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GEGENWIND/653: Zum 125. Geburtstag des marxistischen Politikers und Theoretikers Antonio Gramsci


Gegenwind Nr. 329 - Februar 2016
Politik und Kultur in Schleswig-Holstein & Hamburg

GESCHICHTE
"Brav gewühlt, alter Maulwurf!"
Zum 125. Geburtstag des marxistischen Politikers und Theoretikers Antonio Gramsci

Von Günther Stamer


Bildet euch, denn wir brauchen all eure Klugheit. Bewegt euch, denn wir brauchen eure ganze Begeisterung. Organisiert euch, denn wir brauchen eure ganze Kraft.
(A. Gramsci)   


Antonio Gramsci, am 22. Januar 1891 auf Sardinien geboren, wurde 1913 Mitglied der Sozialistischen Partei Italiens. 1921 hatte er maßgeblichen Anteil an der Gründung der Kommunistischen Partei und war ab 1922 deren Vertreter bei der Kommunistischen Internationale. Im November 1926 wurde er verhaftet und durch ein faschistisches Sondergericht zu 20 Jahren Zuchthaus verurteilt. Todkrank aus der Haft entlassen, ist er im Frühjahr 1937 verstorben. Im Kerker verfasste er seine umfangreichen "Gefängnisbriefe" (1929-1935), die als sein theoretisches Erbe gelten und erst nach 1947 in Italien veröffentlicht werden konnten.


Warum ist Gramsci so aktuell?

In den letzten Jahren - nach dem Zusammenbruch des Sozialismus in Osteuropa und den umfassenden und vielfältigen Krisenprozessen des globalen Kapitalismus - hat das Interesse an seinen Überlegungen deutlich zugenommen. Mit der ab 1991 im Argument-Verlag erschienenen 10bändigen Gesamtausgabe der "Gefängnisbriefe" wurden die theoretischen Gedanken des neben Lenin originellsten kommunistischen Theoretikers des 20. Jahrhunderts erstmalig auch im deutschsprachigen Raum vollumfänglich zugänglich. An der Universität von Havanna (Kuba) gibt es mittlerweile sogar einen eigenständigen Lehrstuhl für die Studien Antonio Gramscis - und ich bin sicher, Gramsci hätte großen Spaß daran, sich in die dortigen Debatten über die widerspruchsvolle Weiterentwicklung des kubanischen Sozialismus einzumischen.

Richten wir den Blick auf den europäischen Raum, so deutet alles darauf hin, dass wir uns in einer längeren Phase der sozialen und politischen Instabilität befinden, in der unterschiedliche politische Kräfte um die Bewältigung der vielfältigen Krisensymptome der global-kapitalistisch dominierten Gesellschaft ringen. Betrachtet man vor dem Hintergrund der gegenwärtigen "Flüchtlingskrise" den europaweit wachsenden gesellschaftlichen und politischen Einfluss rassistischer Ideologien und rechter Parteien, lesen sich Gramscis Warnungen leider erstaunlich aktuell: "Wenn diese Krisen eintreten, wird die unmittelbare Situation heikel und gefährlich, weil das Feld frei ist für Gewaltlösungen, für die Aktivität obskurer Mächte, repräsentiert durch die Männer der Vorsehung oder mit Charisma." (Gefängnisbriefe, Band 7, S. 1578).


Kampf um die Hegemonie

Der Ausgangspunkt von Gramscis theoretischen Überlegungen zur Umgestaltung der Gesellschaft ist die Frage - wie bei Marx und Lenin - die Frage der Macht; wie kann es den bisher unterdrückten Klassen gelingen, die Herrschaft zu übernehmen, um die Gesellschaft nach ihren Vorstellungen zu gestalten. Bei aller Begeisterung für die russische Revolution war er der Überzeugung, dass der entscheidende Durchbruch zum Sozialismus in den entwickelten kapitalistischen Ländern geschehen müsse. Aber dort waren die revolutionären Anläufe - wie in Deutschland November 1918 bis zum Hamburger Aufstand 1923 - allesamt gescheitert. Hier hatte sich der Kapitalismus mit seinen Herrschafts- und Unterdrückungsapparaten diesen Angriffen erfolgreich erwehren und letztlich stabilisieren können.

Gramsci kommt zu der Schlussfolgerung, dass das russische Revolutionsmodell für die "westlichen" Staaten einer Korrektur bedarf. Hier gelte es, vom "Bewegungskrieg" (und dem Frontalangriff) zum "Stellungskrieg" überzugehen. Gramsci knüpft in seinen theoretisch-praktischen Überlegungen dabei an Marx an, insbesondere an "Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte" (MEW Bd 8), in dem dieser den proletarischen Kampfzyklus in Europa in der ersten Hälfte des 19 Jahrhunderts einer eingehenden Analyse unterzog. Marx benutzt dabei das Bild des Maulwurfs, der seine unterirdischen Gänge gräbt: In Zeiten offener Klassenkonflikte kommen sie an die Oberfläche, um sich dann wieder in den Untergrund zurückzuziehen - nicht um dort passiv zu überwintern, sondern um seine Tunnel weiter zu graben, um dann, wenn die Zeit reif ist, an die Oberfläche zurückzukehren. "Brav gewühlt alter Maulwurf."

