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DAS BLÄTTCHEN/1753: Russland und Deutschland - Was läuft schief seit der deutschen Einheit?


Das Blättchen - Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft
20. Jahrgang | Nummer 26 | 18. Dezember 2017

Russland und Deutschland: Was läuft schief seit der deutschen Einheit?

von Hubert Thielicke


Unter dieser Fragestellung standen die Schlüterhof-Gespräche am 4. Dezember im Deutschen Historischen Museum.

In den letzten Jahren gibt es zunehmende Spannungen zwischen dem Westen, einschließlich Deutschland, und Russland - Sanktionen und Vorwürfe, Misstrauen und Entfremdung. Was wurde aus den Anfang der 1990er-Jahre gehegten Plänen und Hoffnungen von Akteuren wie Kohl und Gorbatschow, Genscher und Schewardnadse? Darüber diskutierten die ehemaligen ARD-Journalisten Fritz Pleitgen und Ulrich Deppendorf mit Zeitzeugen, die als Mitakteure dabei waren: Volker Rühe, damals Bundesminister der Verteidigung, Horst Teltschik, seinerzeit außenpolitischer Berater von Bundeskanzler Kohl, und Botschafter a.D. Frank Elbe, 1990 als Büroleiter von Außenminister Genscher Teilnehmer an den 2+4-Verhandlungen.

Mit den Gesprächen von Moskau und im Kaukasus im Juli 1990 wurde das Tor für die deutsche Einheit geöffnet, so der Ausgangspunkt der Debatte. Jedoch die UdSSR zerfiel, das westliche Bündnis dehnte sich bis an die Grenzen Russlands aus.

Von Anfang an sei aber klar gewesen, so Teltschik, dass für die Sowjetunion und dann Russland neben wirtschaftlicher Unterstützung die Sicherheitsfrage eine entscheidende Rolle spielte. Die Vision vom gesamteuropäischen Haus, einer gesamteuropäischen Friedens- und Sicherheitsordnung von Vancouver bis Wladiwostok, habe sich nicht erfüllt, die in der Charta von Paris vereinbarten Instrumente - wie regelmäßige Außenministertreffen - wurden nicht genutzt, während die USA die Frage der Menschenrechte in den Vordergrund schoben. In der Georgien- und der Ukraine-Krise spielte der NATO-Russland-Rat keine Rolle. Der Westen hätte phantasie- und ideenlos agiert, sodass die einzigartigen Chancen von 1990 vertan wurden.

Die Möglichkeit einer strategischen Partnerschaft mit Russland sei nicht umgesetzt worden, betonte Volker Rühe. Mit dem Kosovo-Konflikt und dem Austritt der USA aus dem ABM-Vertrag hätte der Westen die Sicherheitsinteressen Russlands missachtet.

Nach Meinung von Frank Elbe bot die Pariser Charta auch die Chance der Entfeindung früherer Gegner. Unter Präsident George W. Bush habe es jedoch einen Paradigmenwechsel gegeben, hätten die USA zunehmend auf die Ausgrenzung Russlands gesetzt. Präsident Obama habe diese Linie fortgeführt, wofür nicht zuletzt sein Diktum von der "Regionalmacht Russland" stehe.

Horst Teltschik verwies überdies auf eine "Kette nicht eingehaltener Zusagen" gegenüber Russland. So sei mit dem Aufbau eines angeblich gegen den Iran gerichteten Raketenabwehrsystems begonnen worden, ohne Russland einzubeziehen. Warum sollte aber der Iran europäische Staaten angreifen? Warum würden Abwehrraketen gerade in Rumänien und Polen stationiert? Auf die Münchener Putin-Rede von 2007 wie auch den Medwedjew-Vorschlag über einen gesamteuropäischen Sicherheitsvertrag gab es keine westliche Reaktion.

Sowohl Teltschik wie auch Elbe forderten, mit der Trump-Administration offen zu sprechen und eine verantwortungsvolle Außenpolitik zu fordern. Das empfand Rühe wiederum als zu einseitig. Man müsse doch Präsident Putin stärker zu politischen Reformen auffordern, die nach Jelzin zum Stillstand gekommen seien. (Da wüsste man gern, diese Zwischenfrage gestattet sich der Berichterstatter, welche Reformen das nach den Chaosjahren der Jelzin-Ära hätten sein sollen.)

Breiten Raum nahm die Ukraine-Krise ein.

