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GEGENWIND/673: Schleswig-Holstein - Nur noch vier Erstaufnahmeeinrichtungen für Flüchtlinge


Gegenwind Nr. 335 - August 2016
Politik und Kultur in Schleswig-Holstein & Hamburg

Ankunftszentren, Schließung von Landesunterkünften und 48-Stunden-Asylverfahren:

Nur noch vier Erstaufnahmeeinrichtungen für Flüchtlinge
Landesregierung Schleswig-Holstein verändert Abläufe und Organisation

Von Reinhard Pohl


Schleswig-Holstein wird in Zukunft alle ankommenden Flüchtlinge in Neumünster, Glückstadt, Rendsburg und Boostedt aufnehmen. Die Landesunterkünfte Itzehoe, Kellinghusen, Husum, Lübeck, Albersdorf, Eggebek, Kiel (Nordmarksportfeld) und Kiel (Niemannsweg) werden geschlossen. Die Landesunterkünfte Seeth und Lütjenburg werden ebenfalls geschlossen, bleiben aber als Reserve bestehen. Die geplanten Landesunterkünfte Alt Duvenstedt und Leck bleiben in Planung (als Reserve).


In Neumünster, Glückstadt, Rendsburg und Boostedt stehen 6.500 Plätze zur Verfügung. In Seeth und Lütjenburg können kurzfristig 2.500 Plätze dazu kommen, zusammen also 9.000 Plätze. Da diese Planung von jeweils 2 Personen pro Container ausgeht, könnten in den sechs Unterkünften notfalls auch bis zu 15.000 Flüchtlinge unterkommen.

Die Landesunterkünfte, die jetzt nicht mehr benötigt werden, werden ab sofort durch Weiterverteilung der Flüchtlinge geleert. Danach werden sie abgebaut. Je schneller die Verträge gekündigt werden können, desto eher soll es passieren. Bis zum 31. Dezember 2016 sollen alle endgültig geschlossen sein.


Ankunftszentrum

In Neumünster und in Glückstadt wird es ein "Ankunftszentrum" des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge geben. Hier werden alle registriert und erhalten einen "Ankunftsnachweis" (BüMA), danach werden sie gesundheitlich untersucht. Nach Möglichkeit sollen sie sofort oder am nächsten Tag den Asylantrag stellen und nach ihrem Reiseweg befragt werden. Sie werden dann in vier Gruppen eingeteilt:

Cluster A: Antragsteller aus Syrien, Eritrea und dem Irak (hier nur Jesiden, Christen, Mandäer). Sie sollen nach Möglichkeit auch direkt zu den Asylgründen angehört werden und kurz danach die Entscheidung bekommen, in der Regel eine Anerkennung. Sie werden in der Regel sehr schnell verteilt, manchmal schon nach zehn Tagen. Von den Flüchtlingen, die im ersten Halbjahr 2016 kamen (6.486), fallen 59 Prozent in diese Gruppe (1. Halbjahr 2016: 3.843 Flüchtlinge).

Cluster B: Antragsteller aus Albanien, Kosova, Mazedonien und Serbien. Sie sollen nach Möglichkeit auch direkt zu den Asylgründen angehört werden und kurz danach die Entscheidung bekommen, in der Regel eine Ablehnung. Sie werden nicht auf die Kreise verteilt, sondern bleiben in der Erstaufnahme. Von den Flüchtlingen, die im ersten Halbjahr 2016 kamen, fallen 2,28% in diese Gruppe (1. Halbjahr 2016: 149 Flüchtlinge)

Cluster C: Antragsteller aus Irak (Muslime), Iran, Afghanistan, Russland, Armenien, Türkei, Jemen, Somalia etc.: Sie werden nach Rendsburg oder Boostedt weitergeleitet und dort zu den Asylgründen angehört. Bisher dauert es eineinhalb bis drei Jahre bis zu einer Entscheidung, in Zukunft soll es nur noch sechs Monate dauern. Sie werden nach etwas sechs Wochen verteilt, möglichst erst nach der Anhörung zu den Asylgründen. (1. Halbjahr 2016: 2.494 Flüchtlinge)

Cluster D: Antragsteller aus allen Ländern, die nach dem Dublin-III-Verfahren in einen anderen europäischen Staat zurückgeschickt werden sollen. Sie werden nach Rendsburg oder Boostedt geschickt und von dort aus in den anderen Staat abgeschoben.

