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GEGENWIND/684: Was ist "verhältnismäßig"?


Gegenwind Nr. 337 - Oktober 2016
Politik und Kultur in Schleswig-Holstein

POLITIK
Was ist "verhältnismäßig"?
Beitrag zur Diskussion des Verhältnismäßigkeitsprinzips

Von Klaus Peters


An drei Beispielen, der sozialen Gerechtigkeit, der Verkehrspolitik und insbesondere der Energiepolitik, soll diskutiert werden, ob und in welchem Ausmaß Politik, Gesetzgebung, Planung und Genehmigungen mit dem Verhältnismäßigkeitsprinzip,(1) das in der Verfassung der BRD festgeschrieben ist, in Konflikt geraten. Zu untersuchen ist aber auch, welche Konsequenzen daraus gezogen werden und wer in welchen Fällen überhaupt gegen Verstöße vorgehen kann. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip ist nach herrschender Meinung ein, wenn nicht "das" Kernelement eines Rechtsstaats.


Das in der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland enthaltene Verhältnismäßigkeitsprinzip kann grundsätzlich durch politische Entscheidungen, durch Gesetze oder Verordnungen und durch Verwaltungshandeln verletzt werden. Im Vordergrund stehen prinzipiell zunächst Verstöße gegen die Artikel des Grundgesetzes (GG). Viele Artikel des Grundgesetzes sind allerdings mit dem Zusatz versehen, dass "Näheres" durch Gesetze geregelt wird. In diesen Gesetzen geht es dann um Relativierungen und Konkretisierungen. Wäre dies nicht der Fall, müssten Gerichte nahezu über jeden Einzelfall entscheiden, zumindest dann, wenn diese Fälle sich stärker unterscheiden. Noch genauer werden die allgemeinen Vorgaben in Verordnungen oder Verwaltungsvorschriften (Technische Anleitungen, Erlasse usw.).(2) zu den allgemeinen Gesetzen geregelt. Gesetze, Verordnungen oder Verwaltungsvorschriften bzw. deren Inhalte können wiederum gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verstoßen. Schließlich können Verwaltungsakte wie Genehmigungen, Anordnungen oder ablehnende Bescheide wegen des Tatbestands der Unverhältnismäßigkeit angefochten und ggf. für unwirksam oder teilweise unwirksam erklärt werden. Die Unverhältnismäßigkeit kann sich durch fehlerhafte Inhalte und Auslegungen ergeben, die sich auch aus einer nicht vorgenommen Aktualisierung, einer Nichtanpassung an den Stand der Technik, ergeben kann.

Juristische Optionen

In Deutschland ist festgelegt, dass nur bestimmte Organe des Staates oder direkt Betroffene bei Verstößen gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz vorgehen können. Den Bürgern wird in Deutschland gemäß § 42 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) nur der Individualrechtsschutz gewährt, in anderen Ländern ist die Popularklage möglich, das heißt auch nicht betroffene Bürger können in diesen Ländern gegen Verstöße klagen. Eine Ausnahme stellt im deutschen Recht die Verbandsklage dar, die anerkannten Verbänden, die sich für das Gemeinwohl einsetzen, Klagerecht vor Verwaltungsgerichten (bis zum Bundesverwaltungsgericht) zustehen, sofern die in ihrer Satzung festgelegten Ziele und Aufgaben betroffen sind.

Ist der Rechtsweg über die Verwaltungsgerichte erschöpft, besteht für Bürger prinzipiell noch die Möglichkeit, Verfassungsbeschwerde(3) beim Bundesverfassungsgericht einzureichen. Bei allen Verfahren sind Fristen zu beachten. Die Verfassungsorgane (Bundespräsident, Bundestag, Bundesregierung, Bundesrat) haben besondere Rechte, die in Artikel 93 Abs. 1 GG und im Bundesverfassungsgerichtsgesetz geregelt sind.(4)

Definition der Verhältnismäßigkeit und ihre Durchsetzung

Rechtsverbindliche Entscheidungen und Maßnahmen müssen gemäß dem Verhältnismäßigkeitsprinzip angemessen sein. Die Angemessenheit ist durch den Gesetzgeber und die Verwaltung zu bestimmen. Die Gesetzgeber und Verwaltung stützen sich auf frühere oder ähnliche Entscheidungen, auf Kommentare und eventuell auch auf Gutachten. Im Zweifel und auf Antrag werden Gerichte tätig, die die Entscheidungen und deren Grundlagen überprüfen. Ein wesentliches Element der Entscheidungen ist die (richtige) Abwägung(5) von zwei oder mehreren Fragestellungen.

