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DAS BLÄTTCHEN/2015: Jahre der Pandemie als Zeitenwende


Das Blättchen - Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft
24. Jahrgang | Nummer 24 | 22. November 2021

Jahre der Pandemie als Zeitenwende

von Jürgen Leibiger


Noch nie hat es weltweit und synchron einen solch tiefen Wirtschaftseinbruch gegeben wie in der Zeit der Pandemie. Zudem war es ein Einbruch, der bewusst und planvoll in die Wege geleitet wurde, indem die Unternehmen zu Schließungen gezwungen wurden. Die Staaten finanzieren diesen Lockdown mittels einer gigantischen Kreditaufnahme, was die Staatsverschuldung und angesichts gesunkener Wirtschaftsleistung auch die Schuldenquoten in die Höhe treibt. Obwohl der Lockdown offiziell beendet ist, oder, wie wir inzwischen wissen, beendet schien, und das Bruttoinlandsprodukt wieder wächst, ist es wegen der anhaltenden Lieferengpässe und erneut explodierender Pandemie nicht sicher, was in den nächsten Monaten passiert. Da kann der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung in seinem jüngsten Jahresgutachten noch so sehr auf Optimismus machen und ein "kräftiges Wachstum" prognostizieren. Die Zentralbanken, die Staatsanleihen mit frischem Geld aufkauften, wurden fast wie in Kriegszeiten zu den wichtigsten Gläubigern der Staaten. Die Preissteigerungsraten nähern sich Werten, wie es sie seit Jahrzehnten nicht mehr gegeben hat. Die Talsohle der Zinsen scheint erreicht zu sein; zumindest lässt die US-amerikanische Zentralbank durchblicken, es könne ein baldiges Ende der lockeren Geld- und Zinspolitik geben. Der Europäischen Zentralbank wird dann gar nichts anderes übrigbleiben, als dieser geldpolitischen Kursänderung mit zeitlichem Abstand zu folgen. Ob es zu dieser Wende wirklich kommt, ist aber keineswegs sicher. Im Vertrauen darauf, dass Zentralbanken und Regierungen auf den Nationalreichtum zurückgreifen können, gilt auch das frische Geld als weitgehend wertstabil; aber was, wenn ...?

Das irre, seit vierzig Jahren verkündete Dogma, Staatsschulden und wirtschaftliche Tätigkeit des Staates seien Gift für die Wirtschaft, scheint ins Wanken zu geraten. Noch wird an den europa- und verfassungsrechtlich verankerten Schuldenbremsen offiziell festgehalten, aber faktisch haben sich die Regierungen davon verabschiedet und suchen nach Wegen und Tricks, wie diese Regelungen umgangen werden können. Das ist natürlich besser als ein starres Festhalten an überholten Auffassungen, aber das soll hier gar nicht die Frage sein. Worauf vor allem hingewiesen werden soll, ist die Zäsur, die mit diesem wirtschaftspolitischen Schwenk verbunden ist.

Die vergangenen ein, zwei Jahre erweisen sich aber auch in anderer Hinsicht als eine Zeitenwende. Es zeigte sich, dass nicht nur die Bekämpfung der Pandemie und ihrer wirtschaftlichen Folgen, sondern auch die Bewältigung der weltweiten Umweltkrise und eine "Systemkonkurrenz" gegenüber China mit marktwirtschaftlichen Mitteln allein nicht möglich sind. Eine paradoxe Situation: Es wird die Überlegenheit marktwirtschaftlicher gegenüber staatswirtschaftlichen Ordnungsprinzipien beschworen, aber praktisch ist man gezwungen, das partielle Versagen von Marktlösungen anzuerkennen und zu mehr oder weniger harten staatlichen Regulierungsmaßnahmen zu greifen: Handelsschranken, Investitionslenkung, mehr staatliche Forschung und Entwicklung, mehr Subventionen für Innovationen, Embargos, Boykotte, Sanktionen, Verbote und Auflagen.