Im ersten Halbjahr 2016 kamen 6.486 Flüchtlinge nach Schleswig-Holstein, darunter

2.042 aus Syrien (32%)
1.663 aus Irak (26%)
1.264 aus Afghanistan (20%)
343 aus Armenien (6%)
303 aus Iran (5%)
247 aus Russland (4%)
146 aus Jemen (2%)
138 aus Eritrea (2%)
102 aus Somalia (2%)
66 aus der Türkei (1%)

Wenn man bedenkt, dass im gesamten Jahr 2014 7.620 Flüchtlinge herkamen, dann bedeuten die jetzigen Zahlen keineswegs, dass "kaum noch" Flüchtlinge kommen. Zwar ist die Balkan-Route geschlossen, das bedeutet aber nur, dass die Flüchtlinge jetzt wieder illegal über die Grenze gehen müssen - wie bis Sommer 2015 ebenfalls. Die Gefangenenlager auf den griechischen Inseln bedeuten nur, dass die Flüchtlinge jetzt wieder gefährlichere Routen wählen - wie bis Sommer 2015 ebenfalls.


48-Stunden-Verfahren

Die 48-Stunden-Verfahren gelten für ungefähr 60 Prozent der hier ankommenden Flüchtlinge. Kommen sie aus Syrien, Eritrea oder religiösen Minderheiten aus dem Irak, sollen sie nach der Registrierung und der ärztlichen Untersuchung ihren Asylantrag stellen und die Anhörung dazu am nächsten Tag bekommen. Danach soll sofort die (positive) Entscheidung gefällt werden.

In Wirklichkeit bekommen sie die Anerkennung nicht sofort, weil sie dann das Recht hätten, sich ihren Wohnort selbst auszusuchen. Deshalb werden sie auf die Kreise verteilt, das passiert teilweise schon zehn oder vierzehn Tage nach der Ankunft in Deutschland, der Bescheid wird dann hinterher geschickt.

Der Kreis bekommt dann 2.000 Euro "Integrationspauschale" vom Land und reicht diese, falls es sich um einen Landkreis handelt, an das Amt oder die Gemeinde weiter. Der anerkannte Flüchtling selbst darf allerdings mit der Anerkennung als Flüchtling wohnen wo er will, die meisten zieht es in die Stadt. Nur bei Anerkennung als Kriegsflüchtling muss sie oder er bleiben.

Die "Wohnsitzverpflichtung" ist zwar Anfang Juli im "Integrationsgesetz" verabschiedet worden, im Gesetz stehen allerdings nur die Folgen drin. Das Umzugsverbot selbst muss das Bundesland gesetzlich beschließen, muss allerdings dabei klären, wie die Freizügigkeit in der Europäischen Grundrechtecharta ausgehebelt werden kann. Da ist der schleswig-holsteinischen Landesregierung noch nichts eingefallen, deshalb gibt es zur Zeit noch keine Wohnsitzauflage.

Auch für Flüchtlinge vom Westbalkan soll das 48-Stunden-Verfahren gelten, sie sollen den Ablehnungsbescheid in der Landesunterkunft erhalten und von dort aus ausreisen. Damit soll verhindert werden, dass sie hilfreiche Nachbarn kennen lernen, die ihnen beim Verfahren zur Seite stehen können.

Die Beratung ist ohnehin der große Schwachpunkt der Regelung. Im Ankunftszentrum des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) soll es Gruppenberatungen geben, die die BAMF-Dolmetscher durchführen sollen. Auf Anfrage der Bundestagsabgeordneten Luise Amtsberg erklärte das BAMF allerdings, dass die Dolmetscherinnen und Dolmetscher nicht fortgebildet werden - weder für diese Beratungstätigkeit noch für das Dolmetschen im Asylverfahren selbst. Ausgesucht werden sie einfach danach, wer am billigsten ist: Bekommen DolmetscherInnen normalerweise 70 Euro pro Stunde, sucht das BAMF nur solche, die mit 25 Euro zufrieden sind. Sie bekommen als Selbständige allerdings nur Einzelaufträge ohne eine Beschäftigungsgarantie.

Um die Verfahrensberatung kümmert sich auch der jeweilige Betreuungsverband, in Neumünster und Glückstadt ist es das Deutsche Rote Kreuz. Hier sind für viele neu ankommende Flüchtlinge allerdings nur Gruppenberatungen mit DolmetscherInnen möglich. Es ist nicht möglich, alle einzeln zu beraten. Das ist allerdings im Großen und Ganzen der gleiche Zustand wie vor 2014, als die Flüchtlinge auch erst nach Asylantrag und Anhörung in die Kreise verteilt wurden und den wichtigsten Teil des Asylverfahrens ohne Beratung schon alleine hinter sich bringen mussten.