Es ist offensichtlich, dass immer wieder Verstöße gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip vorkommen. Da die Gerichte nur auf Antrag tätig werden und die Klagemöglichkeiten, abgesehen vom Kostenrisiko, beschränkt sind, bleiben Verstöße oft ohne Folgen. Selbst nach Urteilen, werden dem Gesetzgeber oder den Verwaltungen meistens großzügige Fristen eingeräumt. Es kommt auch vor, dass die Umsetzung der Gerichtsurteile unvollständig erfolgt. Hinzu kommt, dass sich die Rechtsphilosophie durch Ergebnisse der Rechtswissenschaft, neue politische Konstellationen oder Entwicklungen im EU-Recht und in internationales Recht ändern kann. Insofern müssen selbst Urteile des Bundesverfassungsgerichts nicht endgültig sein.

Eklatant sind beispielsweise die Verstöße gegen Art. 2 GG (Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit), etwa im Bereich des Straßenverkehrs und in verschiedenen Bereichen des Umweltschutzes oder gegen Artikel 14 (Schutz und Verpflichtung des Eigentums). Zweifelsfragen ergeben sich immer wieder zu Artikel 5 (Meinungsfreiheit) aber auch zu anderen Artikeln, wie dem Artikel 12 (Berufsfreiheit).

Die Bestimmungen in den Artikel des Grundgesetzes oder auch die in Gesetzen werden, wie bereits erwähnt, durch Vorbehalte, wie Verweise auf Gesetze und Verordnungen oder auch durch frühere Gerichtsurteile eingeschränkt. Diese Einschränkungen können wiederum genauer überprüft und gegebenenfalls aufgehoben bzw. verändert werden.

Beispiele: Sozial-, Verkehrs- und EnergiepoIitik

Im Bereich der Sozialpolitik sind durch die Einkommens- und Vermögensungleichheit größte Ungerechtigkeiten, also auch Verstöße gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz unübersehbar. Zwar kommt es gelegentlich zu geringfügigen Korrekturen, doch auch neue Verstöße (Hartz IV-Gesetze) und die allgemeine Einkommens- und Vermögensentwicklung gehen in eine andere Richtung (Umverteilung von unten nach oben). Ein Ansatzpunkt wäre Artikel 14, der zwar auch das Eigentum grundsätzlich schützt, gleichzeitig aber Verpflichtungen des Eigentums gegenüber der Gesellschaft festschreibt. Besonders zu beachten wäre, dass das Eigentum in den Händen einer Minderheit letztlich von den Werktätigen geschaffen worden ist.

Im Bereich Straßenverkehr könnten beispielsweise weit mehr Sicherheitspotentiale genutzt werden, als das der Fall ist. Eine Senkung der zulässigen Geschwindigkeiten oder zumindest ein generelle Begrenzung der Geschwindigkeiten auf Autobahnen wäre offensichtlich verhältnismäßig.(6) Aktuell sind, trotz diverser Gerichtsurteile, wieder einmal Fahrbeschränkungen wegen zu hoher Schadstoffkonzentrationen, die zu vorzeitigen Todesfällen führen (gemäß europäischer Umweltagentur rund 10.000 Fälle allein in Deutschland), zurückgestellt worden.(7) Mehr Sicherheit, Gesundheits- und Umweltschutz wäre zweifellos zu erreichen, wenn Bahn attraktiver werden würde. Diesen Zielen stehen aber auch wirtschaftliche Interessen entgegen. In der Abwägung müssten jedoch gemäß Artikel 5 GG das Leben und die körperliche Unversehrtheit der Menschen Vorrang erhalten.

Die Entwicklungen im Bereich der Energiepolitik sind durch Regierungsbeschlüsse, das Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG), die damit verbundenen Planungen und Genehmigungen in vielfältiger Weise im Hinblick auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz relevant. Dies zeigen insbesondere auch zahlreiche Gerichtsurteile.

