Schattenblick →INFOPOOL →MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE

GEGENWIND/534: China - Große Literatur und Politik


Gegenwind Nr. 292 - Januar 2013
Politik und Kultur in Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern

Friedenpreis und Nobelpreis für Literatur geht nach China
Große Literatur und Politik

von Edda Lechner



Die Volksrepublik China ist nicht nur für Deutschland zu einem begehrten Wirtschaftspartner geworden, sondern auch für die Europäische Union zu einem erhofften Geldgeber in der Euro-Krise. Erst vor wenigen Wochen - am 11. Oktober 2012 - hat der deutsche Außenminister mit seinem chinesischen Amtskollegen in Berlin eine "Gemeinsame Erklärung" verfasst und sprach bei seinem anschließenden Besuch in Beijing zum 40. Jahrestag der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und der Volksrepublik von einer "Strategischen Partnerschaft", in der China ein "großes Kraftzentrum" geworden sei. China ist mittlerweile der zweitgrößte Lieferant und fünftgrößter Kunde Deutschlands geworden. VW gab kürzlich eine neue Milliardeninvestition bekannt.


Nun hat China auch auf der literarischen Ebene Weitgeltung erlangt: ebenfalls im Oktober 2012 gab die Schwedische Akademie bekannt, dass sie dem chinesischen Schriftsteller Mo Yan (57) für seine Werke mit dem Nobelpreis für Literatur auszeichnen werde. Die Preisverleihung findet traditionell am 10. Dezember in Stockholm statt. Und am 14. Oktober 2012 konnte der Schriftsteller Liao Yiwu in der Frankfurter Paulskirche den "Friedenspreis des Deutschen Buchhandels" entgegen nehmen. Der ehemalige chinesische Kulturminister Wang Meng, der selber schreibt, sieht in der Vergabe des Literaturpreises an den in China lebenden Kollegen Mo Yan, "dass die Welt chinesischen Schriftstellern der Gegenwart und ihren literarischen Leistungen verstärkt Aufmerksamkeit schenke". Zu dem in Berlin lebenden Poeten und Dissidenten Liao Yiwu äußerte man sich in Beijing nicht, auch nahm kein offizieller Vertreter Chinas an der Preisverleihung teil. Ihm wurde hingegen von der bundesdeutschen Presse Anerkennung und Jubel entgegen gebracht. Es waren auf der Verleihung anwesend und klatschten ebenfalls heftig Beifall die offiziellen politischen Vertreter von Bundespräsident Gauck und dem ehemaligen Bundespräsidenten von Weizsäcker über den Fraktionsvorsitzender im Bundestag Kauder (CDU) und den Oberbürgermeister von Frankfurt Feldmann (SPD) bis hin zu den prominenten deutschen Schriftstellerinnen, wie die Buchpreisgewinnerinnen Herta Müller (Nobelpreis für Literatur 2009) und Ursula Krechel (Deutscher Buchpreis 2012). Von der ARD live übertragen und mit Umarmungen versehen.

Was steht hinter diesen widersprüchlichen Reaktionen in der literarisch-politischen Welt und inwieweit ist das auf die unterschiedlichen schriftstellerischen Tätigkeiten oder öffentlichen Positionen von Mo und Liao zurückzuführen?


Nobelpreis für Literatur an Mo Yan

Mo Yan wurde 1955 als Sohn eines Bauern in der Provinz Shandong (Ostküste Chinas) geboren. Während der Kulturrevolution verließ er mit 12 Jahren die Schule und arbeitete in einer Fabrik. Mit 20 Jahren trat er in die Volksbefreiungsarmee ein und begann als Soldat zu schreiben. 1981 gab er eine erste Sammlung von Kurzgeschichten heraus und arbeitete in der Kulturakademie der Armee. Erst 1986 schloss er ein Studium an der Kunsthochschule der Volksbefreiungsarmee ab. Literarische Anerkennung fand er ab 1987 mit seinem Roman "Das rote Kornfeld", das ihm auch gleich internationalen Ruhm einbrachte. Zhang Yimu verfilmte den Stoff und wurde auf der Berlinale 1988 mit dem Bären ausgezeichnet.

