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GEGENWIND/770: Buchrezension - "November 1918. Der verpasste Frühling des 20. Jahrhunderts" von Klaus Gietinger


Gegenwind Nr. 359, August 2018

Politik und Kultur in Schleswig-Holstein & Hamburg

November 1918
"Der Frühling des 20. Jahrhunderts"

von Günther Stamer


Wenn die Sozialdemokratie in diesem Jahr des hundertsten Jahrestages des Aufstandes der Kieler Matrosen, Soldaten und Arbeiter gedenkt, so kommt sie nicht umhin, ihr Verhältnis zu einem der Ihren zu klären, der in Kiel und Berlin entscheidend den Verlauf der Novemberrevolution mit geprägt hat: Die Rede ist von Gustav Noske, dessen 150. Geburtstag Anfang Juli war und dessen runder Geburtstag wohl auch wegen der anstehenden "Revolutionsfeierlichkeiten" von der SPD mit Stillschweigen bedacht wurde. Dabei war er doch für einige Wochen Vorsitzender des Kieler Arbeiter- und Soldatenrates und in dieser Funktion der mächtigste Mann der Stadt und Repräsentant der neuen "Arbeiter- und Soldatenmacht". Unter "brausender Zustimmung" der Arbeiter und Matrosen gewählt (wie seinerzeit die sozialdemokratische Presse berichtete), ließ er den "Arbeiter- und Soldatenrat" dann aber schnell in der revolutionären Kulisse verschwinden.


Noske - "deutschnationaler Sozialdemokrat preußischer Prägung"

Als im November 1918 in Kiel die Matrosen und Soldaten revoltierten und die Gewehre umdrehten und die ArbeiterInnen streikten, wurde Noske von seinem Parteivorsitzenden Friedrich Ebert mit dem Auftrag an die Förde entsandt, "Ordnung zu schaffen" und und die revolutionäre Erhebung einzudämmen und zu kanalisieren. Er selbst schrieb dazu in seinen 1920 veröffentlichten Erinnerungen ("Von Kiel bis Kapp"): "Mir wurde bekannt, daß in Kiel revolutionäre Bewegungen vor sich gehen würden. Und weil es in anderen Städten zu solchen gekommen war, in München die Republik ausgerufen wurde, und sich auch in Hamburg die Matrosen und die Arbeiter in den Besitz der öffentlichen Macht gebracht hatten, war uns Sozialdemokraten klar, daß nun die revolutionäre Bewegung unaufhaltsam vor sich gehen würde. Da war ein Lavieren nicht mehr am Platze, sondern es hieß, die Zügel fest in die Hand zu nehmen."

Nachdem er in Kiel seine "Pflicht" erfüllt hatte, wurde er nach Berlin gerufen, um auch dort "Ordnung zu schaffen". Ah Dezember 1918 gehörte er der Ebert-Regierung als Verantwortlicher für sämtliche Marine- und Heeresangelegenheiten an und war damit verantwortlich für die Niederschlagung des Januaraufstandes 1919 (Spartakusaufstand) und die Ermordung Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts.

Nachdem der Offizier Wademar Pabst, der die Morde an Luxemburg und Liebknecht veranlasst hatte, im Jahre 1970 gestorben war, wurde in dessen Nachlass die Abschrift eines Briefes aus dem Jahr 1969 gefunden. Darin schreibt Pabst: "Daß ich die Aktion ohne Zustimmung Noskes gar nicht durchführen konnte - mit Ebert im Hintergrund - und auch meine Offiziere schützen musste, ist klar. Aber nur ganz wenige Menschen haben begriffen, warum ich nie vernommen oder unter Anklage gestellt worden bin. Ich habe als Kavalier das Verhalten der damaligen SPD damit quittiert, dass ich 50 Jahre lang das Maul gehalten habe über unsere Zusammenarbeit." [1]

Nicht umsonst bekam Noske bei seinen Gegnern den Beinamen "der Bluthund". Er selbst schreibt: "In ziemlicher Aufregung, denn die Zeit drängte, auf der Straße riefen unsere Leute nach Waffen, stand man im Arbeitszimmer Eberts umher. Ich forderte, daß ein Entschluß gefaßt werde. Darauf sagte jemand: 'Dann mach du doch die Sache!' Worauf ich kurz entschlossen erwiderte: 'Meinetwegen! Einer muss den Bluthund machen! Ich scheue die Verantwortung nicht!' Ein Beschluss wurde mündlich so formuliert, daß die Regierung und der Zentralrat mir weitgehendste Vollmachten zum Zweck der Wiederherstellung geordneter Verhältnisse in Berlin übertrugen." [2]

