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GEGENWIND/827: Aktiver Lohnkampf von unten - Die "wilden" Septemberstreiks 1969


Gegenwind Nr. 372 - September 2019
Politik und Kultur in Schleswig-Holstein & Hamburg

Aktiver Lohnkampf von unten
Die "wilden" Septemberstreiks 1969

von Günther Stamer


In den "Kieler Nachrichten" vom 11. September 1969 konnten die Leser*innen folgende auf den ersten Blick seltsam anmutende Nachricht lesen: "Mit 'Hau ruck' und etwas ungelenken Händen ('Wir sind ja schon so lange aus der Übung') und den Bemerkungen einiger unbeteiligt dastehender Arbeiter ('Ganz schön schwer, was?' und 'Mokt nich so veel Holt darbi kaputt!') brachten Meister und Ingenieure den Stapellauf des schwedischen Leichters 'Hera' zuwege."


Was war geschehen? Am 9. September hatte die bundesweite Streikbewegung in den Metallbetrieben auch Kiel erreicht. Beginnend mit der Arbeitsniederlegung von 2.000 Arbeitern des Gaardener Werks der Howaldtswerke hatte sich der Streik am 10. September auf den gesamten Betrieb ausgedehnt. 7.000 Werftarbeiter, 90 Prozent der Belegschaft, streikten unter der Losung "Für gleiche Arbeit gleichen Lohn!"

Kiel: "Für gleiche Arbeit gleichen Lohn!"

Seit Anfang 1968 waren die Howaldtwerke in Kiel und die Deutsche Werft in Hamburg zu dem Werftenkonzern HDW zusammengelegt worden. Der Pferdefuß für die Kieler Werftarbeiter: Ihre Tariflöhne blieben aber weiterhin geringer als die ihrer Hamburger Kollegen. Beim Unternehmenszusammenschluss war zwar zugesichert worden, dass dieser Lohnunterschied binnen einen Jahres aufgehoben werden würde - doch es blieb bei diesem leeren Versprechen.

Im September 1969 platzte den Kieler Kollegen - den Vertröstungen der Geschäftsleitung überdrüssig - dann der Kragen. Sie warfen die Brocken hin und traten in einen spontanen "wilden" (nicht von ihrer Gewerkschaft IG Metall initiierten) Streik.

Die Howaldt-Geschäftsführung schaltete nicht nur auf stur, sondern suchte die weitere Konfrontation: So wollte sie weder die Lohnangleichung akzeptieren noch die durch die Arbeitsniederlegung ausgefallenen Stunden bezahlen. Eskalierend kam hinzu, dass die Geschäftsführung die Arbeiter schon seit dem ersten Streiktag bei der Ortskrankenkasse abgemeldet hatte, diese und ihre Familien also vollständig ohne Krankenversicherungsschutz dastehen ließen. Zwar bot die Krankenkasse den Kollegen an, sich umgehend "freiwillig" selbst zu versichern - allerdings zum stolzen Preis von knapp 110 DM pro Monat.

Am 13. September erscheint dann in den "Kieler Nachrichten" eine ganzseitige Anzeige des Vorstandes mit dem Angebot einer Ecklohnerhöhung von 3,96 DM auf 4,02 DM - verbunden mit Drohung an die Streikenden, man möge gefälligst "das gestörte Vertrauensverhältnis" zwischen Belegschaft, Betriebsrat und Vorstand durch die unverzügliche Arbeitsaufnahme wieder herstellen.

Auf einer Betriebsversammlung lehnen die Kolleg*innen mit 3.871 zu 1.111 Stimmen das Angebot ab und rufen die Kieler Bevölkerung zu einer Kundgebung auf. Am 19. September ziehen 7.500 Werftarbeiter, ihre Familienangehörigen und Kieler Bürger*innen von den Werktoren zum Rathaus, um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen. Auf der Kundgebung sprechen Helmut Schlüter vom Streikrat, der Kieler Oberbürgermeister Bantzer, der evangelische Pastor Fries und ein Vertreter des AStAs der Kieler Uni.

Parallel zur Kundgebung verhandelten die Bezirksleitung der IG Metall, der Betriebsrat und der HDW-Vorstand über ein neues Angebot an die Streikenden, das folgendes vorsieht:

Ab dem 1. September 1969 wird eine Zulage von 8 Pfennig gezahlt, ab dem 1. Januar 1970 erhöht sich die Zulage um weitere 4 Pfennig; zudem erfolgt eine Entlohnung für 32 Streikstunden mit einem zehnprozentigen Zusatz. Die Abmeldung der streikenden Beschäftigten von der Krankenkasse wird zurückgenommen und Maßregelungen der Streikenden sind zu unterlassen.