Daran anknüpfend entwickelt Gramsci seinen "Hegemoniebegriff", der für seine weiteren Überlegungen von zentraler Bedeutung ist. Er versteht unter Hegemonie das umfassende Prinzip der Herrschaftsausübung durch eine Klasse und prägt dies in der eingängigen Formel: "Staat = politische Gesellschaft + Zivilgesellschaft, das heißt Hegemonie, gepanzert mit Zwang." (Gefängnishefte Bd. 4, S. 783).

Für linke gesellschaftsverändernde Kräfte bedeutet das seiner Auffassung nach, dass zunächst der Kampf um die Hegemonie der Ideen gewonnen werden muss, damit die Eroberung der politischen und ökonomischen Macht und die Umgestaltung der Staatsapparate gelingen kann. Der Kampf um Hegemonie muss als Prozess der Herausbildung einer antikapitalistischen Weltanschauung mit neuen gesellschaftlichen Zielvorstellungen sowie individuellen Lebensentwürfen und Verhaltensweisen begriffen werden. Dabei führt er den Gedanken von Marx aus den Feuerbachthesen (MEW Bd. 3) fort, dass jede Veränderung der gesellschaftlichen Zustände mit einer Selbstveränderung der handelnden Subjekte verbunden sein muss: Lernen, politische Praxis und Selbstveränderung müssen eine dialektische Einheit bilden. Die Grundlage dafür, Veränderungsprozesse zu initiieren, setzt dabei eine Analyse des Bestehenden voraus: Sowohl der objektiven Bedingungen, d.h. des Charakters des gegenwärtigen Kapitalismus, wie auch der Kräfte, die zu seiner Überwindung imstande sind.


Linke gesellschaftliche Hegemonie gewinnen - aber wie?

Keine Politikerin verkörperte in den zurückliegenden Jahren die Hegemonie der herrschenden Klasse in Deutschland und Europa stärker als Angela Merkel. Mit dem Strom der Flüchtlinge in die Länder, die maßgeblich für die Fluchtursachen Verantwortung tragen, beginnt der Stern der "Hegemonin" zu sinken. Sowohl in Teilen der herrschenden Eliten, wie auch in Teilen der Bevölkerung bröckelt die Zustimmung zu ihrer Politik. In der SPD herrscht große Ratlosigkeit und Unzufriedenheit. Der SPD und ihrer europäischen Parteienfamilie gelingt es weder bei der Frage der neoliberalen Austeritätspolitik noch beim Thema Flüchtlinge, mit neuen Ideen und überzeugenden Alternativen auf die Sorgen der Bürger zu reagieren. Es bleibt bei einer "politischen Subalternität ohne Machtperspektive" (so Joachim Bischoff im Neuen Deutschland vom 31.12.15).

Europaweit sind wir mit einem Anstieg rassistischer und rechter Ideologie und teilweise dramatischen Stimmenzugewinnen rechter Parteien bei Wahlen in fast allen europäischen Staaten konfrontiert. In Deutschland machen Neonazis, AfD, ...igiden, "besorgte Bürger" bis hin zu öffentlich-rechtlichen wie privaten "Leitmedien" Stimmung gegen Flüchtlinge, Asylbewerber und Bundesbürger mit Migrationshintergrund. Fast täglich brennen wieder Flüchtlingsunterkünfte, werden Flüchtlinge attackiert.

Vertreter der Linkspartei plädieren in dieser Situation für Rot-Rot-Grün als Sammlungsbewegung gegen Rechts. So bezeichnet der frühere Linksfraktionschef Gregor Gysi es als eine "Pflicht", dass die Linkspartei "zusammen mit SPD und Grünen ein linkes Projekt gegen die jetzige Entwicklung Europas und Deutschlands" entwickelt. "Die Linke hat gerade jetzt eine große Verantwortung. Sie muss begreifen, dass wir alle verlieren werden, wenn es uns nicht gelingt, ein funktionierendes, überzeugendes, linkes Projekt gegen die Rechts-Entwicklung in Europa und in Deutschland auf die Beine zu stellen." (Interview im Spiegel, Ausgabe 53 vom 24.12.2015).

An der Frage, wie mehr linke Gegenmacht organisiert werden kann, arbeitet seit nunmehr 25 Jahren auch das Münchner Institut für sozial-ökologische Wirtschaftsforschung. Dieses kleine linke Forschungsinstitut, Ende 1990 gegründet, fühlt sich in Vielem den politischen Ansätzen Gramscis verpflichtet: So im Festhalten an der Fundamentalkritik des Kapitalismus wie in der Erneuerung der marxistischen Theorie und Analyse auf der Höhe der Zeit, insbesondere im Zusammenhang mit dem Umbruch des globalen Kapitalismus und der Herausbildung internationaler Kapitalstrukturen. Besonderes Augenmerk legt das Institut auf die Vernetzung linker antikapitalistischer Ansätze und vor allem auf die enge Anbindung an die Interessen der klassenbewussten KollegInnen bei praktischen gewerkschaftlichen Tagesauseinandersetzungen in den Betrieben und Verwaltungen.