Der Noske-Biograf Wolfram Wette charakterisierte Noske als einen "deutschnationalen Sozialdemokraten preußischer Prägung". Gleich in seiner ersten Reichstagsrede, 1907, als das Reich für einen "Platz an der Sonne" aufrüstete, schlug er als SPD-Abgeordneter Töne an, die das Parlament bis dahin von einem sozialdemokratischen "vaterlandslosen Gesellen" noch nicht vernommen hatte: "Wir wünschen, daß Deutschland möglichst wehrhaft ist." Es sei "unsere verdammte Pflicht und Schuldigkeit dafür zu sorgen, daß das deutsche Volk nicht etwa von irgendeinem Volk an die Wand gedrückt wird".


"Ebert-Groener-Abkommen" und "Stinnes-Legien-Abkommen"

Die Rolle Noskes und insgesamt das Wirken der Mehrheitssozialdemokraten unter ihrem Vorsitzenden Friedrich Ebert von 1914 bis Anfang der 20er Jahre beleuchtet ein aktuell erschienenes Buch des Sozialwissenschaftlers und Drehbuchautors Klaus Gietinger.

Nach seiner Überzeugung sind für den Verlauf der Revolutionsereignisse Anfang November 1918 zwei Absprachen führender Sozialdemokraten mit den alten (in den Augen vieler revolutionärer Akteure "geschlagener") Mächten verantwortlich: Zum einen durch das "Ebert-Groener-Abkommen", durch das Ebert sich der Zusage militärischer Rückendeckung durch die Oberste Heeresleitung (OHL) unter Hindenburg und Groener gegen eine "Bolschewisierung" der Revolution versicherte. Groener dazu 1925 im sogenannten Dolchstoßprozeß: "Der Zweck dieses Bündnisses, das wir am 10. November abends geschlossen hatten, war die restlose Bekämpfung der Revolution, Wiedereinsetzung einer geordneten Regierungsgewalt, Stützung dieser Regierungsgewalt durch die Macht einer Truppe und die baldigste Einberufung einer Nationalversammlung." (zit. nach Gietinger, S. 72).

Zum weiteren ist das weniger bekannte "Stinnes-Legien-Abkommen" zwischen den Gewerkschaften und der Schwerindustrie zu nennen. Durch diese Verständigung sicherte Carl Legien als Vorsitzender der Generalkommisssion der Gewerkschaften den Krupps und Thyssens die Besitzrechte an "ihren" Produktionsmitteln weiter zu. Die parallel von der Regierung (dem Rat der Volksbeauftragten) eingesetzte "Sozialisierungskommission" fungierte dabei als Ablenkungsmanöver. Als Brosamen für die Zusicherung der Besitzrechte der Konzerne erhielt Legien den Acht-Stunden-Tag von den Kapitaleignern. Damit setzte die Gewerkschaftsführung ihren konsequenten "Burgfriedenskurs" fort. Bereits am 2. August 1914, also noch bevor sich die SPD über eine Zustimmung zu den Kriegskrediten durchgerungen hatte, erklärten die Gewerkschaften ihren Streikverzicht für die Kriegszeit. Wie groß die Enttäuschung der ArbeiterInnen über ihre eigene Interessenvertretung war, zeigte sich während der großen Januarstreiks 1918, als keine Gewerkschafter in die Streikausschüsse berufen wurden. Aus Sicht der KollegInnen stand die Gewerkschaftsführung schon fest im gegnerischen Lager.

"Der Krieg hatte die Arbeiterbewegung gespalten, und genau das war der Todesstoß für die Novemberrevolution. Die einen wollten der Herrschaft, die diesen Krieg wesentlich verursacht hatte, die Rechnung präsentieren - dies waren die Massen. Die anderen, die Arbeiterbürokraten, die mit ihrem Apparat großen Einfluss in den Betrieben und in der Gewerkschaftsbasis hatten, wollten genau dieses mit einem Bündnis mit jener Herrschaft, insbesondere den Militärs, verhindern. Die russische Oktoberrevolution von 1917 war für beide dabei ein merkwürdiger Fixpunkt. Für die Arbeitermassen in Deutschland hatten die Räte, die 1905 in der ersten - gescheiterten - russischen Revolution entstanden waren und die sich schon im Februar 1917 in großer Zahl spontan erneut gebildet hatten, Vorbildcharakter. Sie wollten nach dem großen Völkerschlachten zuallererst Frieden, ein besseres Leben und erhofften sich dies von der Demokratie, der Sozialisierung und der Zerschlagung des Militarismus. Die Arbeiterbürokratie, die SPD-Führung wie die Gewerkschaftsspitzen "fürchtete sich nicht nur vor dem totalen Umsturz, (...) sondern sie fürchtete sich vor den eigenen Massen, denen sie die Emanzipation absprach", heißt es in Gietingers Buch (S. 20/21).


