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GEGENWIND/851: Irgendeine Hoffnung? Arabischer Frühling, Krieg und Bürgerkrieg


Gegenwind Nr. 376, Januar 2020
Politik und Kultur in Schleswig-Holstein & Hamburg

Irgendeine Hoffnung?
Arabischer Frühling, Krieg und Bürgerkrieg

von Reinhard Pohl


Zwei Drittel aller Kriegstoten weltweit gibt es in der arabischen Welt, zwei Drittel aller Flüchtlinge kommen von dort. Was ist dort los? "Chaos" hat der Autor sein Buch genannt, mit dem er die wichtigsten Fragen beantworten will.

Im ersten Abschnitt beschreibt er die Zeit vom 1973 bis 1979: Er beginnt mit dem Ramadan-Krieg, auch Oktober-Krieg genannt, den vor allem Syrien und Ägypten gegen Israel führten. Im Hintergrund stand damals das Erdöl, das spätestens 1973 auch als Waffe entdeckt wurde: Israel schwankte kurz, wurde dann durch eine Luftbrücke aus den USA stabilisiert, die Tag und Nacht Waffen und Munition einflogen. Die arabischen Staaten reagierten durch ein Öl-Embargo, das alle Verbündeten Israels traf. Dieser Abschnitt endete 1979, mit dem Aufstand in Saudi-Arabien und im Iran. Die Regierung von Saudi-Arabien wurde durch französische Soldaten gerettet, die auch die heiligen Stätten in Mekka zurückerobern konnten. Im Iran stürzte die pro-westliche Regierung, die Islamische Republik entstand nach kurzem Aufflackern einer Demokratie. Beide Staaten etablierten sich in den folgenden Jahrzehnten als Führungsmächte des sunnitischen und schiitischen Islam.

Im nächsten Abschnitt geht es um die Jahre 1980 bis 1997. In dieser Zeit lernte die Welt ein paar neue Begriffe kennen, zum Beispiel "Mudschaheddin" oder "Dschihad". Die Sowjetunion besetzte Afghanistan, und der dort schon länger existierende Widerstand wurde von den USA massiv unterstützt. Die USA förderten auch die Anwerbung von Freiwilligen im Ausland, die den islamisch orientierten Widerstand unterstützten, die aber auch nach dem Rückzug der Sowjetunion in ihre Heimatländer zurückkehrten und dort ihr erworbenes Wissen anwandten. Solche Krieger kämpften in Algerien gegen die Militärregierung, in Ägypten ermordeten sie den Präsidenten, der Frieden mit Israel geschlossen hatte, in Bosnien beteiligten sie sich am Bürgerkrieg. Auch in Israel und seinen besetzten Gebieten änderte sich der Widerstand, die linke PLO verlor an Einfluss, islamische Organisationen gewannen Einfluss.

im dritten Abschnitt geht es um die Zeit von 1998 bis 2005. Schwerpunkt ist das Entstehen von al-Qaida und deren Ideologie, die sich weltweit verbreitete. Dort propagierte man, nicht wie in Algerien oder Israel gegen den "nahen Feind" zu kämpfen, sondern den "fernen Feind" ins Visier zu nehmen: Die USA sollte zum Ziel werden. Es begannen Anschläge zunächst gegen US-Botschaften in Ostafrika, gegen ein US-Kriegsschiff im Jemen, bis 2001 die USA direkt angegriffen werden konnten. Hier im Westen wurden viele als "Terroranschlag" gesehen, bis die USA in Jahre 2001 gegenüber der NATO von einem "Krieg" sprachen. Der Unterschied: Nach einem Terroranschlag muss ein Rechtsstaat die Schuldigen ermitteln, festnehmen und in einem fairen Gerichtsverfahren durch Beweise überführen. Im Krieg greift man an und bombardiert - das geschah dann ab 2001.

Im vierten Abschnitt geht es um die Netzwerke der Dschihadisten, die 2005 bis 2017 entstanden und aktiv wurden.

Der zweite Teil des Buches behandelt dann in zwei Abschnitten den Arabischen Frühling und das Kalifat der Dschihadisten. Geschildert werden die Vorgänge in Tunesien, dann folgt ein Kapitel über Ägypten, danach geht es um Libyen. Geschildert werden jeweils die Vorgänge von 2011 bis heute. Alle drei Konflikte entstanden innerhalb von Staaten, die relativ "rein" von sunnitischen Muslimen bewohnt werden.

Im nächsten Abschnitt geht es dann um die Konflikte, in denen Sunniten und Schiiten oder ihre verwandten Strömungen (Alawiten in Syrien, Zaiditen im Jemen) gegeneinander kämpfen. Geschildert werden nacheinander die Konflikte in Bahrain, wo eine saudische Intervention die sunnitische Herrscherfamilie vor dem Aufstand der schiitischen Bevölkerung rettete. Dann folgt eine Schilderung des Krieges im Jemen. Das letzte und längste Kapitel behandelt dann den Krieg in Syrien, bezieht aber den Irak und Libanon sowie die Interventionsmächte Russland, Iran und Türkei mit ein.

Im dritten Teil geht es schließlich um die aktüelle Situation nach der Niederlage des "Islamischen Staates", die 2017 besiegelt wurde, auch wenn die kurdische YPG noch täglich Kämpfe gegen die Zellen des Kalifats austrägt. Im ersten Abschnitt des Kapitels geht es um das Auseinanderbrechen des sunnitischen Blocks. Katar wurde aus der Koalition gegen den Jemen ausgeschlossen und eine Blockade verhängt, die Türkei und dann auch der Iran sprangen ein und halfen dem Land zu überleben, was es eventuell aufgrund seines Reichtums auch alleine geschafft hätte. In Saudi-Arabien zeigte sich die Krise in der Auseinandersetzung innerhalb der mehrhundertköpfigen Königsfamilie, von denen etliche Mitglieder im Ritz-Hotel in Riad inhaftiert und erst nach hohen Lösegeldzahlungen wieder freigelassen wurden. Im Irak setzten sich schiitische Parteien durch, die Unterstützung der sunnitischen Minderheit scheiterte auf ganzer Linie - sie besteht aus Kurden und Arabern, und auf arabischer Seite aus Unterstützern und Gegnern des "Islamischen Staates", vor allem Saudi-Arabien zeigte sich heillos überfordert.

In Syrien zeichnet sich jetzt ab, dass Russland und der Iran siegen, die Türkei vielleicht ein Stück vom Kuchen abbekommt - aber diejenigen in der Bevölkerung, die sich eine Demokratie und eine Annäherung an die Europäische Union erhofft hatten, müssen fliehen. Zurück bleiben die Kurden, in Syrien unter Führung der PYD, die von Westen erst unterstützt, dann verraten wurden. Das betraf auch die KDP im Irak: Dort verlor sie Kirkuk, die PYD in Syrien verlor Afrin.

Unklar bleibt jetzt, ob die Sieger davon profitieren: Russland und der Iran haben sich erkennbar übernommen, spielen in einer zu hohen Liga. Russland hat zudem extreme Probleme, seine verbündeten Iran, Israel, die Türkei und andere so zu koordinieren, dass ihnen nicht ihr Besatzungsgebiet um die Ohren fliegt. Die Situation der USA, insbesondere die Position von Donald Trump ist unklar. Man scheint sich drauf zu fixieren, ausschließlich den Iran als Feind behandeln zu wollen, ohne sich um die anderen Konfliktparteien einschließlich des Verbündeten PYD zu kümmern. Der Vorteil ist natürlich: Die USA können sich problemlos zurückziehen, zumindest ohne Probleme für die USA, die Probleme bekommen dann Kurden und Europa. Russland und Iran sind im Krieg gefangen, sie können sich nicht zurückziehen.

Tatsache ist, dass in Arabien in den vergangenen Jahrzehnten mehr zerstört als aufgebaut wurde. Die Jugend will auswandern, aus dem Irak und Syrien vermutlich die Mehrheit der gesamten Bevölkerung. Der Jemen und Syrien sind komplett zerstört, ein Wiederaufbau ist nicht absehbar, weil es dazu auf internationaler Ebene irgend eine Art von Einigung geben müsste, die nicht mal im Ansatz sichtbar wird. Der Irak ist in Teilen zerstört, vor allem die zweitgrößte Stadt Mossul, niemand kümmert sich wirklich mit ausreichenden Mitteln um den Aufbau - was aus dem Frust von Hunderttausenden dort in den nächsten Jahren entsteht, "nur" Migration oder weit Schlimmeres, ist nicht absehbar.

Man muss natürlich nicht alle Ansichten des französischen Autors teilen. In der Diskussion in Frankreich wird ihm vorgeworfen, bei den Konflikten in Arabien und auch Anschlägen in Frankreich die Rolle des Islam zu stark und die Rolle der sozialen Konflikte zu wenig zu betonen. Auch in diesem Buch kommt er immer wieder auf den Islam, auf die Machtkämpfe zwischen Sunniten und Schiiten, zurück, während er die sozialen Konflikte in Syrien oder dem Irak nur streift (sie aber nicht leugnet).

Es handelt sich aber um einen Autor, der die Konflikte in den arabischen Staaten seit Jahrzehnten beobachtet, intim kennt und anschaulich beschreiben kann.


Gilles Kepel: Chaos. Die Krisen in Nordafrika und im Nahen Osten verstehen. Verlag Antje Kunstmann, München 2019. 494 Seiten, 28 Euro.

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Quelle:
Gegenwind Nr. 376, Januar 2020, Seite 64-65
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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. Februar 2020

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