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GEGENWIND/668: Buchvorstellung - "Niemand ist ein Zigeuner"


Gegenwind Nr. 333 - Juni 2016
Politik und Kultur in Schleswig-Holstein

Buch
"Niemand ist ein Zigeuner"

Von Günther Stamer


Alljährlich am 16. Mai gedenkt der Schleswig-holsteinische Landesverband der Sinti und Roma ihrer Opfer während der Zeit des Hitlerfaschismus sowie der Leiden der Überlebenden. Am 16. Mai deshalb, weil an diesem Tag im Jahr 1940 für die norddeutschen Sinti und Roma die systematische Verschleppung ihrer Familien in die Lager und Ghettos des besetzten Polens begann. Nur wenige der damals rund 2.500 Verschleppten überlebten die Zeit des Faschismus. Insgesamt fielen eine halbe Million Sinti und Roma der gezielten Vernichtung zum Opfer. Seit 1997 erinnert ein Gedenkstein im Kieler Hiroshimapark an dieses Verbrechen, an dem seither das jährliche Gedenken stattfindet.


Matthäus Weiss, Vorsitzender des Landesverbandes der Sinti und Roma, begrüßte in seiner Gedenkrede vor allem die anwesende ehemalige Ministerpräsidentin Heide Simonis, die sich für die Rechte der in Schleswig-Holstein lebenden Sinti und Roma eingesetzt hat und sich auch heute noch für deren Interessen stark macht. So ist Schleswig-Holstein z.B. das einzige Bundesland, dass die Sinti und Roma als in der Landesverfassung anerkannter Minderheit ausdrücklich Anspruch auf Schutz und Förderung zubilligt.

Ein Beispiel: Seit dem Schuljahr 2014/15 werden Kinder und Jugendliche aus Sinti- und Romafamilien von Sintezzas und Sintos betreut, die sich als Bildungsberaterinnen und -berater qualifiziert haben. Sie helfen bei sprachlichen Schwierigkeiten und übernehmen die Hausaufgabenbetreuung. Zugleich informieren sie in den Schulen über die Kultur der Sinti und Roma und schlichten bei Konflikten. Sie sind landesweit tätig und decken den Bereich von der Kindertageseinrichtung über die Grundschule bis zu den weiterführenden Schulen oder den Beruflichen Schule ab.

Gleichzeitig sah Matthäus Weiss aber in Deutschland und Europa gegenwärtig wieder stärker werdende Gefahren heraufziehen. So beklagte er die Massenabschiebungen von Roma-Flüchtlingen in die Westbalkanstaaten. Serbien, Mazedonien, Bosnien-Herzegowina, Kosovo, Albanien und Montenegro gelten nach deutschem Gesetz als "sichere Herkunftsstaaten". "Doch für Roma sind sie es nicht. Dort stehen sie am untersten Ende der sozialen Hierarchie und werden ins soziale Elend zurück geschickt. Rückkehrende Roma erwarten Verelendung, rassistische Übergriffe und Ghettoisierung. Zusätzlich baut Deutschland Druck auf südosteuropäische Staaten auf, damit Roma nicht in der EU um Schutz bitten."

"Über kein Volk in Europa wissen wir so wenig und zugleich so viel Vorurteilhaftes wie über die Roma"

Mit der Geschichte und Gegenwart der Roma und Sinti haben sich hierzulande nur wenige Wissenschaftler intensiv beschäftigt Eine Ausnahme bildet der Berliner Historiker Wolfgang Wippermann (FU Berlin). In seinem jüngsten Buch "Niemand ist ein Zigeuner" beschreibt er Geschichte und Gegenwart der Vorurteile und Diskriminierungen, denen die Roma und Sinti seit Jahrhunderten ausgesetzt sind.

"Über kein Volk in Europa wissen wir so wenig und zugleich so viel Vorurteilhaftes wie über die Roma. Das ist eine jahrhundertelange Indoktrination, und das gehört quasi dann zu unserer Mentalität," so seine Feststellung. Wippermann geht in seinem Buch den Vorurteilen auf den Grund und differenziert religiöse, soziale, romantisierende und rassistische Motive des "Antiziganismus." Das Problem beginnt im Grunde genommen schon bei diesem sich mittlerweile durchgesetzten wissenschaftlichen Begriff, knüpft doch auch dieser an die diskriminierende Fremdbezeichnung "Zigeuner" an.