Der Landesverband der Diakonie, aber auch der Flüchtlingsrat wollen sich darum bemühen, diesen Zustand zu verbessern. Das Land, das von der Konstruktion der Ankunftszentren und dem Beratungsbedarf schon seit Monaten weiß, ist leider nicht aktiv geworden.


Und die C-Flüchtlinge?

Flüchtlinge aus dem Irak (Muslime), aus dem Iran, Afghanistan, Somalia, Jemen, Armenien, Türkei oder Russland gehören zum "Cluster C". Sie werden nach der Asylantragstellung nach Boostedt oder Rendsburg geschickt, dort sind die Außenstellen des BAMF, die für "komplexe Asylverfahren" zuständig sind.

Zur Zeit arbeiten die BAMF-Außenstellen noch nicht, aber ab August sollen sie die Asylverfahren in fünf bis sieben Monaten abarbeiten. Das wäre ein großer Fortschritt gegenüber den jetzigen Zuständen. Zur Zeit müssen afghanische Flüchtlinge 19 Monate, iranische Flüchtlinge 21 Monate und jemenitische Flüchtlinge 36 Monate auf eine Entscheidung warten - und das sind nur die Durchschnittswerte. Genauso, wie es schnellere Entscheidungen gibt, gibt es auch viele, die länger als drei Jahre auf eine Entscheidung warten.

Die Anhörung soll in Zukunft nach Möglichkeit innerhalb der sechs Wochen dauernden normalen Aufenthaltszeit in der Erstaufnahme terminiert werden. Auch das bedeutet, dass kaum eine Beratungsstelle mit Erfahrung in dieser Verfahrensberatung erreicht wird, sondern entweder der Betreuungsverband die Beratung übernimmt oder das Land externe Beratungsstellen finanziert.

Für die Flüchtlinge bedeutet dies, dass muslimische Flüchtlinge aus dem Irak und alle Flüchtlinge aus dem Iran "runtergestuft" wurden: Bisher gehörten sie zu den privilegierten Flüchtlingen, die sich bereits während des Verfahrens im Integrationskurs anmelden und Deutsch lernen durften, weil sie eine gute Bleibeperspektive haben. Das BAMF soll übrigens die C-Flüchtlinge in "C1-Flüchtlinge" (leichte Fälle) und "C2-Flüchtlinge" (komplexe Fälle) einteilen. Die erste Gruppe könnte dann schnell eine (positive) Entscheidung erhalten, die anderen müssen vermutlich länger warten, weil die angekündigten fünf bis sieben Monate Bearbeitungszeit ja der Durchschnittswert sein sollen.


Arschkarte: Cluster D

Im "Cluster D" landen alle Flüchtlinge aus allen Herkunftsländern, die in ein anderes europäisches Land (zurück-)geschickt, also abgeschoben werden sollen. Sie bekommen einen Bescheid, ihr Asylantrag wäre "unzulässig", und zwar vor der Anhörung.

Die meisten Übernahmeanträge gehen anschließend nach Polen und Ungarn. Die meisten Abschiebungen gehen aber in Richtung Italien, weil Italien mehr Rückübernahmen organisieren kann (und will). Dort erwartet die meisten im Gegensatz zu den Dublin-Regeln allerdings kein Asylverfahren, sondern meistens Obdachlosigkeit und ein ungeklärter Aufenthaltsstatus.

Diese Flüchtlinge sollen jetzt zunächst in der Landesunterkunft, also in Rendsburg oder in Boostedt, bleiben, um von dort aus abgeschoben zu werden. Damit wollen Bundesamt und Landesamt wohl die Fälle von Kirchenasyl oder Verwaltungsgerichtsverfahren reduzieren. Da das BAMF drei Monate Zeit für die Nachfrage, das Zielland der Abschiebung dann zwei Monate Zeit für die Antwort, dann wieder das BAMF sechs Monate Zeit für die Abschiebung haben, kann es sich um einen recht langen Aufenthalt in der Erstaufnahme handeln. Im letzten Jahr wurden von ungefähr 45.000 Dublin-III-Fällen am Schluss nur etwa 3.600 Flüchtlinge wirklich abgeschoben, für die anderen wurde nach Fristablauf, also nach ungefähr einem Jahr Wartezeit, die Bundesrepublik Deutschland zuständig.