Der aktuelle isw-report enthält unter dem Titel "Wege aus dem Kapitalismus - Die Alternativen entfalten sich nur in sozialen Kämpfen" Artikel einer Vielzahl von WissenschaftlerInnen und AktivistInnen, die sich der Frage widmen, wie und wo es aus dem Kapitalismus herausgehen könnte. (isw-report 103, 56 Seiten, 4,50 Euro zzgl. Versandkosten, www.isw-muenchen.de).

Bettina Jürgensen und Leo Mayer vom organisationsübergreifenden Netzwerk marxistische linke setzen in ihrem Beitrag im isw-report 103 einen anderen Schwerpunkt, als dies Gysi in seinem Spiegel-Interview macht: Sie gehen davon aus, dass die Verschiebung gesellschaftlicher und politischer Kräfteverhältnisse nicht das Ergebnis einer reformorientierten Regierungspolitik ist, sondern umgekehrt stellen Linksregierungen die institutionelle Antwort auf gesellschaftliche hegemoniale Veränderungen dar. Es sind die sozialen Kämpfe, kulturelle Aufbrüche, der Kampf um Würde und Demokratie, die emanzipatorische Politik ermöglichen und linken Regierungen den Weg öffnen. Deshalb zäumt die Debatte über rot-rot-grüne Regierungskonstellationen das Pferd von hinten auf. Denn die strategische Frage lautet: Wie lässt sich die neoliberale Hegemonie, durch die alle Lebensbereiche ökonomisiert und Gewinninteressen unterworfen und das soziale Leben fragmentiert werden, unterlaufen und durchbrechen? Wie lassen sich gesellschaftliche Mehrheiten für eine sozial-ökologische und kulturelle Transformation gewinnen?

Diese Fragen müssten im Zentrum der Überlegungen und des Handelns der politischen und gesellschaftlichen Linken - Parteien, Bewegungen, Gewerkschaften, Intellektuelle, ... - stehen. Es gehe um die Zusammenführung gesellschaftlicher Strömungen - rot, rot, grün, lila. "Dieses Zusammenführen bedeutet nicht 'neue Organisation', obwohl perspektivisch auch eine politische Form gefunden werden muss, die parlamentarische und außerparlamentarische Politik moderaterer und radikalerer Linker, Parteien, Bewegungen, Gewerkschaften besser verbindet; Formen, die in Griechenland und in Spanien schon erprobt werden. Aber das entsteht nicht am Schreibtisch, sondern kann nur aus Experimenten, Erfahrungen und gesellschaftlichen Erfordernissen hervorgehen. Heute geht es jedoch darum, dass die Arbeit an den verschiedenen Orten zusammenfließt, um den Widerstand gegen Austerität, Neoliberalismus und Kriegspolitik zu stärken." Rot-Rot-Grün so begriffen, deutet auch darauf hin, dass es sich um eine langfristige Auseinandersetzung handelt, die nicht mit der Bundestagswahl 2017 entschieden wird."

Und wenn die außerparlamentarische Bewegung diese "Vorarbeit vollbracht hat, wird Europa von seinem Sitz aufspringen und jubeln: Brav gewühlt, alter Maulwurf!" (Marx, MEW Bd. 8, S. 196)


Seine "persönliche Begegnung" mit Gramsci schildert der Schriftsteller Uwe Timm (68er-Aktivist, lange Jahre DKP-Mitglied) in seinem Roman "Rot" (2001) folgendermaßen: "In einem Arbeitskreis über revolutionäre Strategien erwähnte irgend jemand Gramsci und redete ziemlich lang und abstrakt über dessen Hegemonialtheorie. Da stand eine Italienerin auf, sagte, sie wolle etwas erklären, und begann zu singen. Sie sang in diesem öden, mit hölzernen Klappsitzen ausgerüsteten Hörsaal ein italienisches Revolutionslied. Eine wunderbare Stimme, ein Sopran. Zunächst waren alle überrascht, dann, erst einige und leise, schließlich mehr und mehr und immer lauter, klatschten wir Zuhörer den Rhythmus mit. Die Italienerin setzte sich wieder hin. Man wartete auf eine Erklärung, aber sie sagte nichts. Eine Gesangseinlage. Das war Gramsci, sagte sie. Alle sahen sich verwundert an, dann ging man wieder zu den kategorialen Bestimmungen der Kapitalverwertung über. Wir hätten mehr singen, weniger kategorial bestimmen sollen."

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Quelle:
Gegenwind Nr. 329 - Februar 2016, Seite 14-16
Herausgeber: Gesellschaft für politische Bildung e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Februar 2016

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