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DAS BLÄTTCHEN/949: Die Marx-"Manga-Truppe" in Yokohama


Das Blättchen - Zweiwochenschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft
Nr. 4/2009 - 16. Februar 2009

Die Marx-"Manga-Truppe" in Yokohama

Von Rolf Hecker und Hans Hübner


Anfang Dezember 2008 saßen wir im Flugzeug nach Tokio, um in Japan unser Marx-Karikaturen-Buch vorzustellen (siehe Blättchen 1/2009). Die Einladung dazu ging vom Institute of Economics and Foreign Trade der Kanagawa-Universität in Yokohama aus, das aus Anlaß des 80. Gründungsdatums der Universität eine wissenschaftliche Tagung zum Vermächtnis von Marx veranstaltete, gekoppelt mit einem Fachsymposium zur Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA).

Auf dem Weg in die zweitgrößte Stadt Japans denken wir vor allem an die Bedeutung des Hafens für die Öffnung des Landes, die durch eine amerikanische Belagerung (1853) eingeleitet wurde. Nur noch wenige historische Gebäude zeugen von der Rolle dieses Handelsplatzes in der Geschichte. Erdbeben (vor allem 1923) und Zweiter Weltkrieg haben ihre Spuren hinterlassen. Die Stadt präsentiert sich heute mit einer modernen Skyline an der Bucht von Tokio, die Industriehafenanlagen sind weit vorgelagert.

Die öffentliche Marx-Tagung fand im Audimax der Universität statt. In Vorbereitung auf die Veranstaltungen hatte unser Mitherausgeber Shunichi Kubo rund fünfzig Karikaturen vergrößert, auf Fotostyropor aufgezogen und im großzügigen Foyer und großen Treppenaufgang ausgestellt.

Als Hauptreferent war der achtzigjährige János Kornai gewonnen worden, an dessen Buch "Mathematische Methoden bei der Planung der ökonomischen Struktur" (Verlag die Wirtschaft Berlin 1967) sich noch mancher Ökonomiestudent jener Zeit erinnern dürfte. Kornai ist einer der bekanntesten Osteuropäischen Kritiker des realen Staatssozialismus, wovon spätere Bücher ("The Shortage Economy", 1980 und "The Socialist System. The Political Economy of Communism", 1992) Zeugnis ablegen. Seine Biographie ("By Force of Thought", 2007) wurde jüngst ins Japanische übersetzt. Er sprach über seine Lebenserfahrungen im staatssozialistischen Ungarn und über die Probleme der Planwirtschaft und distanzierte sich dabei von Marx. Er selbst habe bis zur "ungarischen Revolution von 1956" an Marx geglaubt. Die wirtschaftliche Entwicklung in Ungarn und die Unmöglichkeit der Planwirtschaft haben ihn jedoch an Marx zweifeln lassen.

Im zweiten Teil der Veranstaltung folgten Jacques Bidet, Herausgeber von "Actuel Marx" und Organisator gleichnamiger Konferenz in Paris; Soo Haeng Kim von der Universität Seoul, der alle drei Bände des "Kapitals" aus der englischen Penguin Edition ins Koreanische übersetzt hat; Michael Krätke, bisher Universität Amsterdam, der zu Jahresbeginn 2009 einer Berufung als Direktor an das Institute for Advanced Studies der Universität von Lancester folgte; Li Yuwen von der Universität Beijing, der die "Geburt der Marxschen poetischen Philosophie und ihre Intention" analysierte und zum Schluß unser "Kollektiv"-Vortrag. Der Einfachheit halber bezeichnete uns der Tagungsleiter als "Manga-Truppe". Wenige Tage nach der Tagung erschien übrigens der erste "Kapital"-Manga in Japan (Variety Art Works). Darin wird das Arbeitsleben eines jungen "Arbeitnehmers" geschildert, der versucht, der Ausbeutung zu entgehen.

In einer weiteren Veranstaltung stellten zwei japanische Professoren einige Nachfragen. Zu unserer Präsentation erkundigte sich Teinosuke Otani von der Hossei-Universität Tokio im ironischen Ton, ob mit dem Karikaturen-Buch seine Einstellung zu Marx korrigiert werden solle. Wir meinten, daß dies wohl kaum möglich sei und verwiesen darauf, daß mehrere Studenten geäußert hätten, daß sie wenig über Marx wissen und diese Karikaturen sie anregen, sich mit Marx zu beschäftigen - das Buch also ein "Tor" zu Marx sein könnte. Diesen Gedanken griff am nächsten Tag in ihrem Tagungsbericht die "Mainichi Shimbun", eine große überregionale Tageszeitung, auf. Zwei Tage zuvor hatte sie eine mehrspaltige Besprechung des Buches mit Fotos veröffentlicht.

Von Yokohama selbst bleiben drei Sehenswürdigkeiten in Erinnerung: der Besuch des chinesischen Viertels mit seiner Vielzahl von Restaurants und Sauvenirgeschäften, die Uferpromenade im Yamashite Park an der Bucht von Tokio mit Blick auf die Skyline und die imposante Yokohama Bay Brigde sowie der Empfang flur die ausländischen Teilnehmer, der in der 50. Etage des "Landmark Towers" im Karaoke-Saal stattfand (wir deutschen Teilnehmer sangen mit Jacques Bidet und seiner Frau unter großem Beifall die "Marseillaise") und der anschließende Rundblick von der 69. Etage in 273 m Höhe.

Zu den angenehmen Erinnerungen gehört auch ein Treffen mit "Kapital"-Seminarteilnehmern von der Tokioer Arbeiter-Bildungs-Assoziation. Sie berichteten von den sozialen Problemen Japans - da waren wir wieder in der Realität des globalisierten Kapitalismus angekommen -, vom Anwachsen der Arbeits- und Obdachlosigkeit (letztere in fast jedem Stadtpark von Tokyo zu beobachten) und den Zuständen im Gesundheitswesen.

Mit Sympathie und großem Interesse verfolgen sie die Entwicklung der Linken in Deutschland und versuchen, von deren Erfahrungen in der Kapitalismuskritik und im Kampf um Gerechtigkeit zu lernen, damit auch in Japan die linken Bewegungen erstarken können.


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Quelle:
Das Blättchen, Nr. 4, 12. Jg., 16. Februar 2009, S. 14-16
Herausgegeben vom Freundeskreis des Blättchens
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. Februar 2009