Der Roman ist eine Familiengeschichte vor dem Hintergrund des chinesisch-japanischen Krieges in den dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts. "Ich bin nicht mit großer Literatur aufgewachsen, sondern mit den Geschichten der Bauern. In unserer Gegend gab es einige großartige Erzähler, die abends die wildesten Anekdoten zum Besten geben konnten. Wie diese Bauern endlos Geschichten erzählen zu können, war früh mein Traum", schreibt Mo Yun zu seiner Motivation, Schriftsteller zu werden... "Seine Romane sind handlungsprall, volkstümlich, von einer bildsatten, sinnlichen Sprache, äußerst umfangreich. Inspiriert von mündlich tradierten Legenden, von historischen Ereignissen, häufig in der Vergangenheit angesiedelt... Mo Yun umgarnt seine Leser mit phantastischen und drastischen Elementen, hält sie mit Dämonen und anderen übersinnlichen Wesen bei der Stange und beschreibt ausführlich grausame Foltern...", so Spiegel online 11.10.12. Ähnlich den berühmten lateinamerikanischen Werken des letzten Jahrhunderts - bei Garcia Marquez oder Vargas Llosa - entwickelt er inmitten der fassbaren Realität eine Art überhöhten magischen Realismus. Das Feld, die Hirsehalme, die Schnapsbrenner, die Frauen, selbst die mörderischen Soldaten - alles bekommt im sinkenden Abendlicht, in der nicht enden wollenden Qual einen imaginären Glanz. Als Metapher für Leben und Tod.

Auch seine folgenden Werke schreibt er meist "vor Ort" in der Region und dem Dorf seiner Herkunft Gaomi/Shandong und die freie, zügellos drastische Art behält er auch in den folgenden Romanen bei: in "Große Brüste und breite Hüften", "Der Überdruss", "Die Schnapsstadt", "Die Knoblauchrevolte" und "Frosch". Stets setzt er sich mit persönlicher und politischer Grausamkeit auseinander und karikiert deren Betreiber, so nach den Militärmachthabern Japans auch die der westlichen Kolonialisten, die in der "Sandelholzstrafe" eine fürchterliche Foltermethode anwenden. Es entstehen unter den Opfern kaum nachahmungswürdige Helden - auch wenn z.B. Yu Zhan'ao im "Roten Kornfeld" als antijapanischer Held in seinem Dorf verehrt wird - sondern Alltagsmenschen, die in alles verstrickt sind, sich erniedrigen und korrumpieren lassen oder sich rücksichtslos und gewalttätig widersetzen.

Mo Yan hat umfangreiche historische Kenntnisse über sein Land, verfügt aber über eine unintellektuelle Art zu schreiben: "Die Charaktere in meinen Romanen sind alle einheimische Chinesen und meine Sprache ist auch von der chinesischen Charakteristik geprägt." (Interview in Show china.org, Januar 2010). Obwohl es schwer ist, diese Sprache adäquat in andere fremde Sprachen, wie etwa deutsch und englisch, zu übersetzen, ist das - so die Verleger auf der Frankfurter Fachmesse - einer der Gründe, warum er international so interessiert gelesen wird.