Zunächst sind die Ansätze der deutschen Energiepolitik umstritten, da diese nicht oder nur unzureichend innerhalb der EU abgestimmt ist, Grundannahmen anzuzweifeln sind und da sie insofern unverhältnismäßig ist, da sie die erneuerbaren Energien besonders stark fördert. Maßnahmen zur Energieeffizienz und Energiesparmaßnahmen sowie die Ausweitung von Kohlendioxidsenken (Wald- und Moorbildung) aber vernachlässigt. Als unverhältnismäßig kann das hohe Tempo angesehen werden, mit dem die Energiepolitik durchgesetzt werden soll. Analgen zur Nutzung erneuerbarer Energie sind exzessiv ausgebaut genehmigt und ausgebaut worden, obgleich weder Speicher noch Stromtrassen in ausreichendem Umfang zu Verfügung stehen. Das EEG privilegiert private Investoren - dies sind neben Grundbesitzern zunehmend Konzerne -, die Kosten werden von der Masse der Verbraucher getragen. Die Ausnahmetatbestände für bestimmte Branchen sind nicht gerechtfertigt und deshalb auch von der EU, genauso wie die Förderung (wettbewerbswidrige Beihilfe) als teilweise nicht zulässig erklärt worden. Ein wirksames Instrument ist der Emissionszertifikatehandel, der bisher nicht angemessen genutzt worden ist.

Grundsätzlich ist auch zu kritisieren, dass die Energieversorgung als Aufgabe der öffentlichen Daseinsvorsorge weitgehend der privaten Wirtschaft übertragen worden ist. Ansatzpunkt müsste hier eigentlich wieder Artikel 14 des Grundgesetzes sein.

Die Stromnetze sind in den letzten Jahrzehnten ebenfalls privatisiert worden, auch hier wäre zu prüfen, ob Gewinnmaximierung im Vordergrund stehen darf. Die Genehmigung von Gebührenerhöhungen dürfte allein kaum ausreichend sein, um unverhältnismäßige Abhängigkeiten und Gewinne zu verhindern.

Grundsätzlich erscheint es zweifelhaft, ob die Privilegierung von Erneuerbaren Energien, vor allem die Windenergienutzung und die Nutzung der Photovoltaik, gemäß Baugesetzbuch mit dem Verhältnismäßigkeitsprinzip vereinbar sind. Eine derart weitreichende Privilegierung hat es bisher nicht gegeben. Der Vergleich mit der Landwirtschaft ist ungeeignet, da die Landwirtschaft die Nahrungsgrundlagen sichert, traditionelle Landschaften erhält und nur vergleichsweise geringe Einflüsse auf das Landschaftsbild hat. Negative Einflüsse auf die biologische Vielfalt sind bekannt, könnten aber auch ausgeglichen bzw. verhindert werden. Grundsätzlich dürfen Belastungen auch deshalb nicht hingenommen werden, weil andere Belastungen oder Verstöße bereits erfolgt sind (Verweis auf das Strafrecht). Ansatzpunkte wären vermutlich wieder Artikel 14 GG und das Baugesetzbuch (BauGB).

Die Energiepolitik ist auch deshalb nicht verhältnismäßig, weil die angestrebten Ziele nicht erreicht werden können (Kohlendioxidausstoß sinkt nicht signifikant, Energieerzeugung ist hochvolatil). Da der Energieverbrauch vom Ressourcenverbrauch abhängig ist, müsste auch dieser gesenkt werden. Damit müsste gleichzeitig auch eine Begrenzung und Verringerung des Wachstums einhergehen. Inwieweit Klagemöglichkeiten bestehen, wäre näher zu untersuchen. Gegenüber allgemeinen politischen Zielen bestehen diese offensichtlich nicht.