"Eine Basisdemokratie, wie von den Räten gelebt, bleibt auch 100 Jahre später eine konkrete Utopie"

Gietinger spannt in seinem Buch den Bogen vom Beginn des Ersten Weltkrieges über die Novemberereignisse bis zum Kapp-Putsch 1920. Sein Anliegen: "Der 100. Jahrestag dieser Revolution wird hoffentlich eines bewirken: sie dem Vergessen zu entreißen. Denn die Novemberrevolution 1918 ist der vergessene Frühling des 20. Jahrhunderts." (S. 23).


Sein Fazit lautet:

1. "Die dogmatische SPD-Führung verhinderte die Zerschlagung der OHL und eine Demokratisierung des Militärs, sie widersetzte sich außerdem einer Demokratisierung von unten durch die Arbeiter- und Soldatenräte. (...) Sozialisierung war für sie eine leere Floskel, Parlamentarismus das einzige Ziel. Republikfeindliche Freikorps die Mittel."

2. "Die praktisch parteiungebundene Bewegung von unten scheiterte an der Unkoordiniertheit der radikalisierten Arbeiter, an der Spaltung der Arbeiterklasse in SPD, USPD und KPD."

3. "Den Todesstoß bekam die gesamte Bewegung durch den konzentrierten Einsatz militärischer Gewalt, die staatsterroristische Ausmaße annahm (...). Noske und der Einsatz der Freikorps erreichen hier frühfaschistische Qualitäten, (...) die den Terror in die deutsche Innenpolitik einführten."

4. "Eine Basisdemokratie, wie von den Räten gelebt, bleibt auch 100 Jahre später eine konkrete Utopie, die es, bei Strafe des Untergangs, global zu erfüllen gilt." (S. 203-205)

Abgesehen von einigen begrifflichen Laxheiten (wie z.B. "dogmatische SPD-Führung", "parteiungebundene Bewegung", "frühfaschistisch") und einer sehr abwegigen aktuellen Gewerkschaftskritik (als Beispiel muss der ehemalige VW-Betriebsratsvorsitzende herhalten) lässt sich über Gietingers Schlussfolgerungen aus der Novemberrevolution für zukünftiges linkes eingreifendes Handeln trefflich streiten (Einige Veranstaltungen wie z.B. von IG-Metall, SPD, LINKE, DKP sind im Herbst wohl auch geplant).

Kritisch anzumerken bleibt, dass in Gietingers Buch das Wirken der Konzerne und ihrer politischen Handlanger völlig außen vor bleibt. Bei der Beurteilung der SPD fällt auf, dass er mit keinem Wort auf Wolfgang Abendroths grundlegendes Buch "Aufstieg und Krise der deutschen Sozialdemokratie" (1964) eingeht, das sich ausführlich in einem Kapitel mit "Sozialdemokratie und November-Revolution 1918" befasst und dieses Buch auch in seinem recht umfangreichen Literaturverzeichnis nicht erwähnt.

Der Bremer Sozialwissenschaftler Karl Heinz Roth hat Gietingers Buch ein lesenswertes Vorwort voran gestellt, in dem er der Historischen Kommission der SPD vorschlägt, den Namensgeber ihrer Parteistiftung (Friedrich Ebert) durch eine allseits respektierte sozialdemokratische Persönlichkeit zu ersetzten. Dieser Vorschlag wird zwar keinen Erfolg haben - aber 100 Jahre nach der Novemberrevolution wäre das durchaus ein Zeichen für eine hoffnungsvollere emanzipatorische, solidarische und sozialistische Zukunft.


Klaus Gietinger: November 1918. Der verpasste Frühling des 20. Jahrhunderts, Edition Nautilus, Hamburg 2018, 272 Seiten, 18 Euro


Anmerkungen:

[1] Brief erstmals vollständig abgedruckt in: Klaus Gietinger. Der Konterrevolutionär. Waldemar Pabst - eine deutsche Karriere, S. 394.

[2] Gustav Noske: Von Kiel bis Kapp. Zur Geschichte der deutschen Revolution. Berlin 1920, S. 68.

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Quelle:
Gegenwind Nr. 359, August 2018, Seite 61-64
Herausgeber: Gesellschaft für politische Bildung e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 14. August 2018

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