Friedenspreis des Deutschen Buchhandels an Liao Yiwu

Liao Yiwu ist ebenfalls in den fünfziger Jahren (1958) zur Zeit der Kulturrevolution geboren, in der chinesischen Stadt Chengdu in Sichuan. In dieser Provinz, ganz im unterentwickelten Westen Chinas, wird seine Familie schwer von der damaligen Hungersnot betroffen. Sein Vater, ein Gegner der Chinesischen Revolution, wird angeklagt, die Frau lässt sich zum Schutz der Kinder scheiden und Liao muss sich jahrelang als Straßenkind ohne Schulbesuch durchschlagen, später als Gelegenheitsarbeiter und Angestellter einer Zeitschrift, die ihn unter anderem mit westlicher Literatur bekannt macht. Obwohl er nach Ende der Kulturrevolution Ende der siebziger Jahre erste Gedichte in offiziellen Literaturzeitschriften veröffentlichen kann und auch in die Riege der "Staatsschriftsteller" aufgenommen wird, bekommt er nicht den gewünschten Studienplatz an der Universität. Trotz der politischen und wirtschaftlichen Liberalisierung Chinas ab Mitte der Achtziger schreibt er bald nur noch in der im Untergrund tätigen Literaturszene. 1987 kommt er auf die "Schwarze Liste" und wird von den Behörden mehrmals verhört und unter Druck gesetzt.

Unter dem Eindruck der zunehmenden Unruhen und dem Eingriff des chinesischen Militärs bei der Massendemonstrationen auf dem Tian'anmen-Platz in Peking verfasst er sein Gedicht "Massaker" ("Frühe Gedichte", hochroth-Verlag, Berlin 2012), verbreitet Kopien und versucht einen Film über die Ereignisse herzustellen. Daraufhin kommt er 1990 für vier Jahre ins Gefängnis. Davon berichtet er in seinem späteren Leben bis heute hin immer wieder: von den Grausamkeiten, den Bestrafungen, den Krankheiten und Selbstmordversuchen. Es geht - anders als bei Mo - nicht um fremde kolonialistische Übergriffe, sondern um die Verfolgung durch den eigenen chinesischen Staat. Auch nach der Freilassung. Seine Aufzeichnungen werden bei Hausdurchsuchungen wiederholt konfisziert, er schreibt seine Erinnerungen stets neu, manchmal tausende von Seiten. Er versteckt sie, fotokopiert sie, gibt sie Freunden ins Ausland mit. Frau und Kind haben ihn verlassen, Freunde wenden sich von ihm ab, seine Verleger dürfen ihn nicht veröffentlichen. Seinen Lebensunterhalt muss er sich als Gelegenheitsarbeiter und Straßenmusiker mit der Flöte verdienen. 1998 verfasst er eine Anthologie zahlreicher chinesischer Dissidenten unter dem Titel "Der Untergang des Heiligen Tempels" und wird erneut in Haft genommen "wegen dem vorsätzlichen Versuch, die Regierung zu stürzen". 2001 veröffentlicht er in "bereinigter" Form in einem chinesischen Verlag "Interviews mit Menschen vom unteren Rand der Gesellschaft", in Deutschland unter dem Titel "Fräulein Hallo und der chinesische Bauernkaiser: Chinas Gesellschaft von unten" (S. Fischer-Verlag Frankfurt 2012) veröffentlicht. Es wird auch in China gelobt und gut verkauft, aber seine weitere schriftstellerische Tätigkeit wird vom Staat dennoch nicht geduldet. Nun beginnt Liao Yiwu, seine Bücher ins Ausland zu bringen, nach Taiwan, Frankreich, Polen, in die USA, was ihm eine Reihe von internationalen Preisen einträgt. Sein Land darf er - wie gewünscht und beantragt - nicht verlassen, auch nicht 2008, als die Frankfurter Buchmesse Chinas Literatur zu ihrem Schwerpunktthema macht und gegen den Protest der offiziellen chinesischen Delegation (inclusive Mo Yun) eine Reihe von Dissidenten mit einlädt (ich würde nach meinem Eindruck allerdings sagen "vorrangig begrüßt").

Schließlich schreibt Liao 2009 nach dem katastrophalen Erdbeben in Sichuan mit 80.000 Opfern die "Chronik des Großen Erdbebens" und seit 2011 veröffentlicht sein deutscher Verlag "Für ein Lied und hundert Lieder", eine weitere Fassung seiner Erlebnisse im Gefängnis. Aber da ist er schon mit Hilfe von Freunden über Vietnam nach Deutschland geflohen und lebt jetzt mit einem Stipendium des Berliner Künstler-Programms von DAAD versehen in Berlin. Hier erreichte ihn im Juni dieses Jahres die Nachricht von seinem "Friedenspreis des Deutschen Buchhandels", den er im Oktober dieses Jahres in der Paulskirche in Frankfurt entgegen nehmen konnte.