Planung und Genehmigung von Windkraftanlagen

Der Bau von Windkraftanlagen (und auch von Photovoltaikanlagen) ist gemäß § 35 Abs. 1 Nr. 5 (Nr. 8) des BauGB zwar durch Privilegierung auf der gesamten geeigneten Fläche möglich, doch um eine gewisse Ordnung herzustellen bzw. zu erhalten kennt das Baugesetzbuch die Flächennutzungsplanung. In Flächennutzungsplänen der Städte und Gemeinden werden bestimmte Flächen für verschiedene Nutzungen ausgewiesen (üblicherweise sind das vor allem Baugebiete). Durch das Raumordnungsgesetz (ROG) des Bundes werden bestimmte Ziele und Grundsätze der Raumordnung festgelegt, an die die Gebietskörperschaften, die Länder und die Kommunen, gebunden sind. Die Länder haben insbesondere Raumordnungspläne (Landesentwicklungspläne und Regionalpläne) aufzustellen, die durch eine Landschaftsrahmenplanung zu ergänzen sind. Die Länder haben diese Verpflichtungen in Landesgesetze,(8) übernommen und detaillierter festgelegt. In § 6 des schleswig-holsteinischen Landesplanungsgesetzes heißt es, dass die raumrelevanten Inhalte der regionalen und überregionalen Landschaftsplanung zu berücksichtigen sind. In Schleswig-Holstein sind dies das Landschaftsprogramm, das zuletzt 1999 fertiggestellt und bekannt gemacht worden, die Landschaftsrahmenpläne für die verschiedenen Regionen des Landes sind ebenfalls Ende der 1990er Jahre, der Landschaftsrahmenplan für die nördlichen Kreise des Landes im September 2002. Der Landesentwicklungsplan (LEP), früher Landesraumordnungsplan, des Landes Schleswig-Holstein ist 2010 veröffentlicht worden, damals durch das Innenministerium als Landesplanungsbehörde.

Wegen des politisch beabsichtigten weiteren Ausbaus der Windenergienutzung ist dann eine Sogenannte Teilfortschreibung der Regionalpläne erfolgt. Zuletzt legte die Landesregierung eine Teilfortschreibung der Regionalpläne zur Ausweisung von Windeignungsgebieten im Dezember 2012 vor. Gegen diese Teilfortschreibungen sind beim zuständigen Oberverwaltungsgericht in Schleswig 11 Klagen eingereicht worden. Das OVG hat diese Teilfortschreibungen wegen verschiedener nicht unerheblicher Mängel mit dem Urteil vom 20. Januar 2015 für unwirksam erklärt (Aktenzeichen 1 KN6/13 u.a.).(9) Das Gericht stellte u.a. fest, dass die Mängel der Abwägung verschiedener Belange erheblich waren. Das Urteil betraf auch alle anderen, damals 5 Planungsräume. Insgesamt sollten 1,7 Prozent (ursprünglich gemäß LEP 2010 1,5 Prozent) der Landesfläche für die Windenergienutzung ausgewiesen werden. Dies bedeutete eine Verdoppelung der bisher vorgesehenen Fläche.

Die Landesregierung reagierte auf diese Entscheidung mit der Änderung des Landesplanungsgesetzes(10) und mit der Herausgabe verschiedener Erlasse. Mit der Änderung des Landesplanungsgesetzes wurde die vorläufige Unzulässigkeit von Windkraftanlagen festgestellt, gleichzeitig aber Ausnahmen möglich gemacht. Die Wirkung dieser Gesetzesänderung ist auf zwei Jahre befristet und kann um ein Jahr verlängert werden. Gegen diese vorläufige Unzulässigkeit ist wiederum vor dem schleswig-holsteinischen Verwaltungsgericht wegen eines Ablehnungsbescheides, den ein Antragsteller erhalten hatte, von diesem Klage erhoben worden. In dem Urteil vom 10. September 2015(11) stellt das Gericht fest, dass der Anspruch auf Genehmigung nicht entfallen, jedoch suspendiert ist. Abgewiesen worden waren u.a. die mit der Klage vorgebrachten verfassungsrechtlichen Bedenken wegen der Gesetzgebungsbefugnis des Landes, wegen Eingriffen in das Eigentumsrecht gemäß Art. 14 Abs. 1 GG und auch die vorgebrachten Beschränkungen gemäß Art. 12 GG (Freiheit der Berufsausübung). Hier wird explizit auf die Einhaltung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes verwiesen. In der Begründung des Urteils wird auch darauf hingewiesen, dass insbesondere noch Prüfbedarf zu den Abwägungskriterien "charakteristische Landschaftsräume" "Hauptachsen des überregionalen Vogelzuges", "Netzkapazität", "Umzingelungswirkung, Riegelbildung" besteht.(12) Zur Neufestlegung der charakteristischen Landschaftsräume hatte die Landesregierung angekündigt, ein Gutachten in Auftrag zu geben.

