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DAS BLÄTTCHEN/2011: Leben auf der Straße


Das Blättchen - Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft
24. Jahrgang | Nummer 10 | 10. Mai 2021

Leben auf der Straße

von Laurenz Nurk


Zu den unveräußerlichen Menschenrechten gehören ohne Zweifel eine sichere Unterkunft und das Wohnen in Würde, auch in Deutschland. In den vergangenen zehn Jahren ist die Zahl der Menschen ohne Wohnung stetig angestiegen. Mittlerweile sind rund 700.000 Menschen wohnungslos, knapp 50.000 davon sind obdachlos. Das ist eine ganze Stadt voller Menschen, denen das Recht auf Wohnen verweigert wird. Hinzu kommt eine Dunkelziffer, die niemand genau abschätzen kann.

Hinter den Zahlen stehen Menschen, deren Leben irgendwann einmal ins Schlingern kam, aus welchen Gründen auch immer. Sie werden auch gar nicht danach gefragt, falls sie darüber reden und ihre persönliche Geschichte erzählen wollen, hört ihnen niemand zu. Für ihre Mitmenschen sind sie nur lästig mit ihrer Bettelei, dazu stören sie das Stadtbild und vergraulen die Kunden in den Kaufmeilen.

Für die Politik gibt es sie meistens gar nicht, kommen sie doch angeblich täglich aus anderen Orten in die Stadt und wenn man etwas zu viel für sie tut, werden immer mehr von ihnen angezogen.

Da sie sich nicht wehren oder gar Forderungen stellen, braucht man sich sozialpolitisch erst gar nicht aus dem Fenster zu lehnen. Wird das Problem zu sichtbar, ist es eines für den Einsatz von Polizei und Ordnungskräften.

Als Ursache von Obdachlosigkeit werden immer zuerst individuelle Gründe und Schicksalsschläge genannt. Dabei ist es vor allem der stetig privatisierte Wohnungsmarkt selbst, der die Menschen aus den Wohnungen wirft und auf der Straße leben lässt.

In den letzten 40 Jahren haben sich die vormals gemeinnützigen kommunalen Unternehmen in ihrer Geschäftsführung und den Mietpreisen den profitorientierten Konzernen immer mehr angenähert, auch bedingt durch das Ende der Wohnungsgemeinnützigkeit 1989 und die massiven staatlichen Kürzungen. Die damalige Abschaffung der Steuerbegünstigungen für gemeinnützige Wohnungsunternehmen durch die CDU/FDP-Regierung, ließ die Wohnkosten in die Höhe schießen. Mit dem Verlust der Gemeinnützigkeit fiel auch die Gewinnbeschränkung der kommunalen Wohnungsgesellschaften weg und öffnete der Privatisierung ihrer Bestände Tür und Tor.

Als dann die SPD/Grüne-Bundesregierung schließlich die Veräußerungsgewinne von Kapitalgesellschaften steuerlich freistellte, nahm der öffentliche Ausverkauf erst richtig Fahrt auf.

Die Einführung der Schuldenbremse 2009 durch die große Koalition erhöhte den Spardruck bei den Städten und die kommunalen Wohnungsgesellschaften mussten die Überschüsse an die kaputt gesparten Kommunen abführen. Aber um diese Überschüsse zu erwirtschaften, erhöhten die vormals gemeinnützigen Wohnungsunternehmen die Mieten vielfach so stark, dass auch sie selbst zu schlimmen Mietpreistreibern wurden.

Sage und schreibe wurden aus dem Bundes-, Landes- und kommunalen Wohnungsbesitz insgesamt rund 1,1 Millionen Wohnungen in privates Eigentum überführt. Lächerliche 2,3 Prozent der rund 23 Millionen Mietwohnungen sind heute noch in kommunalem Eigentum. Damit können die Kommunen im Gegensatz zu früher nicht mehr regulierend in den Wohnungsmarkt eingreifen, sie haben kaum noch Möglichkeiten, leistbare Wohnungen in ausreichender Zahl vorzuhalten und dämpfend auf die Mietpreise einzuwirken.

Was den Städten bleibt, ist die individuelle Not etwas abzufedern. Aber auch die Wohnraumsicherungsmaßnahmen haben unter den Sparmaßnahmen gelitten. Beihilfen werden nur noch als Darlehen gewährt und in allen Kommunen stöhnt man über die hohen Unterkunftskosten die bei Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch (SGB) übernommen werden müssen. Diese Zuschüsse halten schon lange nicht mehr mit der Entwicklung auf dem Wohnungsmarkt Schritt. Immer mehr Menschen im Transferleistungsbezug bekommen von der Öffentlichen Hand weniger Geld für die Miete, als sie tatsächlich bezahlen müssen und rutschen in die Überschuldung, die ein direkter Schritt in die Zwangsräumung sein kann.