Im Grunde habe man sich im Westen vor dem Maidan kaum um die Ukraine gekümmert, schätzte Teltschik ein. Gespräche über eine gesamteuropäische Freihandelszone seien versäumt worden. Durch entsprechende Parallelverhandlungen mit Russland zum Assoziationsabkommen EU-Ukraine wäre die Krise vielleicht zu vermeiden gewesen.

Beide Seiten hätten an der Ukraine gezerrt, so Elbe. Geopolitisches Denken habe dabei eine große Rolle gespielt. Henry Kissinger hätte zu Recht darauf verwiesen, dass man die Interessen Russlands nicht unterschätzen dürfe, seine Sicherheitsgrenze sei immerhin 1000 Meilen nach Osten verschoben wurden. Der russische Außenminister Lawrow habe bereits früh vor Unruhen und Bürgerkrieg in der Ukraine gewarnt. Nun finde dort ein Stellvertreterkrieg zwischen zwei Großmächten um Einflusssphären statt. Eine Lösung könne der von Kissinger unterbreitete Vorschlag bringen: eine konsolidierte Neutralität der Ukraine.

Auch Rühe sah das Ziel nicht in einem Beitritt des Landes zu NATO und EU. Vielmehr müsse die Ukraine ein erfolgreicher europäischer Staat und damit ein Beispiel für Russland werden. Teltschik hielt dagegen: Davon sei das Land angesichts der grassierenden Korruption jedoch noch weit entfernt.

Die Übernahme der Krim durch Russland hatte nach Ansicht von Elbe nicht nur innenpolitische Ursachen, war vielmehr auch ein Signal an den Westen: bis hierher und nicht weiter! Der Völkerrechtsbruch sei aber nicht auf dem Rechtswege lösbar: Wenn es im Haus einen Wasserrohrbruch gebe, rufe man doch auch nicht den Rechtsberater, sondern vielmehr den Klempner. Es könne nur eine einvernehmliche Lösung geben. Interessant sei hier der Vorschlag von Matthias Platzeck, den Rechtsbruch durch ein erneutes Referendum auf der Krim unter internationaler Aufsicht zu heilen. Allerdings sei inzwischen viel Zeit vergangen, zudem habe der Westen seine Sanktionen ohne Sinn und Verstand regelmäßig verlängert und damit die Lage erschwert. Teltschik betonte dazu: Ein derartiges Problem sei nur durch Dialog lösbar. So wäre es trotz der Prager Ereignisse von 1968 zwei Jahre später zum Abschluss des Gewaltverzichtsvertrages zwischen der Bundesrepublik und der UdSSR gekommen.

Auf Fragen aus dem Publikum entwickelte sich eine Kontroverse hinsichtlich angeblicher Zusagen westlicher Politiker gegenüber Gorbatschow über eine Nichtausdehnung der NATO nach Osten. Während Teltschik meinte, es wäre nur um das Gebiet der ehemaligen DDR gegangen, verwies Elbe auf die Rede von Außenminister Genscher am 31. Januar 1990 in Tutzing: Was immer im Warschauer Pakt geschehe, eine Ausdehnung des NATO-Territoriums nach Osten, näher an die Grenzen der Sowjetunion, werde es nicht geben. Das wäre mit US-Außenminister Baker abgestimmt worden, der dies wiederum im Februar 1990 in Moskau mit Gorbatschow konsultierte. In einem Brief Bakers sei Bundeskanzler Kohl informiert worden: Wenn keine Ausdehnung der NATO nach Osten erfolge, sei die Sowjetunion mit der Mitgliedschaft des vereinten Deutschlands im Bündnis einverstanden.

Fazit der Diskussion: Nach dem Ende des Kalten Krieges und dem Zerfall der Sowjetunion sind die Chancen für eine neue Friedens- und Sicherheitsordnung in Europa nicht genutzt worden. Russland fühlte sich zunehmend an den Rand gedrängt. Die Ukraine-Krise und die derzeit bedrohlich wachsende militärische Konfrontation machen neue Anstrengungen in Richtung Entspannung erforderlich. Europa - westlichen Diskutanten fehlt leider oft noch das Gefühl dafür, dass sie mit dieser Diktion, die lediglich EU- und NATO-Europa meint, das größte europäische Land mindestens semantisch exkommunizieren - sollte die USA zu einer entsprechenden Außenpolitik auffordern. So der Konsens zwischen Podium und Publikum.

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Quelle:
Das Blättchen Nr. 26/2017 vom 18. Dezember 2017, Online-Ausgabe
Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft, 20. Jahrgang
Herausgeber: Wolfgang Sabath (†)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. Dezember 2017

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