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GEGENWIND/820: Gewaltphantasien im Internet - Ertrinken lassen? Zurückbringen?


Gegenwind Nr. 371 - August 2019
Politik und Kultur in Schleswig-Holstein & Hamburg

Gewaltphantasien im Internet: Ertrinken lassen? Zurückbringen?
Rechte Online-Kommentare jenseits der Zivilisation

von Reinhard Pohl


Wird von der Presse heute über die Rettung von Schiffbrüchigen im Mittelmeer berichtet, überschlagen sich die Kommentare: Während viele die Retter loben und sich für ihren Einsatz bedanken, gibt es oft genauso viele, die den Geretteten nur das Schlechteste wünschen. Die einen wünschen sich, dass niemand gerettet wird, andere schreiben, die Geretteten sollten so schnell wie möglich "zurück". Welche Argumente gibt es?


So sieht es laut UNHCR aus: 2018 gab es 97.800 Personen, die auf dem Seeweg nach Europa kamen, 1987 Personen starben. 2017 war das Verhältnis 172.301 Überlebende zu 3139 Toten. 2016 waren es 362.753 Überlebende und 5096 Tote, 2015 1.015.078 Überlebende und 3771 Tote. (Das Statistische Bundesamt verbreitet ähnliche, aber nicht identische Zahlen.)

In Libyen gibt es rund 6000 registrierte Flüchtlinge, die in Lagern festgehalten werden, fast alle kommen aus vier Ländern: Eritrea, Somalia, Südsudan und Sudan. Daneben gibt es Einzelne aus Jemen oder westafrikanischen Ländern, die bewegen sich aber eher aus Westafrika über Marokko nach Spanien oder aus dem Jemen über Saudi-Arabien oder die Golfstaaten und Jordanien Richtung Türkei und Griechenland. Wie viele Flüchtlinge unregistriert in Libyen auf die Gelegenheit zur Flucht warten, ist nicht bekannt.

Die meisten Überlebenden landen in Italien, Malta, Griechenland oder Spanien, viele von ihnen vermeiden dort eine Registrierung (außer Malta, wo das schwierig wäre) und machen sich direkt auf die Weiterreise. Von Griechenland aus bleiben viele in Bosnien hängen, von Italien und Spanien aus kommen viele nach Deutschland, das (verglichen mit der Bevölkerung) mehr Flüchtlinge aufnimmt als Italien oder Griechenland, aber weniger als Schweden.

In Libyen sind die Milizen, die Internierungslager betreiben, teils Unterstützer der "Einheitsregierung", teils Unterstützer von General Haftar. Die Milizen sind teils identisch mit den Uniformierten der "Küstenwache", die von der EU mit finanziert - sie betreiben also die Internierungslager, verkaufen die teuren Plätze auf den Booten, fangen aber teils die Geflüchteten auf dem Mittelmeer wieder ein und bringen sie zum erneuten Abkassieren zurück in die Lager. Dort werden gelegentlich diejenigen, deren Zahlungsmöglichkeiten erschöpft sind, verkauft oder erschossen.

Auf hoher See, also abseits der Küstengewässer, die in der Breite von 12 Seemeilen zum Hoheitsgebiet der Küstenstaaten gehören, gilt das internationale Seerecht. Danach ist immer ein Staat für die Rettung verantwortlich, das ist im Mittelmeer der Staat, der auch (gegen Gebühren) die Überwachung des Luftverkehrs (SAR-Gebiet) übernommen hat. Daraus resultiert das große Rettungsgebiet Maltas vor der Küste Libyens: Wer mit der Lenkung der Verkehrsflugzeuge zwischen Europa und Nordafrika viel Geld verdienen will, bekommt auch Pflichten. Die will Malta nicht wahrnehmen.

Wenn ein Boot aus Nordafrika in Seenot gerät, funkt es entweder selbst um Hilfe. Gibt es die Möglichkeit nicht, weil kein Handy oder Funkgerät an Bord ist, muss es sich darauf verlassen, entdeckt zu werden. Das ist sehr wahrscheinlich, denn das Mittelmeer wird teils noch dichter überwacht als die Ostsee. Man kann also davon ausgehen, dass die NATO jedes Boot bemerkt und über Satelliten auch sehen kann.

Wer muss retten?

Alle Schiffe, die retten können, also in der Nähe sind und von der Seenot erfahren, müssen retten. Tut ein Schiff das nicht, gilt das Recht des "Flaggenstaates": Ist die Flagge von Panama oder den Niederlanden am Heck, gelten die Gesetze von Panama oder den Niederlanden, wenn es zum Beispiel um unterlassene Hilfeleistung geht.