Wie dieses Lagerleben in der Praxis aussehen soll, ist allerdings noch nicht klar. Auf direkte Nachfrage erklärte der Chef des Landesamtes, Ulf Döhring, längst nicht alle Dublin-III-Verfahren würden wirklich ein Jahr dauern. Das hängt aber in der Regel von einer Entscheidung des Bundesamtes ab, das den "Selbsteintritt" erklärt und damit das Dublin-III-Verfahren abbricht, um das Asylverfahren zu starten. Darauf hat das Landesamt zumindest offiziell keinen Einfluss.


Konzept des Flüchtlingspaktes: Vergessen?

Im Mai 2015 legte die Landesregierung den "Flüchtlingspakt" vor. Danach sollten drei oder vier neue Erstaufnahmeeinrichtigungen gebaut werden, und zwar in den Städten Flensburg, Kiel, Lübeck und Heide. Sie sollten jeweils auf oder an dem Gelände der Universität oder Fachhochschule geplant werden, um den meist bildungshungrigen Flüchtlingen die bestmögliche Ankunft zu sichern.

Die Erstaufnahmeeinrichtungen sollten architektonisch mit Zwei-Personen-Zimmern und Vier-Zimmer-Wohneinheiten auf die Bedürfnisse der Flüchtlinge weitaus besser ausgerichtet werden als es Kasernen oder Container sein können.

Innerhalb der Unterkünfte sollte es sechswöchige "Willkommenskurse" für alle geben, in denen Grundbegriffe der deutschen Sprache und erste Orientierungen für das Leben in Schleswig-Holstein vermittelt werden sollten.

All dies sollte im Herbst 2016 an den Start gehen, so sagte es das gesamte Kabinett per Unterschrift zu. Heute muss man feststellen: In keiner der vier Städte gibt es irgendeine ernsthafte Planung oder Vorbereitung, diese Versprechen umzusetzen. Stattdessen werden alte Kasernengebäude in Glückstadt oder Boostedt, nicht gerade in Uni-Nähe, auf Jahre hinaus weiter genutzt.

Die "Willkommenskurse" von sechs Wochen passen auch nicht auf die Verteilung auf die Kreise nach zehn Tagen, wie sie für die "Cluster-A"-Flüchtlinge seit Mai praktiziert wird.


Wie geht es weiter?

Unklar ist die weitere Verwendung der oft unter hohem finanziellen Aufwand hergerichteten Landesunterkünfte. Während die Containerdörfer in Kiel und Lübeck den Kommunen als "Flüchtlingsheim" angeboten werden, sind die meisten anderen zu abgelegen, um genutzt zu werden. Sie werden wohl abgebaut und das Geld abgeschrieben.

Das Personal wird vermutlich früher oder später entlassen. Zwar wird daran gearbeitet, z.B. Angestellte des DRK mit anderen Aufgaben auf dem Gebiet der Integration zu beauftragen, das ist aber im Konkreten noch völlig unklar. Sie sind auch nicht direkt beim DRK angestellt, sondern bei eigens gegründeten formell selbständigen Betreuungsfirmen des DRK.


... und vor Ort

Seit dem Juni treffen in den Gemeinden und Ämtern Flüchtlinge ein, die das Asylverfahren schon weitgehend hinter sich haben. Sie treffen auf andere, die seit Monaten auf einen Termin zur Antragstellung oder Anhörung warten. Das sorgt hin und wieder für das Gefühl, das BAMF würde ungerecht und willkürlich arbeiten.

Im Gegenzug hat das BAMF zugesagt, alle wartenden Flüchtlinge bis Ende des Jahres 2016 zu bedienen, also in diesem Jahr mehr als eine Million lagernder Asylverfahren zum Abschluss zu bringen. Im ersten Halbjahr wurden 283.236 Bescheide verschickt, rund 1.000 mehr als im gesamten Jahr 2015. Diese Verdoppelung der Arbeitsleistung reicht aber noch lange nicht, im zweiten Halbjahr müssen mehr als 700.000 Bescheide erstellt werden.

Die neue Geschwindigkeit des BAMF führt allerdings auch dazu, dass Fehler passieren. Insofern ist es für freiwillige HelferInnen und Beratungsstellen besonders wichtig, Bescheide aufmerksam zu lesen und dabei mit dem Protokoll der Anhörung zu vergleichen.

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Quelle:
Gegenwind Nr. 335 - August 2016, Seite 4-7
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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. August 2016

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