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GEGENWIND/751: Buchvorstellung - Wirklich verloren? Oder Dolchstoß?


Gegenwind Nr. 356 - Mai 2018
Politik und Kultur in Schleswig-Holstein & Hamburg

Buchvorstellung
Wirklich verloren? Oder Dolchstoß?
Die Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg

von Reinhard Pohl


Ab dem September 1918 brach die deutsche Front in Frankreich und Belgien Stück für Stück zusammen. Millionen Soldaten waren getötet oder verwundet worden, in Gefangenschaft geraten oder so erschöpft, dass sie nicht mehr einsetzbar waren. Jetzt kamen zwei Probleme hinzu: Die Spanische Grippe brach aus, die allerdings auch die französischen, britischen und us-amerikanischen Truppen schwächte. Aber seit dem Sommer 2018 desertierten mehr und mehr Soldaten, weigerten sich anzugreifen. Alle wussten, dass der Krieg verloren war. Mit der Absetzung des Oberkommandos durch die Reichsregierung begann diese, ihre Niederlage zu bestreiten.

Das Buch, gerade erschienen, zeichnet den gesamten Krieg nach. Schwerpunkt ist die Situation rund um Deutschland, während andere Kriegsschauplätze wie die Türkei oder Rumänien nur am Rande vorkommen. Denn der Krieg wurde an der Westfront, also in Frankreich und Belgien entschieden.

Der Autor geht dabei davon aus, dass Deutschland nicht schon zu Beginn des Krieges in einer aussichtslosen Situation war. Es ist umstritten, ob die Kriegserklärung Großbritanniens hätte vermieden werden können, wenn Deutschland die Neutralität Belgiens respektiert hätte (für die Großbritannien bürgte). Der Autor geht davon aus, überdies auch davon, dass der gesamte Krieg hätte vermieden werden können.

Aber selbst nach Kriegsbeginn stand Deutschland zwar im Kampf mit Russland, Großbritannien und Frankreich und im Bündnis mit Österreich-Ungarn. Aber es konnte das Osmanische Reich, die Türkei, als Bündnispartner gewinnen. Diese zeigte sich stärker als vorher von Deutschland vermutet, die Obersten Heeresleitung war davon ausgegangen, es handele sich eher um einen Klotz am Bein. Und Italien sowie Rumänien blieben lange Zeit neutral, ebenso die USA.

Heute erscheint es kaum noch vorstellbar, damals war es real so: Die USA und ihre Neutralität stand gar nicht so unter Beobachtung wie heute. Das Deutsche Reich gewann Bulgarien als Bündnispartner, der zwar vor allem eigene Ziele verfolgte, aber als stärker als die USA eingeschätzt wurde. Auf dem Papier stimmte das, die USA hatten damals kaum eine Armee und auch keine Wehrpflicht. Es stimmte aber nicht, wenn man die Wirtschaftskraft berücksichtigte - und die gab letztlich den Ausschlag.

Der Autor zeichnet den Krieg im Osten und im Westen nach. Er beschreibt Jahr für Jahr die Kämpfe an den verschiedenen Fronten. Alle Kämpfe führten zu horrenden Verlusten aller beteiligten Mächte, es gab zeitweise kaum Bewegung an der Front. Die höheren Verluste hatten meistens die Einheiten, die angriffen. Die Armee, die sich verteidigten, waren meistens im Vorteil.

Schon während des Krieges gab es viele Diskussionen, wie man ihn beenden könnte. Gerade in Deutschland stritten verschiedene Gruppierungen und Fraktionen darum, ob es besser wäre, bedingungslos in Friedensverhandlungen einzutreten, oder ob sich die Opfer "gelohnt" haben müssten, man also zumindest im Osten Land dazu bekam. Hier ging es ab 1916 um den "russischen" Teil Polens, den Deutschland im Sinne des Selbstbestimmungsrechtes der Völker zu einem neuen unabhängigen Polen machen wollte, ohne den deutschen und österreichischen Teilen Polens dasselbe Recht einzuräumen. Letztlich setzten sich diejenigen durch, die nicht ohne Vorbedingungen verhandeln wollten - auf der anderen Seite auch: Die Wiederherstellung der Unabhängigkeit Belgiens sollte genauso vorab klar sein wie die Rückgabe von Elsaß-Lothringen an Frankreich.

2017 gab es widersprüchliche Entwicklungen. Klar wurde allmählich, dass Russland zusammenbrach. Italien war auf alliierter Seite in den Krieg eingetreten, aber Österreich-Ungarn hatte entgegen allen deutschen Befürchtungen die Front halten können. Zwar waren die USA in den Krieg eingetreten, hatten es aber noch nicht geschafft, Truppen über den Ozean nach Frankreich zu bringen. Das deutsche Oberkommando glaubte immer noch, die USA würden es auch nicht schaffen, eine Armee aufzustellen und auszurüsten, während sie einen Großteil der Truppen der Ostfront in den Westen bringen konnten.

Doch es funktionierte nicht. Die vom deutschen Oberkommando immer unterstellte "Überlegenheit deutscher Soldaten", naturgemäß, gegenüber französischen oder britischen Soldaten gab es eben nicht, das galt auch für russische Soldaten. Dort brach das System zusammen, das führte zum Zusammenbruch der Front.

Ausführlich beschreibt der Autor dann das Jahr 1918. Im Frühsommer 1917 hatte es noch eine ganze Reihe deutscher Angriffe gegeben, aber jeder einzelne wurde schwächer, weil die Kräfte erschöpft waren. Anschließend gab es im Spätsommer und Herbst britische und französische Angriffe. Die gab es so 1918 nicht mehr. Alliierte Angriffe gab es, zudem kamen jetzt mehr und mehr US-Truppen an. Aber Deutschland versuchte im Wesentlichen, die Front zu verkürzen und sich auf besser befestigte Stellungen im Hinterland zurückzuziehen - aber oft zu spät und zu langsam, weil das Selbstvertrauen des Oberkommandos größer war als der Realismus.

Letztlich ging der Krieg für Deutschland verloren, weil Deutschland schwächer und die Alliierten stärker waren. Die Proteste in Deutschland und auch in Kiel setzten erst ein, als der Krieg bereits klar verloren war. Ob Deutschland es hätte schaffen können, ungefähr 2016 mit einem "Unentschieden" den Krieg zu beenden, muss natürlich offen bleiben. Der Autor glaubt aber, beide Seiten hätten es zumindest versuchen müssen. Und der Autor glaubt, dass die Überlegenheit der Alliierten keineswegs so groß war, wie es heute in der Rückschau wirkt.


Holger Afflerbach: Auf Messers Schneide.
Wie das Deutsche Reich den Ersten Weltkrieg verlor.

Verlag C. H. Beck, München 2018, 664 Seiten, 29,95 Euro

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Quelle:
Gegenwind Nr. 356 - Mai 2018, Seite 73 - 74
Herausgeber: Gesellschaft für politische Bildung e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 19. Mai 2018

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