Der erkennbare Unwillen mehrerer europäischer Länder, Gerettete an Land zu lassen, bringt leider viele Handelsschiffe dazu, bei Meldungen über Seenotfälle das beschriebene Gebiet zu umfahren, auch wenn das einen Umweg bedeutet und zusätzliche Zeit und Treibstoff kostet.

Wer muss gerettet werden?

Gerettet werden müssen alle, die in Seenot sind. Diese ist gegeben, wenn ein erfahrener Seemann (oder Kapitänin) erkennt, dass die Insassen eines Bootes in Lebensgefahr sind. Dabei ist es egal, ob die Bauart des Schiffes, ein technisches Problem, Mangel an Nahrung, Treibstoff oder Medikamenten dafür die Ursache sind.

Genauso wie bei der "Bergnot" ist es egal, ob man sich selbst durch Panik, ungenügende Vorbereitung oder Unkenntnis in die Notlage hineinmanövriert hat. Das könnte nur hinterher eine Rolle spielen, wenn es um die Bezahlung des Rettungseinsatzes geht. Gerettet wird zunächst jede und jeder, auch der Bergsteiger in Hausschuhen und der Seefahrer im Schlauchboot.

Wer darf retten?

Geregelt ist nur, dass innerhalb der SAR-Zone eines Landes, also meistens in dieser Gegend Malta oder Italien, der SAR-Staat zur Koordinierung einer Rettungsaktion verpflichtet ist. Das Seenot-Rettungszentrum registriert also den Notfall, notiert welches Schiff zur Rettung zur Unglücksstelle fährt und teilt anderen Schiffen mit, dass ihre Hilfe nicht mehr gebraucht wird. Außerdem alarmiert die Rettungszentrale die eigenen Kräfte von Seenotrettung, Marine, Küstenwache oder Zoll, je nachdem, wer in der Nähe ist.

Darüber hinaus darf jeder retten. Man darf sich ein Rettungsboot kaufen oder ein Boot zum Rettungsboot umbauen. Es muss nur den Vorschriften entsprechen, und die Besatzung muss die vorgeschriebene Ausbildung haben. Das gilt allerdings nur für die "hohe See", für die Einfahrt in Küstengewässer braucht man normalerweise eine Erlaubnis. Nur die "friedliche Durchfahrt" ist nach internationalem Seerecht ohne Erlaubnis möglich, nicht das Warten oder Kreuzen. Die Milizen in Libyen, nicht nur diejenigen, die als "Küstenwache" agieren, möchten die Seenotrettung in den eigenen Gewässern zumindest selbst kontrollieren.

Wohin müssen Gerettete gebracht werden?

Genau das ist nicht geregelt: Kein Staat muss einem Rettungsschiff erlauben, in die eigenen Gewässer oder in einen eigenen Hafen einzulaufen, wenn die Geretteten auf dem Schiff in Sicherheit sind.

Aber es gibt das "Refoulement"-Verbot: Geflüchtete dürfen nicht ohne Prüfung der Gefahren abgeschoben werden. Und da Libyen eine solche Prüfung nicht garantieren kann, es gibt dort kein Asylverfahren, dürfen sie vom Rettungsschiff nicht nach Libyen gebracht werden.

Italien verstößt gegen diese Regel, indem staatliche Schiffe Flüchtlingsboote blockieren, ohne die Flüchtlinge zu retten, und auf das Eintreffen der libyschen Milizen warten.

Eine "Aufnahmepflicht" eines Staates oder eines Hafens besteht nur, wenn sich das Schiff selbst in Seenot oder einer ähnlichen Notlage befindet. Deshalb nimmt zum Beispiel Italien bei Rettungsschiffen regelmäßig Flüchtlinge in einer medizinischen Notlage in Obhut und bringt sie selbst an Land, verweigert dies aber dem Schiff selbst. Meistens nehmen die italienischen Marineschiffe oder Küstenwach-Schiffe alle Frauen und Kinder auf. So bleiben auf den Rettungsbooten die jungen Männer, das liefert auch den Populisten die Fotos, die sie gegen die Flüchtlinge nutzen, wenn das Rettungsboot dann zwei oder drei Wochen später in den Hafen darf - dazu muss es insgesamt in einer Notlage sein, die durch die Wartezeit erst herbeigeführt wird. Aber selbst das ist kein absolutes Recht: Wenn die Notlage auf dem Schiff darin besteht, dass sich eine ansteckende Krankheit auf dem Rettungsschiff ausbreitet, darf ein Staat auch das Einlaufen in den eigenen Hafen verbieten, damit sich die Krankheit unter den AnwohnerInnen nicht verbreitet.