Dieses Gutachten hat eine Schlüsselfunktion für die Neuaufstellung der Teilfortschreibung Windenergienutzung.(13) Aufgrund der Aufgabenstellung und auch wegen nicht ausreichender Datenlage sind jedoch Defizite festgestellt worden. Die Gutachter mussten sich, insbesondere auch wegen des Zeitdrucks, fast ausschließlich auf vorhandene, teilweise nicht mehr aktuelle Daten beziehen. Den Schwerpunkt bildet die Untersuchung von Kulturlandschaftselementen und nicht der Natur- und Landschaftsschutz. Die Landräte der Kreise Nordfriesland und Dithmarschen sahen sich deshalb veranlasst, mehrere Teilregionen als Landschaftsschutzgebiete (LSG) sicherzustellen. Die grundsätzlichen Mängel: Fehlen einer aktuellen Kartierung von Kulturlandschaftselementen und Fehlen einer aktuellen Biotopkartierung, sowie das Fehlen aktueller Landschaftsrahmenpläne sind deshalb allerdings nicht behoben.

Diese Mängel sind nun auch bei der Gewährung von Ausnahmen gemäß § 18a des Landesplanungsgesetzes relevant. Ausnahmegenehmigungen dürfen nur erteilt werden, wenn: "die Verwirklichung Ziele der Raumordnung nicht wesentlich erschwert werden". Durch die Behörden des Landes sind zwischenzeitlich gemäß Mitteilung der Landesplanungsbehörde insgesamt 170 Ausnahmegenehmigungen, 50 davon allein im Bereich des Kreises Nordfriesland, erteilt worden.(14)

Da das oben genannte Gutachten erst relativ spät vorlag und Defizite aufweist, die LSG erst einige Monate später sichergestellt worden sind, können Zweifel an der Rechtmäßigkeit an einigen der auffallend zahlreichen Ausnahmengenehmigungen auftreten zu prüfen wäre insbesondere, ob Umweltprüfungen, ggf. ergänzt durch besondere Gutachten, vorgenommen worden sind und ob eine Öffentlichkeitsbeteiligung erfolgt ist. Bestandteile von Prüfungen wäre u.a. festzustellen, ob die Abwägungskriterien: "Hauptachsen des Vogelzuges", die "Netzkapazität", das Abwägungskriterium "Umzingelungswirkung, Riegelbildung", angemessen berücksichtigt worden sind. Grundsätzlich sind alle Kriterien heranzuziehen, die im Planungserlass zur Windkraftnutzung vom 23. Juni 2015 enthalten sind.(15) Offen ist die Frage, ob diese Kriterien bereits ausreichend begründet und rechtssicher sind. Es ist davon auszugehen, dass die Bedeutung der Landschaftsbilder und der Landschaftsästhetik, von Planern und Gutachtern, aber auch von den Richtern, bisher nicht ausreichend erkannt und gewürdigt worden sind.(16)

Eine Beteiligung der Öffentlichkeit ist nach dem Bundesimmissionsschutzgesetz, das bei größeren Anlagen die Genehmigungsgrundlage darstellt, zwar erst bei einer größeren Anzahl von Anlagen erforderlich, sie ist aber auch vor der Inkraftsetzung eines Regionalplanes vorgeschrieben. Da Ausnahmegenehmigungen vor dem Abschluss der Aufstellung neuer Regionalpläne (Teil Windenergie) erteilt werden sollen, müsste also für die einzelne Genehmigung eine Öffentlichkeitsbeteiligung erfolgen.

Im Oktober sollen nun ein überarbeiteter Landesentwicklungsplan und die überarbeiteten Teilfortschreibungen der Regionalpläne vorliegen und veröffentlicht werden. Die Mindestfrist für die Auslegung beträgt 4 Wochen. Nach derzeitigem Stand sind Stellungnahmen innerhalb einer Frist von vier Monaten möglich. Die Öffentlichkeit und anerkannte Verbände sowie verschiedene Behörden (Träger öffentlicher Belange) haben die Möglichkeit, Einwände und Anregungen in die Planung einzubringen. Erfolgen daraufhin wesentliche Änderungen durch die Landesplanungsbehörde, sind die Pläne erneut auszulegen. Werden wesentliche und berechtigte Einwände zu Verfahrensfehlern oder zu materiellen Mängeln nicht berücksichtigt, kann gegen die Planung Klage beim Verwaltungsgericht eingereicht werden. Dabei ist vorab allerdings die Klageberechtigung zu prüfen, die vorgegebenen Fristen sind zwingend zu beachten. Für die Anwendung von Rechtsbehelfen (Klagen) sind die Bestimmungen der Verwaltungsgerichtsordnung maßgebend.