In der etwa 700-jährigen Geschichte der Sinti / Roma in Europa waren sie spätestens seit Beginn des 16. Jahrhunderts unterschiedlichen Formen von Diskriminierung und Verfolgung ausgesetzt. Dies gipfelte in der Zeit des Faschismus, als eine halbe Million Sinti und Roma aus rassistischen Gründen ermordet wurden. Auch heute noch sind Roma Diffamierung, Diskriminierung und sozialer, ökonomischer und politischer Marginalisierung ausgesetzt und in vielen Staaten eine von der Mehrheitsbevölkerung nicht erwünschte Minderheit. Ein tief verankertes Vorurteil, so Wippermann, führt dazu, dass die etwa zehn bis zwölf Millionen Roma und Sinti überall in Europa ausgegrenzt, diskriminiert und auch verfolgt werden; dass wir sie zurückschicken in vermeintlich sichere Herkunftsländer; und dass kein Aufschrei erfolgt, wenn sie mit Sack und Pack aus Frankreich ausgewiesen werden, wie vor wenigen Jahren geschehen. "Das ist nicht nur ein deutsches Vorurteil, sondern ein europäisches Vorurteil. Europa definiert sich geradezu durch die Feindschaft gegenüber den Roma. Es ist so etwas wie eine europäische Ideologie, ein europäisches Selbstverständnis - und das ist sehr gefährlich."

Geschichte eines verfolgten Volkes

In seinem Buch beschreibt Wippermann anschaulich die Geschichte und Gegenwart dieses verfolgten Volkes: zum Beispiel, dass die ersten Roma im zehnten Jahrhundert aus Indien nach Europa eingewandert sind, und dass sie damals von den Griechen verdächtigt wurden, einer christlichen Teufelsanbeter-Sekte anzugehören. Diese Charakterisierung wurden die Roma, obwohl christlich, seither nicht mehr los.

"Hinzu kommt das soziale Vorurteil, dass sie herumziehende Gauner seien. Und dann wird das alles seit dem 18. Jahrhundert rassisiert. Das heißt, es wird gesagt, diese negativen Eigenschaften sind allen Angehörigen dieses Volkes eigen. Also sie sind von Natur, von Geburt aus, schlecht, diebisch, verbrecherisch und so weiter. Das bezeichne ich als rassistischen Antiziganismus."

Seinen grauenhaften Höhepunkt erlebte der rassistische Antiziganismus in der Zeit des Faschismus. Am 21. September 1939 fand die erste "Zigeunerkonferenz" statt, auf der darüber beraten wurde, wie die "endgültige Lösung der Zigeunerfrage" durchzuführen sei. Beschlossen wurde, die deutschen Sinti und Roma in das sog. Generalgouvernement, d.h. in die Kerngebiete des zerschlagenen polnischen Staates, zu deportieren.

Schätzungsweise wurden bis zu 500.000 Sinti und Roma ermordet. Den Überlebenden wurden dann lange Jahre Entschädigungen vorenthalten; erst Ende 1979 konnten die nur noch wenig überlebenden Sinti und Roma aufgrund eines Beschlusses des Bundestages. eine "Beihilfe" von maximal 5.000 DM beantragen. Das Antragsfrist-Ende für diese "Entschädigung" wurde auf den 31.12.1982 gesetzt. Damit zog die Bundesrepublik - zumindest materiell - einen Schlussstrich unter das Kapitel Wiedergutmachung an den Sinti und Roma.

"Sozialtourismus"

Ausführlich setzt sich Wippermann mit dem Schlagwort vom sog. "Sozialtourismus" auseinander, das vor allem von CDU/CSU, AfD, NPD und "besorgten Bürgern" benutzt wird, um Stimmung vornehmlich gegen bulgarische und rumänische Roma zu schüren. Sie seien angeblich "asozial", "arbeitsscheue Sozialtouristen", die nur auf Kosten des Staates leben wollten.

Der Autor weist zu Recht darauf hin, dass hier der Versuch unternommen wird, das soziale Problem der Armut zu ethnisieren und weist der EU hier große Versäumnisse und Fehler zu und liefert eine erschütternde Bestandsaufnahme der gegenwärtigen Lebensbedingungen der Roma in Osteuropa. "Sowohl die Diskriminierung der Roma in Westeuropa wie ihre Verfolgung in Osteuropa hätte (...) von den europäischen Institutionen und Organisationen verhindert werden müssen. (...) Noch skandalöser ist, dass den europäischen Roma das verwehrt wird, was ihnen als Bürgern eines Staates der Europäischen Union eigentlich und von Rechts wegen zusteht, nämlich die Freizügigkeit, das Recht, von einem europäischen Staat in den anderen und dort zu wohnen und zu arbeiten."

Die Vorzüge des Buches liegen - abgesehen von der Fülle von Informationen - in seiner vom Autor bewusst gewählten gut verständlichen Sprache, einem hilfreichen Begriffs-Glossar, im dem zentrale Begriffe kurz und prägnant erklärt werden und einem umfangreichen Literaturverzeichnis.


Wolfgang Wippermann, Niemand ist ein Zigeuner. Zur Achtung eines europäischen Vorurteils. 256 Seiten, edition Körber-Stiftung, Hamburg 2015, 17,00 EUR

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Quelle:
Gegenwind Nr. 333 - Juni 2016, Seite 49 - 50
Herausgeber: Gesellschaft für politische Bildung e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. Juli 2016

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