Liao Yiwu schreibt in seinen Büchern keine Romane, sondern macht eigentlich Interviews und Gespräche mit den Menschen, die ihm auf der Straße, in den Dörfern oder im Gefängnis begegnen: mit Mördern, Totenliedersängern, Dieben, Menschenhändlern, Wahrsagern, Homosexuellen, Bettlern, Lehrern, Dissidenten, alten Landadligen, Zuhältern, buddhistischen Mönchen und Feng-Shui-Meistern. Zudem "eine großartige Erinnerungsleistung", so die Dichterin Herta Müller. Liao berichtet von der Schikane der Behörden, den Grausamkeiten der Wärter im Gefängnis, den zynischen Folterknechten, aber auch "von der Menschlichkeit derjenigen, die den Tod erwarten und dabei alle Unterwürfigkeit aufgeben." "Selbst die Wachhabenden sind manchmal vor Mitleid ganz hilflos, aber beim kleinsten Ereignis droht der Zerfall der Gemeinschaft". "Er macht seinen geschundenen und geschändeten Körper zum Pergament der Anklage... ein monumentales Epos von eigenem literarischen Rang" (FAZ, 30.7.12).


Gleiches und Gegensätzliches

Mo und Liao sind beide in den Fünfziger Jahren in der Zeit nach der Chinesischen Revolution und der Gründung der Volksrepublik China unter sehr ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen und weisen in der Art ihrer literarischen Darstellung viele Ähnlichkeiten auf. Sie schreiben fast ausschließlich vom Leben und Denken der unteren Schichten der chinesischen Gesellschaft - vom Bettler bis zum Bauern - und geben ihnen eine hör- bzw. lesbare Stimme. So in Liaos Interviews wie auch in Mos Erzählungen. Bei den Schilderungen der persönlichen, polizeilichen oder militärischen Grausamkeiten fällt es oft schwer, weiter zu lesen. Es ist fast unerträglich, es berührt und empört.

Die politische Konsequenz, die beide Dichter aus dem Erfahrenen und Geschriebenen ziehen, sind konträr entgegen gesetzt. Mo widmet sich vor allem dem Schmerz der chinesischen Vergangenheit - weniger dem Zustand von heute. "Er ist Mitglied des Staatlichen Schriftstellerverbandes und als solcher bereit, die Grenzen zu akzeptieren, die ihm die staatliche Zensur setzt", so Mark Siemons, sein amerikanischer Übersetzer aus Beijing. "Doch es wäre verfehlt, ihn für einen Staatsschriftsteller zu halten. Vielmehr hat er eine kaleidoskopische Art des Schreibens erfunden, an deren Vielstimmigkeit, Komik, Archaik, oft auch Obszönität jede Zensur irrewerden muss."

"Ich lebe und arbeite in China", sagt Mo Yan. "Ich schreibe in China unter der Führung der Kommunistischen Partei. Aber meine Werke können nicht von einer politischen Partei eingeschränkt werden." Auch andere Ländern hätten Zensur aus religiösen und ethnischen Gründen. "Natürlich gibt es keine absolute Freiheit in China, einen Roman zu veröffentlichen." Im Vergleich zu den 50er und 60er Jahren sei man aber "überrascht", wie die Beschränkungen nachgelassen hätten (Focus online 11.10.12). In seinem Buch "Der Frosch" (bei Hanser Verlag, 2013) greift er aktuelle Widersprüche im gegenwärtigen China auf: die Ein-Kind-Politik. Seine Tante, eine Frauenärztin, muss mit den zahlreichen Konflikten und Folgen der staatlichen Geburtenpolitik klar kommen, von Zwangssterilisierungen bis zu erzwungenen Spätabtreibungen. "Mo Yan ist natürlich kein Kämpfer; aber bei den großen moralischen Fragen verliert er auch nicht seinen Standpunkt. Ich bin überzeugt, dass der gesellschaftliche Effekt von einem Werk, das die Wirklichkeit derart direkt anpackt und dabei die Seele tief berührt, nicht geringer ist, als der von Parolen und Unterschriften." (schreibt ein chinesischer Blogger)

Wer den Lebenslauf des Schriftstellers Liao Yiwu verfolgt hat - seine ausweglosen Versuche, frei schreiben und veröffentlichen zu können, die nie enden wollende staatliche Kontrolle, das grausame Schicksal in den chinesischen Gefängnissen - der wird verstehen können, warum Liao diesem Land so kompromisslos mit persönlichem Hass und politischer Anklage begegnet. Aber seine politischen Aussagen wird man dennoch auch kritisch betrachten müssen.

In seiner Rede zur Preisverleihung rechnet er mit allem Chinesischen ab. "Menschen morden. Das war die Methode, um das Fundament des neuen Staates zu legen. Darin herrscht eine stillschweigende Übereinkunft von Mao Tse Tung bis Deng Xiaoping... Nach dem Tina'anmen-Massaker setzte sich die blutige Unterdrückung fort, gegen die Angehörigen der Opfer des Massakers, gegen Qigong-Gruppen, Falun-Gong, die Demokratische Liga Chinas, Beschwerdeführer, enteignete Bauern, Arbeitslose, Anwälte, Untergrundkirchen, Dissidenten, die Opfer des Erdbebens von Sichuan, die Unterzeichner der Charta 08, die Anhänger der Jasminrevolution, Tibeter, Uiguren und Mongolen - die Fälle häufen sich und die Tyrannei geht auf hohem Niveau weiter... Das Wertesystem des chinesischen Imperiums ist längst in sich kollabiert und wird nur noch vom Profitdenken zusammengehalten." (Focus online, 14.10.12).

Ein Interview mit dem Börsenblatt-Wochenmagazin für den deutschen Buchhandel, Heft 26-12 heißt es weiter: "Ich betrachte die Entwicklung in China nicht als einen Aufstieg, im Gegenteil. Es gibt sehr viele schwache Menschen dort, für die nichts besser geworden ist. Das Land wird verseucht. Die Menschen kennen überhaupt keine moralischen Grenzen. China ist die größte Müllkippe der Welt... In meinen Augen gibt es keinerlei Hoffnung für dieses Land... Von China geht eine große Gefahr für die westliche Kultur aus..."

Und weiter in der Rede zur Preisverleihung: "Im Altertum waren Tibet, Xinjiang, die Mongolei oder Taiwan für China Ausland... Könnte Tibet einfach ein freies Land sein, das Grenzen mit Sichuan und Yunan teilt, und nicht von einer Diktatur in Peking unterdrückt wird..." "Dieses menschenverachtende Imperium mit den blutigen Händen, die Ursache für soviel Leid in der Welt, dieser unendlich große Müllhaufen muss auseinanderbrechen... Dieses Großreich muss auseinanderbrechen, für den Frieden und die Seelenruhe der ganzen Menschheit..." Schließlich rechnet er auch noch mit seinem Schriftsteller-Kollegen Mo Yan und den ehemaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt ab. Mo sei ein "Staatsautor", der das Regime vertrete, dem es aber nicht um die Menschenrechte im kommunistischen China gehe (am 12.10.12. auf der Buchmesse). Helmut Schmidt warf er "Doppelmoral" vor, weil dieser kürzlich das Pekinger Massaker verharmlost habe.