Inwieweit das Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz(17) oder Teile davon Anwendung finden können, bedarf der Klärung. Vom Europäischen Gerichtshof ist mit dem Urteil 15.10.2015 - C-137/14 festgestellt worden, dass mehrere Bestimmungen des Gesetzes vom 8. April 2013 gegen EU-Recht verstoßen. Die Bestimmung, dass Verfahrensfehler nur vorliegen, wenn eine Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP) und eine Vorprüfung vollständig fehlen, verstößt genauso gegen die UVP-Richtlinie und gegen die Industrieemissionen-Richtlinie wie die Bestimmung, dass die Klagebefugnis auf die Einwendungen beschränkt ist, die innerhalb der Einwendungsfrist eingebracht worden sind. Im LEP 2010 wird zumindest auf das UVP-Gesetz Bezug genommen. Nach Auflassung von Rechtsexperten sollen die festgestellten Mängel durch die Gesetzesänderung vom 20. November behoben worden sein.

Für Stellungnahmen, zum neuen Entwurf des LEP und den Teilfortschreibungen der Regionalpläne liegt eine Arbeitshilfe des Vereins Natur und Mensch - Gegenwind SH e.V. vor.

Nachfolgend einige zusätzliche Anmerkungen und Hinweise, die zum Teil auf dieser Arbeitshilfe basieren:

Zweifel bestehen dahingehend, ob die Festlegung auf ein Ausbauziel von 300 % des Strombedarfs (bezogen auf die Nennleistung) des Landes gerechtfertigt und verhältnismäßig ist. Die Bundesländer haben unterschiedliche Ausbauziele festgelegt. Eine Überprüfung der Begründungen wäre angezeigt.

Ferner ist zweifelhaft, ob das Rücksichtnahmegebot gemäß § 35 (5) Satz 1 BauGB bei der Festlegung der Abstände der Anlagen zu Gebäuden und Siedlungen ausreichend beachtet worden ist. Zur Festlegung der Abstände ist insbesondere auch die Technische Anleitung Lärm (TA-Lärm) herangezogen worden, die veraltet ist und den "Stand" der Technik" nicht mehr ausreichend berücksichtigt. Zudem wird die Entwicklung der Gemeinden behindert.

Im Zusammenhang mit, der Festlegung der Abstände aus Gründen des Natur-, Landschafts- und Artenschutzes ist zweifelhaft, ob das Vorsorgegebot nach § 15 des BNatSchG angemessen berücksichtigt worden ist. Insbesondere ist auch erforderlich, ausreichende Pufferzonen vorzusehen und zu beachten, dass sich Vogelzugachsen-, Rast- und Brutgebiete in ihrer Größe und Lage verändern können.

In den Bundesländern weichen die festgelegten Abstände zu Gebäuden und Siedlungen, zu Schutzgebieten oder Verkehrswegen, die Größe von "Windparks" und die Abstände untereinander stark voneinander ab. Mit einer Festlegung einer Mindestgröße von drei Anlagen ist eine angestrebte Konzentration von Anlagen in der Landschaft nicht erreichbar. Es werden offensichtlich auch sehr unterschiedliche Begründungen herangezogen. Unklar ist im Übrigen, was mit den Anlagen geschieht, die außerhalb der Potenzialflächen geschieht - mit 1200 bis über 1300 sind das mehr als die Hälfte der Anlagen auf Potenzialflächen - und welche Folgen diese eklatante Fehlplanung für die Betroffenen hat. Eigentlich wären Entschädigungsansprüche naheliegend. Nach der Festlegung der Vorrangflächen wird sich diese Zahl sehr wahrscheinlich nochmals erhöhen.

Aus dem bisherigen Vorgehen kann geschlossen werden, dass nicht die Energieversorgung und der Klimaschutz sondern die Gewinnerwartung von Investoren im Vordergrund der Planungen steht.

Die Auslegung der Privilegierung nach § 35 BauGB lässt den Schluss zu, dass eine radikale Veränderung und eine Industrialisierung großer Teile der Landschaften erfolgt, die nicht beabsichtigt war. Das auch in gerichtlichen Entscheidungen genannte Erfordernis, "substanziellen Raum" für die Windenergienutzung zu schaffen, könnte etwa auch bei einer Fläche von 0,75 Prozent der Landesfläche erfüllt sein.