Betriebsrat und Vertrauensleute der IG Metall stimmen diesem Vorschlag zu und am 22. September wird nach acht Streiktagen die Arbeit wieder aufgenommen.

Vergleicht man dieses Ergebnis mit den beiden ersten Angeboten der HDW-Unternehmensleitung, so muss von einem beachtlichen Erfolg der Werftarbeiter gesprochen werden. Unzufriedenheit herrschte in großen Teilen der Belegschaft allerdings über die Haltung der IGM-Vertrauensleute. Diese hatten - entgegen gewerkschaftlichen Gepflogenheiten - darauf verzichtet, eine Urabstimmung über das Ergebnis abzuhalten. Sie waren auf die Vorhaltung des Betriebsrates eingegangen, dass für den Tag der Urabstimmung mit einem Verdienstausfall zu rechnen sei. Ein weiteres Indiz dafür, dass der Betriebsrat während der Streikbewegung völlig isoliert und wenig mobilisierend wirkte und voll auf die "sozialpartnerschaftliche" Karte setzte.

Doch damit war die Auseinandersetzung auf der Werft noch nicht beendet. Eine Woche darauf wird erneut gestreikt. Der Grund: Zwei Kollegen sollen auf Veranlassung von Personalchef Henke unter fadenscheinigen Gründen (z.B. angebliches Abstellen des Stroms während des Streiks) entlassen werden. Nachdem dies am 29. September bekannt wird, legen die Kolleg*innen empört die Arbeit nieder. Erst als der Technische Direktor auf einer Belegschaftsversammlung die Rücknahme der Entlassungen zusichert, wird die Arbeit wieder aufgenommen.

Solidarität mit den Streikenden

Die politische Kräfte der Stadt Kiel nehmen unterschiedlich zu dem Streikgeschehen Stellung. Es überwiegt - angesichts der bevorstehenden Bundestagswahl am 28. September - eine vorgebliche Sympathie mit den Werftarbeitern, die ja auch potentielle Wähler sind. Die SPD bezeichnet den Streik als Quittung für die Nichtbeachtung gewerkschaftlicher Forderungen und schlussfolgert: Das beste Mittel zur Durchsetzung der Forderungen sei die Wahl der SPD. Selbst die Kieler CDU-Wahlkreiskandidatin erscheint auf einer Streikversammlung und verspricht, sich beim Bundeswirtschaftsminister für die Interessen der Werftarbeiter stark zu machen. Die DKP bringt während des gesamten Streiks täglich ihre Betriebszeitung "Werft-Echo" heraus und steht vorbehaltlos hinter den Forderungen der Streikenden. Bemerkenswert ist die Solidarität der Kieler Studenten. Am 17. September findet ein Gespräch zwischen der Streikleitung und dem AStA der Kieler Uni statt mit dem Ergebnis, dass der AStA 40.000 Flugblätter zur Mobilisierung der Demo am 19. September druckt und sich an deren Verteilung beteiligt.

Wie kam es zu den "wilden" Septemberstreiks

Der Streik der Kieler Werftarbeiter war Teil einer bundesweiten Streikbewegung wie sie die Bundesrepublik bis dato noch nicht erlebt hatte. Die spontanen Septemberstreiks der Arbeiter*innen in der Metallindustrie vor 50 Jahren fuhren den Metallunternehmern und der auf Sozialpartnerschaft ausgerichteten Politik gewaltig in die Glieder. War doch die Bundesrepublik in den 50er und 60er Jahren von massiven Streikkämpfen weitgehend "verschont" geblieben (Ausnahmen bildeten der schleswig-holsteinische Metallarbeiterstreik 1956/57 und der Streik der baden-württembergischen Metaller 1963). Einzigartig an diesen Arbeitskämpfen war nicht nur die Wucht und Breite der Streikbewegung, sondern vor allem auch ihr Ausgangspunkt: Das waren nämlich die Arbeiter*innen, Betriebsräte, Vertrauensleute in den Betriebe selber. Der damalige IG-Metall-Vorsitzende Otto Brenner stellte im Jahr darauf rückblickend fest: "So gut wie alle Tarifbewegungen der IG Metall sind vorher von oben her angekurbelt, eingeleitet und durchgeführt worden. Nirgends vorher war der Druck von unten für die gewerkschaftliche Aktion ausschlaggebend gewesen."(1)

