Schattenblick → INFOPOOL → MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE


GEGENWIND/833: Weibliche Beschneidung - Situation in Somalia und den Einwanderungsländern


Gegenwind Nr. 373 - Oktober 2019
Politik und Kultur in Schleswig-Holstein & Hamburg

BUCH
Weibliche Beschneidung: Situation in Somalia und den Einwanderungsländern

besprochen von Reinhard Pohl


Vor allem die Situation beschnittener Frauen aus Somalia in Deutschland und Italien interessiert die Autorin. Während die Beschneidung in Somalia fast flächendeckend üblich ist, weiß man über die Situation somalischer Migrantinnen hierzulande sehr wenig.

Die Autorin nähert sich dem Thema sehr theoretisch. Sie schreibt über die postkoloniale Situation und über den Rassismus der weißen Welt, die Konstruktion der Geschlechter und die feministische Perspektive, um zu vermeiden, Betroffene in die Rolle der Täterin oder des Opfers zu drängen. Das ist relativ anstrengend zu lesen und füllt leider auch rund 40 Prozent des Buches, bevor es überhaupt um Genitalbeschneidung geht.

Die Autorin stellt dazu die Situation in Somalia dar. Die Beschneidung von Mädchen ist hier die gesellschaftliche Norm, wird deshalb auch erst in den letzten Jahren hinterfragt. Bei Somalia kommt dazu, dass das Land über keine wirkliche Regierung verfügt. Unterschiedliche Milizen beherrschen das Land, und die formelle Zentralregierung wird von ausländischen Truppen geschützt, regionale Regierungen und Kriegsherren haben mit ihr wenig zu tun. Insofern gibt es auch kein staatliches Gesundheitswesen oder staatliche Aufklärung. Verboten ist die weibliche Beschneidung allerdings offiziell genauso wie in fast allen Ländern, die von dieser Tradition betroffen sind - und da ist Somalia eben das Land, in dem prozentual fast alle Frauen oder vielmehr Mädchen betroffen sind.

Die Autorin hat Frauen und Männer aus Somalia interviewt, und zwar sowohl in Deutschland als auch in Italien. Dabei ist es ihr leider nicht gelungen, wissenschaftliche Standards einzuhalten. So hat in Italien eine Freundin von ihr, die Italienisch und Somalisch spricht, die Interviews durchgeführt. Erst nach der Übersetzung der Bänder bemerkte die Autorin, dass diese Freundin keineswegs wie abgesprochen die Fragen gedolmetscht hat, sondern sie hat eigene Gespräche mit den Frauen geführt, die teils völlig unbekannt auf der Straße angesprochen wurden, wohl um die besprochene Anzahl zusammen zu bekommen. Die Antworten sind wegen der fehlenden Standardisierung des Fragenkataloges insofern nicht wirklich zahlenmäßig auszuwerten. Mit den Mängeln in dieser Untersuchung geht die Autorin zum Glück offen um, und wer schon mal mit "ehrenamtlichen Dolmetscherinnen" gearbeitet hat, kennt die entsprechenden Probleme.

Die Autorin kommt zum Ergebnis, dass die Beschneidung in Somalia selbst als "normal" gesellschaftlich verankert ist. Beschnittene Frauen, in Somalia werden sie ganz überwiegend auch vernäht, gelten als "anständig" und können ihre traditionelle Aufgabe, das Heiraten und Kinderkriegen, ohne Weiteres erfüllen. Nicht beschnittene Frauen gelten dagegen als "unnormal", sexuell ausschweifend und unzuverlässig. Sie sind allerdings oft auch bei Männern als Sexualpartnerinnen beliebter, nur als Ehefrauen schwerer vermittelbar.

Die Autorin beschreibt als Ergebnis eines Interviews eine Frau aus Somalia, die von der Mutter nicht beschnitten wurde, weil die Mutter Gegnerin der Beschneidung war und ist. Mit 16 Jahren ist sie von zu Hause abgehauen, weil die Tante ihr versprochen hatte, eine Beschneidung zu organisieren, was auch geschah. Grund dafür war, dass alle Freundinnen ihr erklärt hatten, sie würde niemals einen Mann abkriegen, wenn sie nicht auch äußerlich "anständig" wird und anständig aussieht. Das kann natürlich, das weiß die Autorin nicht, ein Einzelfall sein. Er zeigt aber das Problem der Aufklärung und der Bekämpfung dieser Tradition, eben weil sie so tief verankert ist. Auf jeden Fall warnt die Autorin davor, als "Europäer" in diesen Kampf zu gehen und die Beschneidung zu verdammen - denn einheimische Kritikerinnen der Beschneidung gelten eben allzu schnell als "Komplizin der Kolonialmächte", als "Verräterin an der einheimischen Tradition" und verlieren dadurch rasch an Einfluss, weil es eben nicht mehr um die Beschneidung und die Unverletzlichkeit der Person geht, sondern um die Öffnung des Landes gegenüber imperialistischen Mächten.

Die Autorin versucht anschließend, erfolgreiche Strategien gegen eine Beschneidung zu beschreiben, die die "Konstruktion der Weiblichkeit" in Somalia berücksichtigen: Wenn nur die beschnittene Frau eine anständige Frau ist, muss man das bei der Aufklärung berücksichtigen.

Hier in Europa gibt die Mehrheit der somalischen Frauen und eine noch größere Mehrheit der somalischen Männer an, gegen Beschneidung zu sein. Wie weit das der Kenntnis der Strafgesetze geschuldet ist oder wirkliche Aufklärung beschreibt, bleibt allerdings offen.



Isabelle Ihring: Weibliche Genitalbeschneidung.
unrast Verlag, Reihe "geschlechterdschungel";

Münster 2015, 83 Seiten, 7,80 Euro.

*

Quelle:
Gegenwind Nr. 373 - Oktober 2019, Seite 53 - 54
Herausgeber: Gesellschaft für politische Bildung e.V.
Schweffelstr. 6, 24118 Kiel
Redaktion: Tel.: 0431/56 58 99, Fax: 0431/570 98 82
E-Mail: redaktion@gegenwind.info
Internet: www.gegenwind.info
 
Der "Gegenwind" erscheint zwölfmal jährlich.
Einzelheft: 3,00 Euro, Jahres-Abo: 33,00 Euro.
Solidaritätsabonnement: 46,20 Euro


veröffentlicht im Schattenblick zum 30. Oktober 2019

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang