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DAS BLÄTTCHEN/988: Das nukleare Menetekel


Das Blättchen - Zweiwochenschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft
Nr. 17/2009 vom 17. August 2009 und 18/2009 vom 31. August 2009

Das nukleare Menetekel

Von Wolfgang Schwarz


Am 5. Dezember 2009 endet mit dem 1994 in Kraft getretenen START-I Vertrag das erste Abkommen zur Abrüstung strategischer Nuklearwaffen mit Reichweiten über 5.000 Kilometer und zugleich das letzte Rüstungskontrollabkommen, das die USA und Rußland unter Dach und Fach gebracht, vertragskonform realisiert und dessen Verwirklichung sie auch im notwendigen Umfang verifiziert haben. START II, unterzeichnet am 3. Januar 1993, wurde von Rußland nicht rechtskräftig ratifiziert und nach dem einseitigen Ausstieg der USA aus dem ABM-Vertrag zur Begrenzung der Raketenabwehrsysteme im Juni 2002 offiziell aufgegeben, um unter anderem nicht an das darin enthaltenen Verbot von landgestützten Interkontinentalraketen (ICBMs) mit Mehrfachsprengköpfen gebunden zu sein. Die vereinbarten Verhandlungen über ein START-III-Abkommen kamen gar nicht mehr zustande. Und das sogenannte SORT-Abkommen (Strategic Offensive Reduction Treaty) vom Mai 2002 schließlich haben zwar beide Seite ratifiziert und damit eine Reduzierung ihrer strategischen Arsenale auf je 1.700 bis 2.200 stationierte Sprengköpfe bis Ende 2012 vereinbart. Das Abkommen enthält aber keinerlei technologische Beschränkungen - etwa ICBM mit Mehrfachsprengköpfen betreffend -, klammert Reservegefechtsköpfe aus, und es wurde keine Einigung über die Verifikation nach Ablauf von START I erzielt. Vor dem Hintergrund dieser und anderer internationalen Entwicklungen beschrieb der amerikanische Präsident Barack Obama das nukleare Menetekel über den Häuptern unserer und nachfolgender Generationen in seiner Rede in Prag am 5. April zutreffend folgendermaßen: »Der Kalte Krieg ist zu Ende gegangen. Und Tausende dieser (nuklearen - W. S.) Waffen existieren weiter. Es ist eine seltsame Wendung der Geschichte: Die Gefahr eines weltweiten Atomkrieges hat sich verringert, das Risiko eines atomaren Angriffs ist gestiegen. Mehrere Nationen haben solche Waffen entwickelt, die Tests gehen weiter, der Handel mit spaltbarem Material auf dem Schwarzmarkt blüht.« Die Hauptverantwortlichen für diese Sachlage hat Obama in Prag allerdings nicht benannt: die USA und Rußland, die zusammen über etwa 95 Prozent aller Kernsprengköpfe verfügen, und die anderen Nuklearmächte der ersten Generation - Großbritannien, Frankreich und China. Drei dieser Mächte (USA, Sowjetunion, Großbritannien) haben der Welt zwar den Atomwaffensperrvertrag von 1968 beschert, der das Aufkommen weiterer Nuklearmächte verhindern sollte, und die beiden anderen sind diesem Vertrag später beigetreten, aber alle zusammen haben sie sich viel zu inkonsequent (USA, Rußland) oder gar nicht (die drei anderen) an die in Artikel VI verankerte, zuvorderst für die Atommächte geltende Verpflichtung gehalten, »in redlicher Absicht Verhandlungen zu führen über wirksame Maßnahmen zur Beendigung des nuklearen Wettrüstens in naher Zukunft und zur nuklearen Abrüstung sowie über einen Vertrag zur allgemeinen und vollständigen Abrüstung unter strenger und wirksamer internationaler Kontrolle«.

Hinzu kamen laxe, wenn nicht wohlwollend ignorierende oder wirkungslose, weil nicht gemeinsame Reaktionen des Atomclubs auf die nuklearen Ambitionen solcher Länder wie Israel, Indien und Pakistan. Im Falle Israels hat Frankreich - vor seinem Beitritt zum Atomwaffensperrvertrag - sogar entscheidende nukleartechnische Anlagen geliefert. Und im Falle Indiens haben die USA praktisch die Adelung von der illegalen zur offiziellen Atommacht vollzogen. Unter Experten ist kaum umstritten, daß all dies die nuklearen Bestrebungen Nordkoreas und Irans zusätzlich befeuert und das internationale Atomwaffensperrvertragsregime an den Rand des Scheiterns, wenn nicht de facto bereits darüber hinaus gebracht hat. Schon die turnusmäßige Überprüfungskonferenz aller mittlerweile über 180 Mitgliedsstaaten im Jahre 2005 war ohne Ergebnis zu Ende gegangen, und auch die Aussichten für die nächste Konferenz im Frühjahr 2010 geben zur Zeit keinen Anlaß zu Optimismus. Insofern kam Obamas Bereitschaftserklärung in Prag, »den Frieden und die Sicherheit in einer Welt ohne Atomwaffen anzustreben« - diesen Gedanken hatte er im Grundsatz bereits als Präsidentschaftskandidat in seiner Berliner Rede vom 7. Juli 2008 formuliert - im Hinblick auf das NPT-Regime eher fünf nach als fünf vor zwölf.

Daß Obama bereit scheint, den Worten Taten folgen zu lassen, und Rußland einem Nachfolgevertrag für START I ebenfalls grundlegend positiv gegenüber steht, legen zumindest die zwischenzeitlich dazu begonnenen bilateralen Gespräche nahe. Deren Ausgangspunkt ist der Status quo, der sich nach Angaben des US-Außenministeriums - mit Stand vom 1. Januar 2009 - folgendermaßen darstellt: Rußland verfügt noch über 814 strategische Trägerraketen und 3.909 Gefechtsköpfe. Dem stehen auf amerikanischer Seite 1198 Raketen und 5.576 Gefechtsköpfe gegenüber. Unter Berücksichtigung der größeren Startmasse des russischen Arsenals betrachten Experten dieses Größenverhältnis als gleichgewichtig, als strategische Parität.

Die Strategische Parität ist der Schlüsselbegriff aller bisherigen russischamerikanischen Abrüstungsansätze im nuklear-strategischen Bereich. Dahinter steht die traditionelle, symmetrieverhaftete Abschreckungslogik: Beide Seiten verfügen über vergleichbar große beziehungsweise schlagkräftige Arsenale, was deren Einsatz gegeneinander verhindert, ergo Krieg verhütet, solange die Akteure rational handeln - denn unter diesen Bedingungen stirbt als zweiter, wer als erster schießt. Der vernichtende Gegenschlag ist nicht zu verhindern. Diese Logik war zugleich auch einer der Motoren des Wettrüstens, weil in irgendeinem Teilbereich immer einer von beiden die Nase vorn hatte und der andere dann »nachrüstete« - im Namen der Parität. (Teile des politisch-militärischen Establishments der USA und der ihnen nahestehenden Think Tanks glauben allerdings offenbar bis zum heutigen Tage, daß diese Patt-Situation durch eine technologisch herbeizurüstende sogenannte Erstschlagskapazität - die Fähigkeit, Rußland überraschend angreifen und sein nukleares Vergeltungspotential komplett ausschalten zu können -, überwindbar wäre. Siehe dazu Wolfgang Schwarz: Raketenabwehrschach, Das Blättchen, 4/2009)[*].

Ein Paradigmenwechsel hin zu einer asymmetrischen Kriegsverhütungsabschreckung würde völlig neue Spielräume selbst für weitreichende einseitige Abrüstungsschritte eröffnen. Nehmen wir Rußland: 50 - und diese Zahl ist willkürlich hoch angesetzt - landgestützte Interkontinentalraketen (ICBMs), programmiert auf die 50 größten amerikanischen Städte, würden jede amerikanische Regierung davon abhalten, Rußland nuklear anzugreifen. Mit weiteren 50 ICBMs gegenüber China und je zehn gegenüber Großbritannien und Frankreich wäre eine vergleichbare Abschreckungswirkung zu erzielen. Diese Quantitäten könnte man vorsichtshalber verdoppeln, etwa um Sicherheitsneurotikern im eigenen Land Wind aus den Segeln zu nehmen. Fazit: Mit nicht mehr als 240 ICBMs könnte Rußland den gesamten Club der alten Atommächte in Schach halten, solange man dies für nötig hält. Auf den übergroßen Rest seiner landgestützten Langstreckenraketen sowie auf sämtliche Raketen-U-Boote und Langstreckenbomber könnte Rußland ohne Einbußen hinsichtlich einer wirksamen Kriegsverhütungsabschreckung verzichten.

Leider ist in Moskau noch niemand auf diese Idee gekommen, obwohl der damalige Präsident Wladimir Putin Ende der neunziger Jahre gegenüber der Duma mit dem Argument für die Ratifizierung von SALT II geworben hatte, Rußland könne sich die Aufrechterhaltung der strategischen Nuklearwaffenauf SALT-I-Niveau wirtschaftlich nicht leisten. Und auch von seiten der USA ist ein derart radikaler Paradigmenwechsel nicht zu erwarten. Zwar hat Obama in Prag zugleich auf die Notwendigkeit verwiesen, »eine Reduzierung der Rolle der Nuklearwaffen in unserer eigenen nationalen Sicherheitsstrategie« herbeizuführen, aber bisher gibt es keine Anhaltspunkte dafür, daß dies zu einer Revolution im militärstrategischen Denken in den USA führen könnte.

Um so wichtiger ist es, daß beide Seiten ihre Vorstellungen über Eckpunkte eines Start-I-Nachfolgeabkommens inzwischen präzisiert haben. Beim Besuch Obamas in Moskau Anfang Juli kam man überein, die Anzahl der strategischen Atomsprengköpfe in den kommenden sieben Jahren auf maximal 1675, vielleicht sogar auf 1500 abzusenken. Bei den Trägersystemen wird eine Obergrenze zwischen 500 und 1100 Raketen anvisiert. Die abschließende Festlegung der Zahlen wurde an die verhandelnden Experten verwiesen. Beiden Seiten, das hatte Obama bereits in Prag unterstrichen, sind bestrebt, zu einer rechtsverbindlichen Übereinkunft noch in diesem Jahr zu gelangen.

Ob sich diese Eckpunkte in der bis zum 5. Dezember verbleibenden Zeit tatsächlich bis zu einem unterschriftsreifen Abkommen ausverhandeln lassen, wird von manchen Beobachtern, und zwar auf beiden Seiten, bezweifelt, weil in den Details der Materie mehr als nur ein Teufel lauert. So könnte die russische Forderung, daß die USA bindend auf die Pläne zur einseitigen Errichtung neuer Raketenabwehrkapazitäten verzichten, zum Stolperstein werden. Sollte Rußland diese Frage in der jetzigen Phase jedoch tatsächlich zum Junktim aufbauen, würde dies grundsätzliche Zweifel am tatsächlichen Interesse des Landes an weiterer strategischer Abrüstung und an einer Beibehaltung und Stärkung des Atomwaffensperrvertrages provozieren. Mit den jetzt anvisierten Obergrenzen nämlich wäre noch auf Jahrzehnte jedes denkbare neue Raketenabwehrsystem eines potentiellen Angreifers überfordert, einen russischen Gegenschlag mit Sicherheit auszuschließen. Ein Junktim ließe sich daher, wenn überhaupt, erst in einem späteren Abrüstungsstadium rechtfertigen - und auch dann nur, wenn die USA an ihren Plänen festhielten und die in dieser Hinsicht von Obama während seines Besuches in Moskau erklärte Kooperationsbereitschaft nicht praktisch einzulösen bereit wären. In Moskau hatte Obama gesagt: »Ich will zusammen mit Rußland an einer neuen Architektur, einer neuen Konfiguration des Raketenabwehrsystems arbeiten.«

Sollte die Zeit bis zum 5. Dezember aus anderen Gründen zu knapp werden, bestünde immer noch die Möglichkeit, zunächst SALT I nach Artikel XVII des Abkommens um fünf Jahre zu verlängern. Im Hinblick auf die für 2010 anstehende Atomwaffensperrvertrags-Überprüfungskonferenz wäre das jedoch, so steht zu befürchten, nicht einmal die zweitbeste Lösung.


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DAS BLÄTTCHEN/948: Raketenabwehrschach



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Quelle:
Das Blättchen, Nr. 17, 12. Jg., 17. August 2009 und
Das Blättchen, Nr. 18, 12. Jg., 31. August 2009
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veröffentlicht im Schattenblick zum 8. September 2009