Es ist kaum möglich und nicht sinnvoll, sich im Einzelnen mit diesen pauschalen Vorwürfen zu befassen. Welche Möglichkeit bieten sie denn, darüber in einen vernünftigen Dialog zu treten? Sie zeugen eher von einer allgemeinen apokalyptischen Weltuntergangsszenerie, die alles zerschlagen will. Dafür findet man Verständnis, angesichts der starken zentralen Macht, die ihn zu beugen versuchte. Aber eine vernünftige kritische Regelung etwa für ein demokratischeres China mit mehr kommunalern oder regionalem Spielraum, ein Staat mit besseren sozialen Versorgungseinrichtungen oder konkret mit mehr Menschenrechten - etwa der Abschaffung der Todesstrafe - das alles steht bei ihm nicht zur Debatte. Von daher ist seine literarische Leistung zu recht gewürdigt worden, sein politischer Standpunkt ist nur kaum akzeptabel. (siehe unsere Untersuchungen zur chinesischen Staatsform, Wirtschaft, Politik und Religion in den Politischen Berichten Nr. 8/2008 und Nr. 11 und 12/2011).


Schriftsteller werden instrumentalisiert

Das betrifft sowohl den chinafeindlich eingestellten Liao, als auch den gemäßigten Staatsfreund Mo. Aber ich will vor allem diejenigen noch einmal ins Auge fassen, die sich um die Dichter versammeln, sie durch Preisvergaben belobigen oder tadeln und ihnen durch Presse und Medien öffentlich Anerkennung zollen. An der Preisvergabe des Deutschen Börsenvereins an Liao Yiwu lässt sich leicht ablesen, dass dieser für die Politiker in der Bundesrepublik von Nutzen sein kann. Allerdings nur auf den zweiten Blick.

Einerseits - wie oben dargestellt - ist es für die Wirtschaft und die Regierung in der Bundesrepublik - vom Außenminister über Kanzlerin Merkel bis zur Börse - unerlässlich, wirtschaftlich gute Beziehungen zu diesem wachsenden Wirtschaftsgiganten zu halten und mit ihm Handelsaustausch in Waren und Kapital zu betreiben. Dabei braucht man sich um Fragen der Menschenrechte nicht zu scheren. Bei den Handelsbeziehungen mit anderen - etwa den europäischen oder amerikanischen - Ländern natürlich auch nicht. Nur dass ein solches Statement denen gegenüber auch gar nicht - zumindest nicht in der bundesdeutschen Presse - gefordert wird. Spricht Merkel so zu Obama über Guantanamo?!

Andererseits stärken die Banken, Wirtschaftsbosse und Politiker zugleich auch die Kräfte, "die langfristig als innere Bündnispartner gegen Beijing in Frage kommen", so analysiert es ausführlich das online-Informationsblatt German-Foreign-Policy.com, das hier ausführlich zu Wort kommen soll: "Liao Yiwu kann dabei in doppelter Hinsicht als beispielhaft gelten. Zum einen spricht er sich dafür aus, China aufzuspalten, und schließt sich damit Sezessionisten an, die die Bundesrepublik schon in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre an sich zu binden begonnen hat. Bei diesen handelt es sich vor allem um die alten feudalen Herrschercliquen aus Tibet um den Dalai Lama, die in den 1950er Jahren entmachtet wurden, sich in ihrem anschließenden Untergrundkrieg gegen Beijing ungeachtet umfassender Hilfen aus dem Westen - vor allem seitens der CIA - nicht durchsetzen konnten und heute vom Exil im indischen Dharamsala aus ihren Kampf gegen die Volksrepublik weiterführen. Zudem widmet Berlin seit geraumer Zeit den sezessionistischen Aktivitäten der Uiguren im westchinesischen Xinjiang erhebliche Aufmerksamkeit.