Windkraftanlagen (WKA) in SH:

2141 innerhalb der Potenzialflächen 1255 außerhalb der Potentialflächen (Es besteht nur noch Bestandsschutz.)

Quelle: Vortrag Ulrich Tasch, Mitarbeiter der Landesplanung, 27./28. Juni 2016, Fachkonferenz Zukunft Windenergie in Berlin

Nach Inkrafttreten des novellierten EEG wird mit einem möglichen Zubau von 150 WKA pro Jahr für Schleswig-Holstein gerechnet, bisher waren es ca. 300 Anlagen. Auch von dem "300-Prozent-Ziel", das bis 2020 erreicht werden sollte, rückte Albig ab.

Quelle: Aussage von Ministerpräsident Torsten Albig, www.landtag.ltsh.de vom 08.06.2016

In Schleswig-Holstein ist von 6000 MW Nennleistung durch WKA auszugehen. Zusammen ergab sich eine Nennleistung durch Erneuerbaren Energien von 8,1 Gigawatt (Stand: 1. Halbjahr 2015).

In einem Bericht der Landesregierung vom September 2015 wird eine Ausbauerwartung (Szenarienbetrachtung) bis 2025 von 10.500 MW genannt.

Quellen: Energiewende-Überblick, Windenergie, Stand 27.10.2015, www.schleswig-holstein.de; Bericht der Landesregierung "Anwendung des Erlasses zu Windenergie evaluieren", Schleswig-Holsteinischer Landtag, Drucksache 18/3266 vom 8. September 2015

Im Jahr 2014 sind aus Erneuerbaren-Energien 12,4 Millionen Megawattstunden erzeugt worden, das waren 43,3 % an der Gesamtproduktion.

Quelle: www.heise.de vom 26.11.2015

Den Kreisen des Landes ist im November 2008 mitgeteilt worden, dass die Landesregierung beabsichtige, die Fläche der Eignungsgebiete für Windenergienutzung von 0,75 auf 1 Prozent anzuheben. Jetzt werden 2 Prozent angestrebt.

Quelle: Vortrag von Burghard Jansen, Kreis Nordfriesland, vor den Kreistagsfraktionen am 02.06.2016

Die überplante Fläche (Vorrangflächen + Altbestand) dürfte 2 bis 3 Prozent der Landesfläche betragen.

Quelle: Protokoll eines Gesprächs von Mitgliedern des Vereins Mensch und Natur - Gegenwind SH e.V. mit Vertretern der Landesregierung vom 21.07.2016


Fazit der Diskussion des Verhältnismäßigkeitsprinzips:

Gesetzgebung, Verwaltungsbehörden und Gerichte beachten das Verhältnismäßigkeitsprinzip lediglich partiell. Der Verweis auf viele bestehende Unverhältnismäßigkeiten erlaubt es nicht, sich darauf zu berufen und deswegen untätig zu bleiben oder gar weiter gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip zu verstoßen. Die Aufdeckung von Verstößen durch die politische Opposition oder der Medien ist unzureichend. Bezogen auf den Journalismus stellte der in Karlsruhe lebende deutsche Philosoph Peter Sloterdeijk in einem Interview der Zeitschrift Cicero kürzlich sinngemäß fest, der Begriff "Lügenpresse" wäre eine Verharmlosung dessen, was es in diesem Metier gibt. (Nach der Qualität von Aussagen von Politikern ist nicht gefragt worden.)

Die Eingriffs- und Klagemöglichkeiten der Bürger sind durch die Begrenzung auf die subjektive Betroffenheit stark eingeschränkt. Die Verbandsklage bietet nur wenig zusätzlichen Handlungsspielraum. Die Hoffnung ruht auf Nichtregierungsorganisationen, deren Aufklärungsarbeit und deren Aktionen.