Um den Zugriff chinesischer Unternehmen auf deutsche Firmen und deren Innovationspotenzial zu verhindern, will sich die Regierung nicht etwa auf den vielbeschworenen Markt verlassen, sondern hält Verstaatlichungen für die Ultima Ratio. Die weltweiten Militärausgaben sind auch in diesen schwierigen, finanziell höchst angespannten Jahren erneut gewachsen und haben historische Höchststände erreicht. Das ist ein staatliches Konjunkturprogramm sondergleichen. Und das provokative, militärpolitische Gebaren der NATO-Staaten dient dem Vernehmen nach zwar der Sicherung "westlicher Werte", darunter auch der Marktwirtschaftsordnung, hat aber mit Marktwirtschaft überhaupt nichts zu tun; früher sprach man in diesem Zusammenhang von Rüstungskeynesianismus.

Zur gleichen Zeit, da die Staaten und Regierungen in ihrem Handeln gefordert sind wie selten zuvor, haben sie an Autorität verloren. Gewalt gegen Polizisten, Lehrer, Krankenschwestern, Ärzte, Staatsanwälte und Finanzbeamte sind nur die eine Seite; in der Pandemie kam und kommt es in vielen Ländern zu vielfach geteilten Aufrufen und Demonstrationen gegen Maßnahmen des Staates, wie es sie in dieser Breite gegen die verfehlte Sozialpolitik der Regierung in der Vergangenheit nur selten gegeben hat. Das föderale System Deutschlands zeigt bei all seinen Vorzügen in der Pandemie auch seine Schwächen; wie fast nie zuvor standen sich der Bund und verschiedene Länder so konträr gegenüber wie in diesen Monaten. Die ausgehandelten Kompromisse verhüllten ihre Gegensätze kaum. Auf vielen Gebieten haben die Regierungen versagt, was gerade auch in der Pandemie zutage getreten ist. Das Vertrauen in sie, wenn es das denn gegeben hatte, ist in breiten Bevölkerungskreisen weiter erodiert. In den USA konnte ein Präsident Trump, wenn es in sein politisches Kalkül passte, offen zu ungesetzlichem Verhalten aufrufen und gegen die Staatsgewalt räsonieren und Millionen folgten ihm darin. Steuerflüchtlinge, Steuerhinterzieher und hochvermögende Wirtschaftskriminelle führen die Behörden zwar seit Jah r und Tag an der Nase herum, aber die jüngsten Vorfälle - darunter dreisteste Korruption bei Mitgliedern des Bundestags - suchen in ihrer Frechheit doch ihresgleichen. In einigen osteuropäischen Mitgliedstaaten der Europäischen Union werden deren Regeln durch die dortigen Regierungen in einigen Fällen mehr oder weniger offen verletzt.

In Deutschland hat es mit den Wahlen einen politischen Erdrutsch gegeben. Sich manchmal als links von der Mitte verstehende Parteien - SPD und Bündnis 90/Die Grünen - haben zwar zuletzt zugelegt. Aber täuschen wir uns nicht: Zumindest bei der SPD ist das kein auf einem Zuwachs an eigener Stärke beruhender Erfolg. Er ist Ausdruck der Schwächung der Union, die sich in und mit der beschriebenen Zeitenwende vollzogen hatte. Längerfristig betrachtet hat sich der Abwärtstrend sowohl von Union als auch der SPD fortgesetzt. Der Zuwachs letzterer von unter zwanzig auf fünfundzwanzig Prozent ist aus dieser längerfristigen Perspektive wenig mehr als ein Hüpfer. Die neuen politischen Kräfteverhältnisse - Ausdruck der Zerrissenheit der Wählerschaft - sind unausgewogen und wenig stabil; sie spiegeln die wirtschaftliche und politische Unsicherheit angesichts der Komplexität und Widersprüchlichkeit der Situation, die Unentschiedenheit und Unübersichtlichkeit wider, wie sie Zeitenwenden immer mit sich bringen. Die Zukunft ist offener denn je, oder, wie Shakespeare seinen Hamlet verzweifelt sinnieren lässt: "Die Zeit ist aus den Fugen, Fluch zu denken, dass ich geboren war, sie einzurenken."

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Quelle:
Das Blättchen Nr. 24/2021 vom 22. November 2021, Online-Ausgabe
E-Mail: redaktion@das-blaettchen.de
Internet: https://das-blaettchen.de

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick zum 7. Dezember 2021

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