Diese Äußerung darf durchaus als Selbstkritik der Gewerkschaftsführung gewertet werden, nicht angemessen auf neue gesellschaftliche Realitäten reagiert zu haben. Wie sahen die Rahmenbedingungen aus, unter denen die Arbeiter das Heft des Handelns in die eigenen Hände nahmen? Im ersten Halbjahr 1969 zerbrach die 1966 gebildete Große Koalition aus CDU/CSU und SPD und mit ihr scheiterte offensichtlich auch das Konzept der "Konzertierten Aktion", eine Erfindung des sozialdemokratischen Wirtschaftsministers Karl Schiller. Offenkundiges Ziel dieses Bündnisses von Unternehmern und Gewerkschaften war, einer aktiven Lohnpolitik einen Riegel vorzuschieben. Die maßgeblichen Gewerkschafter lehnten zwar eine tarifrechtliche Bevormundung durch Politik und Unternehmer ab, sprachen sich jedoch zum Zweck "des gegenseitigen Infomationsaustausches" für ein Verbleiben in der Konzertierten Aktion aus. Eine große Fehleinschätzung, wie alle Wirtschaftsdaten eindrucksvoll belegten. Das Ergebnis des "Informationsaustausches" sah nämlich folgendermaßen aus: Die Gewerkschaften handelten 1968/69 nur geringe Lohnerhöhungen aus und die übliche Laufzeit der Tarifverträge wurde von 12 auf bis zu 18 Monate ausgedehnt. Selbst der Präsident des (wirtschaftsnahen) Kieler Instituts für Weltwirtschaft, Herbert Giersch, sah damals "einen Lohnrückstand wie nie zuvor sowie eine Gewinnexplosion, die alles Bisherige in den Schatten stellt."(2)

Da die Gewerkschaften, insbesondere die IG Metall und die IG Bergbau und Energie, gebunden an die "Friedenspflicht", auf den wachsenden Unmut der Kolleg*innen nicht reagierten, nahmen die Belegschaften vielerorts den Kampf in die eigenen Hände. Das Signal gaben die Beschäftigten der Dortmunder Hoesch-Werke am 2. September 1969 mit ihrem Streik für eine deutliche Lohnerhöhung. Der Erfolg ihres Kampfes löste eine Kettenreaktion aus: In den nächsten Wochen streikten bundesweit Belegschaften weiterer Metallbetriebe und des Steinkohlebergbaus. Insgesamt waren 69 Betriebe betroffen; 140.000 Kolleg*innen nahmen an Streikaktionen teil; 532.000 Arbeitstage fielen durch Streiks aus.(3)

Das unmittelbare Ergebnis der Septemberstreiks war rückwirkend zum 1.9.1969 eine Lohnerhöhung um 11 Prozent; zugleich wurden starke Zeichen für die Lohnrunde des Jahres 1970 gesetzt.

Akt der "praktischen Kritik" an den Gewerkschaftsvorständen

Unmittelbar nach den Septemberstreiks schlussfolgerte der damalige DGB-Vorsitzende, Heinz Oskar Vetter: "Die spontanen Streiks sind sicher das Ergebnis der Tatsache, dass die Tarifpolitik nicht so aktiv gewesen ist und der wirtschaftlichen Entwicklung nicht gefolgt ist. Das ist das erste. Das zweite: zu lange Laufzeiten." ("Volkswirt" vom 26.9.1969).

Die mit den spontanen Aktionen der Belegschaften zum Ausdruck gekommene "praktische Kritik" an der gewerkschaftlichen Unterordnung unter die staatliche - an den Kapitalverwertungsbedingungen orientierte Lohnpolitik - war Ausdruck eines neuen gewerkschaftlichen Selbstbewusstseins der Kolleg*innen. So richteten sich die Streiks nicht gegen die Gewerkschaften an sich; denn es wurden in der Regel Betriebe mit einem hohen gewerkschaftlichen Organisationsgrad bestreikt und aktive Gewerkschafter bildeten das organisierende Zentrum der Aktionen. Mit den selbstbewussten Aktionen der Gewerkschafter*innen begann in den Gewerkschaften selbst auch ein grundlegender Diskussionsprozess über die Rolle der Gewerkschaften in der Bundesrepublik. Sollten sie "Ordnungsfaktor" im System sein, wie das Konzept der "Konzertierten Aktion" dies vorsah, oder sollten sie "Gegenmacht" der abhängig Beschäftigten organisieren und zur Geltung bringen?

Erkenntnisse und Herausforderungen für die Gewerkschaften, die auch nach fünfzig Jahren nichts von ihrer Aktualität eingebüßt haben - und vor allem aktive Gewerkschafter*innen erfordern.


Anmerkungen

(1) lit. nach: Eberhard Schmidt, Ordnungsfaktor oder Gegenmacht. Die politische Rolle der Gewerkschaften. Frankfurt/M. 1971, S. 323

(2) Zit. nach: Eberhard Schmidt, a.a.0., Seite 110

(3) Zahlen nach: IMSF (Institut für Marxistische Studien und Forschungen), Die Septemberstreiks 1969, Frankfurt/M. 1969

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Quelle:
Gegenwind Nr. 372 - September 2019, Seite 13 - 15
Herausgeber: Gesellschaft für politische Bildung e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. September 2019

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