Anmerkungen

(1) Wikipedia: "Verhältnismäßigkeitsprinzip (Deutschland)"

(2) Wikipedia: "Verwaltungsvorschrift"

(3) Wikipedia: "Verfassungsbeschwerde" und Bundesverfassungsgericht: "Verfassungsbeschwerde"

(4) Wikipedia: "Organstreit"

(5) Wikipedia: "Abwägung"

(6) Im Jahr 2015 sind 2,5 Millionen Verkehrsunfälle polizeilich erfasst worden. Das waren 4,6 Prozent mehr als im Vorjahr. Die Zahl der Getöteten (3.459) stieg gegenüber dem Vorjahr um 2,4 Prozent. Die Zahl der Verkehrsopfer ist damit das zweite Jahr in Folge gestiegen. Angaben gemäß Pressemitteilung des Statistischen Bundesamtes vom 12. Juli 2016 -242/16

(7) DER SPIEGEL 33/2016, Seite 32/33: "Väter der Plakette"

(8) In Schleswig-Holstein: "Gesetz über die Landesplanung in der Fassung vom 10. Februar 1996 in der Fassung vom 22.01.2014",
www.gesetze-rechtsprechung-sh.juris.de;. Landesplanung - OVG-Urteile Steuerung Windenergienutzung, www.schleswig-holstein.de

(9) Oberverwaltungsgericht für das Land Schleswig-Holstein 1. Urteil zur Teilfortschreibung des Regionalplans 2012 für den Planungsraum I zur Ausweisung von Eignungsflächen für die Windenergienutzung.
www.gesetze-rechtsprechung.sh.juris.de

(10) Gesetz zur Änderung des Landesplanungsgesetzes - Windenergieplanungssicherstellungsgesetz (WEPSG) - vom 22. Mai 2015, veröffentlicht im Gesetz- und Verordnungsblatt für Schleswig-Holstein vom 4. Juni 2015

(11) Schleswig-Holsteinisches Verwaltungsgericht. Beschluss vom 10. September 2015. Az. 6A 190/13, www.openjur.de

(12) Zu diesen Kriterien wie zu anderen auch weitergehende Unklarheiten, die das Verhältnismäßigkeitsprinzip tangieren: Im Bundesnaturschutzgesetz (BNatschG) ist in § 44 ein Tötungsverbot von Wildtieren festgeschrieben, das bei bestimmten Vogelarten auch außerhalb von Achsen des Vogelzuges relevant ist. Anstelle des Netzausbaus kann auch eine Abregelung von Leistungsspitzen in Betracht kommen. Die Betrachtung der Verhinderung einer Umzingelungswirkung und Riegelbildung greift zu kurz. Abgesehen von der Zahl der Anlagen und ihrer Anordnung müssten Entfernung und Größe der Anlagen sowie die Wirkung der Blinkfeuer berücksichtigt werden. Objektive Maßstäbe sind kaum verfügbar. Es wären also mindestens immer Einzelgutachten erforderlich. Auftraggeber dürften jedoch nicht die Antragsteller sein, da Abhängigkeiten der Gutachter zu befürchteten sind. Nach Aussage der Landesregierung (Stand 21.07.2016) soll die Umzingelung allerdings nur bei geschlossen Ortschaften als Kriterium berücksichtigt werden. In der Diskussion ist im Übrigen eine fragwürdige "Ankopplung" von Einzelanlagen an zukünftig nur noch mögliche Gruppen von Anlagen (mindestens drei) auf einer entsprechend großen Fläche. Generell fehlt eine Entschädigungsregelung bei Wertverlusten von Immobilien durch das Aufstellen von Windkraftanlagen.

(13) Erarbeitung einer fachlichen Grundlage zur Abgrenzung von charakteristischen Landschaftsräumen als Ausschlussflächen für die Windenergienutzung, Abschlussbericht vom 25. Februar 2016, erstellt von UmweltPlan GmbH Stralsund, veröffentlicht durch die Landesregierung.

(14) Mitteilung durch die Staatskanzlei, Abt. Landesplanung vom 29.07.2016

(15) Runderlass des Ministerpräsidenten, Staatskanzlei - Landesplanungsbehörde - vom 23. Juni 2015 - StK LPW - Az.500.99

(16) Siehe hierzu: Werner Nohl, Landschaftsästhetik heute, 2015

(17) Wikipedia: "Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz"


Literatur

Wolfgang Zängl
RASEN IM TREIBHAUS
Warum Deutschland ein Tempolimit braucht

Straßenverkehrsunfälle sind eine Alltäglichkeit und obgleich durchschnittlich immer noch fast 10 Menschen täglich ums Leben kommen, wird die Politik kaum aktiv. Die Chancen, mehr Sicherheit durch Anrufung der Gerichte zu erreichen, sind gering.

*

Quelle:
Gegenwind Nr. 337 - Oktober 2016, Seite 50 - 55
Herausgeber: Gesellschaft für politische Bildung e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 29. Oktober 2016

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