond, die Weltbank und europäische Institutionen schon Billiarden in die osteuropäische Wirtschaft gepumpt haben.

Einem Analysten zufolge haben die bereits transferierten Mittel bisher nur geringe Wirkung gezeigt. Er schließt daraus: "Bei diesem Abwärtstempo ist es schwer vorstellbar, wo die Aktienpreise Ende 2009 landen werden. Die bisher getroffenen Maßnahmen haben jedenfalls in den verschiedenen Ländern keine nennenswerte Wirkung entfaltet."

Unter diesen Umständen sind die führenden westeuropäischen Länder, die selbst mit problematischen Banken und großen Konzernen zu tun haben, nicht besonders geneigt, frisches Geld in die maroden Wirtschaften Ost- und Zentraleuropas zu stecken. Noch weniger sind dazu Länder wie Irland, Griechenland und Italien in der Lage, die selbst hoch verschuldet sind.

Merkel und Sarkozy sind bereit, einzelnen Ländern zu helfen, aber nur unter Wahrung ihrer eigenen Finanz- und Handelsinteressen. Gleichzeitig verlangen sie, die Rückzahlungsbedingungen für gewährte Kredite festzulegen. Das steckt hinter der Bemerkung von Angela Merkel, über die Hilfe müsse "von Fall zu Fall" entschieden werden.

Der Preis für solche Kredite westeuropäischer Länder wäre zwangsläufig die beschleunigte Zerstörung von Arbeitsplätzen, sozialer Leistungen und demokratischer Rechte, die die osteuropäische Arbeiterklasse schon genügend erlebt hat. Zwei Jahrzehnte nach der kapitalistischen Restauration im Osten sieht so das verheerende Ergebnis der Marktwirtschaft aus.

Siehe auch:
Wachsender Protektionismus in Europa
(13. Februar 2009)

Bricht die Eurozone auseinander?
(31. Januar 2009)

Nationale Interessen dominieren EU-Gipfel in Brüssel
(13. Dezember 2009)


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Quelle:
World Socialist Web Site, 04.03.2009
Brüssel: Differenzen bestimmen EU-Krisengipfel
http://wsws.org/de/2009/mar2009/brus-m04.shtml
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veröffentlicht im Schattenblick zum 5. März 2009