Andererseits scheint Liao aus Berliner Sicht geeignet, in Milieus einzudringen, die man langfristig ebenfalls gegen die chinesische Regierung in Stellung bringen zu können hofft: aufstrebende, eher urban geprägte Mittelschichten, deren stetig zunehmende Profit- und Machtinteressen sie dereinst veranlassen könnten, sich mit Liberalisierern aus dem Westen gegen Beijing zu verbünden. Dieser Gedanke liegt den seit einigen Jahren zu beobachtenden Bemühungen Berlins zugrunde, unter den chinesischen Bürgerrechtlern und unter dem Westen gegenüber offenen Kulturschaffenden Partner zu gewinnen - sie könnten auf lange Sicht günstige Zugänge zu den aufstrebenden Mittelschichten erschließen. Daraus erklärt sich die deutsche Unterstützung für den Friedensnobelpreisträger des Jahres 2010, Liu Xiaobo, der China nicht völlig aufspalten, aber doch in einen lockeren Verbund relativ eigenständiger Einheiten ("Bundesrepublik") umwandeln will. Auch die deutsche Sympathie für den chinesischen Künstler Ai Weiwei, der in der Volksrepublik wie Liu in Konflikt mit den Behörden steht, entspringt dem Wunsch, Verbündete in den kulturell interessierten Mittelschichten zu gewinnen. Liao Yiwu, der China zerschlagen sehen will und deshalb jetzt mit einem deutschen Friedenspreis ausgezeichnet worden ist, fällt in dieselbe Kategorie." (German-Foreign-Policy.com, 16.10.2012)

Die angesichts der Forderungen "China muss zerschlagen werden" begeistert klatschenden bundesdeutschen Politiker und Pressevertreter - Bundespräsident Gauck vorne weg - haben dabei bestimmt überhört, dass Liao immerhin auch die Bundesrepublik nicht mit seiner Weltmoral verschonte, indem er sagte:

"... Unter dem Deckmantel des freien Handels machen westliche Konsortien mit den Henkern gemeinsame Sache, häufen Dreck an. Der Einfluss dieses Wertesystems des Drecks, das den Profit über alles stellt, nimmt weltweit überhand... Immer mehr Chinesen werden feststellen, dass es auch im demokratischen Westen weder Gerechtigkeit noch Gleichheit gibt und auch dort habgierige Funktionäre und andere Profitgeier sich schamlos nach dem Muster: 'Dem Sieger gehört die Beute' verhalten..."

Hat vielleicht auch die schwedische Akademie der Wissenschaften bei Nobel-Preisverleihung solche oder ähnliche politische Ambitionen, die ihre literarischen Entscheidungen beeinflussen? Warum hat sie sich dann dieses Mal für den "staatstreuen" Schriftsteller Mo Yan entschieden, nachdem sie 2010 den oben genannten Dissidenten Liu Xiaobo bevorzugte? FAZ.net vom 11.10.12. überlegt, dass die Akademie gerade weil sie 2010 einen chinesischen Dissidenten für den Friedensnobelpreis nominierte, unter chinesischen Druck geraten ist und dieses mal einen taktischen Ausgleich schaffen musste. "Oder handelt es sich im Gegenteil einmal um eine besonders souveräne Entscheidung, die sich von nationalen und anderen kollektiven Zugehörigkeiten nicht in ihren Qualitätsurteil irremachen lässt?"

Wie dem auch sei - eins steht trotzdem fest: die beiden chinesischen Schriftsteller sind Klasse und wert gelesen zu werden.


Liao Yiwu: "Für ein Lied und hundert Lieder.
Ein Zeugenbericht aus chinesischen Gefängnissen",
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2011,
ISBN 3-596-19000-2; 24,95 EUR

Mo Yan: "Das rote Kornfeld", Unionsverlag,
ISBN 3-293-20383-3; 12,90 EUR


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Mo Yan's Roman "Das rote Kornfeld" wird von Zhang Yimu verfilmt und gewinnt 1988 den Preis der Berlinale
- Liao Yiwu mit seinem Buch "Für ein Lied und hundert Lieder"

*

Quelle:
Gegenwind Nr. 292 - Januar 2013, Seite 60-63
Herausgeber: Gesellschaft für politische Bildung e.V.
Schweffelstr. 6, 24118 Kiel
Redaktion: Tel.: 0431/56 58 99, Fax: 0431/570 98 82
E-Mail: redaktion@gegenwind.info
Internet: www.gegenwind.info
 
Der "Gegenwind" erscheint zwölfmal jährlich.
Einzelheft: 3,00 Euro, Jahres-Abo: 33,00 Euro.
Solidaritätsabonnement: 46,20 Euro


veröffentlicht im Schattenblick zum 2. März 2013