So ist es ausdrücklich zulässig, dass staatliche italienische Schiffe Lebensmittel und Wasser an ein Rettungsschiff übergeben, um anschließend das Anlanden zu verbieten - auf dem Rettungsschiff herrscht ja jetzt keine Not mehr. Theoretisch dürfte auch ein italienisches Tankschiff das Rettungsboot begleiten und regelmäßig auftanken, bis es in Kiel ist.

Frontex-Verordnung

Dieses Recht wird allerdings für Mitglieder der Europäischen Union eingeschränkt. Denn in Artikel 9 der Frontex-Verordnung ist die Pflicht zur Seenotrettung verankert, und in Artikel 10 geht es um die Pflicht der an der Rettungsaktion beteiligten Staaten, einen sicheren Ort zur Ausschiffung zuzuweisen. Artikel 10 Absatz 2 schafft sogar ein Recht der geretteten Person, in dem Staat, der den Einsatz koordiniert, an Land zu gehen.

Insofern könnte die Kommission das auch gegenüber Mitgliedsstaaten durchsetzen, wenn die Kommission will.

Und die Lösung?

Die beste Lösung besteht aus zwei Punkten:

1) Die EU einigt sich darauf, alle in Not befindlichen Menschen aus Libyen zu evakuieren. Dann muss niemand sich teure Plätze in nichtseetüchtigen Booten kaufen, und die hiesigen Handwerksbetriebe bekommen die Auszubildenden, auf die sie dringend warten. Aufnehmen kann einer der 28 Staaten alleine.

2) Die EU tut durch Begrenzung der Rüstungsexporte, gerechte Handelspolitik und das Verbot der Unterstützung von Diktaturen alles dafür, dass möglichst viele Menschen dort leben können, wo sie geboren wurden. Einige werden natürlich immer noch umziehen, sei es zum Studium, sei es der Liebe wegen, das verliefe aber ohne Zwang.

Wenn Italien, Malta oder andere bestimmte Rettungsboote nur dann die Geretteten anlanden lassen, wenn sie anschließend in anderen Staaten unterkommen, sollte Deutschland das einfach zusagen. Es sind ja sehr kleine und mehr plakativ gedachte Verbote. Während das Rettungsboot mit Carola Rackete vor dem Hafen kreuzte und nicht rein durfte, sind ein Dutzend Rettungsboote an ihr vorbei in den Hafen gefahren und haben rund 200 Flüchtlinge an Land gebracht - Rettungsboote, zu denen der Innenminister der Lega seinen Wählern keine Versprechungen gemacht hatte. Die anderen Rettungsboote waren solche, die nicht als Rettungsboot, sondern als Schiff zum Transport oder zum Fischen ausgelaufen waren, die sind von dem Einlaufverbot nicht betroffen.

Und der Hass im Internet?

In den Leserbrief-Spalten der Zeitungen und ihrer Facebook-Seiten werden oft die Geretteten diffamiert und ihnen (mindestens) die Pest an den Hals gewünscht.

Wichtig ist es, sich selbst zu äußern, möglichst in eigenen Beiträgen, nicht als Antwort auf Hass-Beiträge - das verschafft den Hass-Beiträgen zusätzliche Aufmerksamkeit.

Im eigenen Beitrag sollte man ruhig und besonnen das als Handlung vorschlagen, was einem die eigene Erziehung und der menschliche Anstand nahe legt. Falls die Hasser Falschbehauptungen verbreiten, sollte man denen die Fakten entgegensetzen. Die Hasser verbreiten häufig, es handele sich um junge Männer, sie seien nicht auf der Flucht, sondern auf der Suche nach einem besseren Leben, und es gäbe eine Vorschrift im Seerecht, sie "in den nächsten Hafen" zu bringen. Dabei geht es nie darum, die Hasser selbst zu überzeugen. Es geht immer um die Hundert stillen Leserinnen und Leser, die mehrere Beiträge überfliegen und die verschiedenen Standpunkte zur Kenntnis nehmen.

Es gibt auf Facebook die Gruppe "ich bin hier", die es sich zum Ziel gesetzt hat, Diskussionen mit vielen Hass-Beiträgen mit so vielen ruhigen und vernünftigen Kommentaren anzureichern, dass der Hass in den Hintergrund gedrückt Wird. Das ist ein sinnvoller Ansatz.

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Quelle:
Gegenwind Nr. 371 - August 2019, Seite 11 - 13
Herausgeber: Gesellschaft für politische Bildung e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 5. September 2019

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