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GEGENWIND/819: Nach dem Kolonialismus? - Es ist noch nichts vorbei


Gegenwind Nr. 371 - 2019
Politik und Kultur in Schleswig-Holstein & Hamburg

BUCH
Nach dem Kolonialismus?
Es ist noch nichts vorbei

von Reinhard Pool


Spricht man in Deutschland über den Kolonialismus, bleiben viele ruhig: Das war ja nur kurz, und das ist schon lange vorbei. Einige wissen vielleicht noch, dass "das" damals, 1919, nicht ganz freiwillig vorbei war: Der Versailler Friedensvertrag legte fest, dass Deutschland als Kolonialmacht ungeeignet sei und deshalb für immer auf Kolonien verzichtet. Aber schon das Foto auf dem Titel, aufgenommen im Oktober 2016 in Berlin, zeigt dass nichts wirklich ganz vorbei ist.

Es sind 28 verschiedene Beiträge, mit denen in diesem Buch belegt wird, dass wir uns in der postkolonialen Phase befinden und nichts vorbei ist. Los geht es mit Beschreibungen, wie die Deutsche Kolonialzeit 1914 endete: Deutschland begann den Ersten Weltkrieg, und entgegen den Beschlüssen der Berliner Kongokonferenz wurde dieser Krieg auch in den Kolonien ausgetragen. Eigentlich hatte man 1885 beschlossen, dass Weiße nicht vor den Augen von Schwarzen miteinander kämpfen sollten, deshalb sollten europäische Kriege nicht in Afrika ausgetragen werden. Wurden sie aber. In Südwestafrika setzten sich die südafrikanischen Truppen bald durch, sie waren auch weit überlegen. In Togo, Kamerun und Qingdao ging es auch relativ schnell, dort waren die deutschen Truppen schwach. In der Südsee gab es überhaupt keine deutschen Truppen.

Lang und blutig wurde der Krieg in Deutsch-Ostafrika, und der deutsche Befehlshaber Lettow-Vorbeck dem Gegner zwar auswich und dadurch den Krieg in die Länge ziehen konnte, aber Hunderttausende Einheimische umbrachte, man geht von bis zu 800.000 ermordeten Zivilisten aus. Das hinderte die Regierungen später nicht daran, ihn auszuzeichnen und auch nach seinem Tod Bundeswehr-Kasernen nach ihm zu benennen, zum Beispiel in Bad Segeberg. Die ist jetzt geschlossen, aber das Gewerbegebiet heißt jetzt liebevoll "LeVo-Park", und das nutzt auch die Landesregierung als Adresse für die Flüchtlingsunterkunft dort, in der zwischendurch auch Polizei-Hundertschaften untergebracht wurden.

In der Zeit der Weimarer Republik gab es eine starke Bewegung für den Wiedererwerb von Kolonien, die Vereine waren noch stärker als am Ende des 19. Jahrhunderts, als es um den Erwerb von Kolonien ging. Sie wurden letztlich vom Nationalsozialismus übernommen. Die Vereine versprachen sich davon einen Auftrieb, sie wurden aber zusammengestutzt: Hitler bekannte sich formell zum "Recht auf Kolonien", es gab auch ein Reichskolonialamt der Partei und später des Staates, das sogar zum Kolonialministerium aufgewertet wurde, es gab auch konkrete Ausbildungen von Siedlern und Soldaten - aber die Zukunft sah Adolf Hitler in der Eroberung von "Lebensraum" im Osten, nicht in Afrika. Die Propaganda für Kolonien wurde schließlich von der Regierung verboten, weil Propagandaminister Goebbels davon ausging, dass das Volk immer nur ein Thema zur gleichen Zeit konsumieren sollte, und das war der Schicksalskampf im Osten.

Später ging die Diskussion über den Kolonialismus erst nach 1968 los. Und da ging es vor allem um "Neokolonialismus", also die ungerechten Handelsbeziehungen nach der Unabhängigkeit der meisten Länder in Afrika. Und es ging um das, was in Deutsch-Südwestafrika 1904 passiert ist und wie man es nennt. Nach mehreren Jahrzehnten erbitterter Diskussionen nennt es die Bundesregierung seit 2015 "Völkermord", der einzig passende juristische Begriff für dieses Verbrechen.

Andere Beiträge befassen sich mit den Menschen, die aus der Kolonialzeit übrig blieben: Schwarze Deutsche. Sie wurden lange ignoriert, überlagert wurde die Diskussion von der Diffamierung schwarzer Soldaten, die auf französischer Seite am Ruhrkampf teilnahmen oder später schwarzen Soldaten in der US-Armee. Aber es gab eben auch Schwarze Deutsche, die aber teils ihre Staatsangehörigkeit in der Nazi-Zeit verloren, einige wurden auch umgebracht - aber eine systematische Verfolgung gab es nicht, einige wurden auch als Schauspieler in Kolonialfilmen gebraucht, wo sie dumme Eingeborene spielten oder treue Askaris, einheimische Kolonialsoldaten.

Erst in diesem Jahrhundert begann die Diskussion über ein sehr dunkles Kapitel des Kolonialismus: Die anthroposophische Forschung. Tausende von toten Afrikanern oder Teile von ihnen, oft Schädel, waren nach Deutschland gebracht werden, um hier die Rassenkunde voranzubringen. Viele kamen wohl aus den Gefangenenlagern, die 1906 und 1907 "im Anschluss oder in der Endphase des Völkermordes entstanden waren und von der deutschen Kolonialverwaltung "Konzentrationslager" genannt wurden. Es gab aber auch viele andere, die teils aus unbekannter Quelle, unbekannter Herkunft, auf unbekannten Wegen nach Deutschland gerieten und die Sammlungen von Krankenhäusern, Universitäten oder Museen bereicherten. Zur Zeit sind erst wenige identifiziert und noch weniger zurückgeführt worden.

Ein großes Kapitel wartet noch auf die Erforschung: Auch die Museen sind voll mit Ausstellungsstücken, die aus Kolonien hierher gekommen sind. Auch hier ist oft unbekannt, ob sie aus Plünderungen oder Raub stammen oder gekauft wurden - und wenn sie gekauft wurden, wie die Handelsbedingungen waren. Denn Einheimische wurden auch oft in unfruchtbare Gegenden verdrängt, um europäischen Siedlern Platz zu machen. Und wenn in den Reservaten Hunger ausbrach, wurden Lebensmittel verkauft oder gegen Kunstgegenstände getauscht. Das sind dann Museumsstücke, die "legal" hierher geraten sind, aber oft ist das überhaupt nicht dokumentiert und schwer nachvollziehbar.

In Berlin ist jetzt ein "Weltkulturmuseum" geplant, dass solche Kunst oder auch Beutekunst aufnehmen soll. Das Konzept ist, wie sollte es anders sein, umstritten.

Marianne Bechhaus-Gerst, Joachim Zeller (Hg.):
Deutschland postkolonial? Die Gegenwart der Imperialen Vergangenheit.
Metropol Verlag, Berlin 2018. 579 Seiten, 29 Euro

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Quelle:
Gegenwind Nr. 371 - August 2019, Seite 45 - 46
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veröffentlicht im Schattenblick zum 4. September 2019

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