Wenn die Schulden zu groß geworden sind, die Klage gegen eine Räumung vergeblich war, greift in den großen Städten der früher noch funktionierende Räumungsvollstreckungsschutz immer seltener. Die Menschen werden zunehmend schneller geräumt.

Die Studie "Zwangsräumungen und die Krise des Hilfesystems" deckte vor einiger Zeit den Skandal der massenhaften Zwangsräumungen am Beispiel von Berlin auf, wo es noch nicht einmal ein umfassendes Berichtswesen oder Statistiken dazu gibt. Sie zeigt auf, dass der Sozialstaat auf diesem Feld nicht nur hilflos, sondern sogar nutzlos ist und er das Wohnungsproblem noch verschärft. Obwohl der Staat eigentlich das Ziel hat, Zwangsräumungen zu verhindern und Miet- und Energiekosten der Menschen, die staatliche Hilfe erhalten, zu übernehmen, um die Wohnungslosigkeit zu verhindern, werden die Anträge dafür in den finanzschwachen Bezirken zu 85 Prozent abgelehnt.

Und obwohl die Kommune offiziell verpflichtet ist, die Wohnungslosen unterzubringen, ist das in der Praxis immer öfter gar nicht möglich, weil die Wohnheime oder vorgehaltenen Wohnungen, die zu dem kurzfristigen Unterbringen gedacht sind, mit dauerhaft dort wohnenden Menschen belegt sind. Auch hier wittern Geschäftemacher schnelles Geld und bieten den Kommunen Plätze in ihren privatwirtschaftlich betriebenen Wohnheimen an - sie können sich ihre Bewohner selbst aussuchen und eben auch ihnen die Aufnahme verweigern.

Den Weg aus dieser Situation heraus können staatliche Stellen kaum noch bieten, da es auch mittlerweile eine geänderte Wohnungsvergabepraxis gibt. In der Regel verlangen die Wohnungsunternehmen eine Schufa-Auskunft, nehmen keine Mieter mit früheren Mietschulden oder die das Insolvenzverfahren durchlaufen und achten auch auf frühere gute oder schlechte Meldeadressen.

Es ist schon paradox, dass gerade von Menschen, die wegen Mietschulden wohnungslos geworden sind, als Voraussetzung für ein neues Mietverhältnis der Nachweis über ein mietschuldenfreies Vorleben verlangt wird.

Auch die Jobcenter tragen ihr Scherflein zur Misere der Zwangsräumungen bei. Sie treiben die Mieten in die Höhe, indem sie Umzüge in günstigere Wohnungen erzwingen und der Vermieter für die frei gewordene Wohnung einen neuen Mietvertrag mit höherer Miete abschließen kann.

Eine bisherige Annahme wird durch die Berliner Studie belegt: Dort, wo die Wohnungsnachfrage stark ansteigt, nimmt auch die Räumungsneigung der Vermieter zu, weil es immer attraktiver wird, nach der Räumung vom neuen Mieter eine viel höhere Miete zu verlangen. Deutlich wurde auch, dass das staatliche Hilfesystem Diskriminierung und Isolation der Hilfesuchenden noch befördert, da die einen vom Verwaltungspersonal in den Ämtern der Kommune alleingelassen werden und keine Unterstützung erfahren, die anderen werden willkürlich bevorzugt. Da läuft dann der gleiche Ausleseprozess wie auf dem Wohnungsmarkt selbst ab.

Immer häufiger werden dem rat- und hilfesuchenden Menschen Rechte verwehrt, damit er erst gar nicht in verwaltungsrechtliche Verfahren kommt, keine Rechtsmittel einlegen kann, unter dem Existenzminimum leben muss, immer in der Gefahr lebt, Wohnung und Arbeitsplatz zu verlieren und kaum noch Unterstützung findet, seine Rechte einzufordern. Obwohl der Bundesgerichtshof (BGH) kürzlich noch klargestellt hat, dass Sozialleistungsträger umfassend über alle infrage kommenden Leistungsansprüche beraten müssen und wenn nicht, ihnen Amtshaftung droht. In der Praxis gibt es die Beratungs- und Auskunftspflicht der Behörden und Sozialversicherungsträger überhaupt nicht mehr, schon gar nicht für arme Menschen.

Das staatliche Hilfesystem läuft nur bei einem entspannten Wohnungsmarkt rund, eben nur dann, solange die Vermieter mit den Wohnungen auf die einkommensschwachen Menschen angewiesen sind.

Laurenz Nurk ist Herausgeber der Webseite Gewerkschaftsforum.de, die sich sozialen Fragen und der Arbeit der Gewerkschaften beschäftigt.

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Quelle:
Das Blättchen Nr. 10/2021 vom 10. Mai 2021, Online-Ausgabe
E-Mail: redaktion@das-blaettchen.de
Internet: https://das-blaettchen.de

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick zum 22. Juni 2021

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