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DAS BLÄTTCHEN/1594: US-Rüstung erneut im Aufwind


Das Blättchen - Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft
19. Jahrgang | Nummer 10 | 9. Mai 2016

US-Rüstung erneut im Aufwind

von Jerry Sommer


Im laufenden Haushaltsjahr wird das US-Verteidigungsministerium 580 Milliarden Dollar ausgeben - 20 Milliarden mehr als 2015. Im Haushaltsjahr 2017, das im Oktober beginnt, soll das Budget erneut steigen, dann allerdings um vergleichsweise bescheidene 2,4 Prozent, obwohl zugleich die bereitgestellten Mittel für Auslandseinsätze in Afghanistan und für den Kampf gegen die Terrororganisation Islamischer Staat weiter zurückgehen sollen. US-Verteidigungsminister Ashton Carter spricht in seiner schriftlichen Begründung des Haushaltsentwurfs 2017 für den US-Senat von einer "neuen strategischen Ära": "Über ein Jahrzehnt lang standen die großen Einsätze zur Aufstandsbekämpfung im Irak und in Afghanistan im Mittelpunkt. Vor einigen Jahren hat das Verteidigungsministerium begonnen, eine bedeutende strategische Umorientierung vorzunehmen, um unseren Vorsprung in der Kriegsführung auf der ganzen Bandbreite zu erhalten".

Kriege zu führen und gewinnen zu können - auch gegen hochgerüstete Gegner wie Russland und China -, diese Fähigkeit wollen die USA mit dem gegenwärtigen und den folgenden Rüstungsbudgets erhalten und ausweiten. Denn es werden nicht nur Russlands Aktivitäten in der Ukraine und Chinas Aktivitäten im Süd-Chinesischen Meer als aggressiv angesehen. Auch die militärischen Fähigkeiten dieser potentiellen Gegner haben sich deutlich verbessert, schätzt Kingston Reif von der Washingtoner "Arms Control Association" ein: "Die Russen und Chinesen haben in Bezug auf Präzisionswaffen gegenüber den USA aufgeholt. Beide besitzen auch sehr entwickelte offensive und defensive Cyberwaffen. Unser Militär macht sich Gedanken, wie es die eigene militärische und speziell technologische Überlegenheit der USA erhalten kann, um bei künftigen Konflikten diese Auseinandersetzungen auch gewinnen zu können."

Dabei sind die USA noch immer allen anderen Staaten militärisch weit überlegen. Außerdem hat sich die US-Militär- und Rüstungsplanung auch nach Auflösung der Sowjetunion im Wesentlichen weiterhin an Russland und China orientiert. Insbesondere die US-Atomwaffenstrategie ist nach Ende des Ost-West-Konflikts im Kalte-Kriegs-Modus verblieben. Nun rücken Russland und China als potentielle Gegner erneut auch in der Rhetorik in den Vordergrund.

Obwohl Rüstungsplanungen langjährige Prozesse sind, spiegelt der neue Haushaltsentwurf in begrenztem Maße auch schon erste reale Umorientierungen wider. Das betrifft zum Beispiel die mit konventionellen Sprengköpfen bestückten "Tomahawk"-Marschflugkörper. Diese werden so umgerüstet, dass sie nicht nur Ziele an Land, sondern auch Schiffe und Flugzeugträger zerstören können. Ähnlich die Luftabwehrraketen SM-6, sie sollen künftig in der Lage sein, Seeziele zu bekämpfen. Durch diese Modernisierungen wollen sich die USA die Möglichkeit erhalten, überall intervenieren zu können, wo sie es für notwendig halten. Diese Modernisierungen seien vor allem gegen China gerichtet, ist die Einschätzung von Todd Harrison vom Washingtoner Thinktank "Center for Strategic and International Studies": "Die Tomahawk-Marschflugkörper können aus einer Entfernung von 1.800 Kilometern abgeschossen werden. Diese Cruise Missiles abzuwehren, wäre für die chinesische Marine ein großes Problem."

Eine weitere Neuerung im geplanten US-Rüstungshaushalt betrifft die sogenannte "Europäische Rückversicherungsinitiative". Zusätzliche US-Militärausrüstung soll in der Nähe der russischen Grenze gelagert werden. Außerdem wird künftig eine weitere US-Brigade von über 4.000 Soldaten in Europa auf Rotationsbasis ständig präsent sein. Sie soll vor allem in den osteuropäischen NATO-Staaten eingesetzt werden. Doch diese Veränderung darf man nicht überschätzen. Die Europäische Rückversicherungsinitiative wird zwar von 800 Millionen derzeit auf 3,4 Milliarden US-Dollar im kommenden Jahr aufgestockt. Aber das ist nur ein halbes Prozent des gesamten Haushaltes.

Gerechtfertigt wird dies mit der vermeintlichen Bedrohung europäischer NATO-Staaten, vor allem der baltischen Länder, durch Russland. Die US-Maßnahmen sollen Russland vor aggressiven Aktionen abschrecken. Mit der russischen Gefahr begründen die USA darüber hinaus die Modernisierung der in Europa stationierten US-Atomwaffen. Bereits im vergangenen Jahr erklärte der damalige stellvertretende Vorsitzende des US-Generalstabs James Winnefeld: "Ein erstes Ergebnis [der Innovation-Initiative - J.S.] könnten Nuklearwaffen sein, die eine russische Invasion Westeuropas aufhalten würden."

Es gibt gute Gründe, die dahinterliegende Bedrohungsperzeption für haltlos zu halten. Weder hat Russland die Absicht noch die Fähigkeit in Westeuropa einzumarschieren. Sollte der US-Admiral mit "Westeuropa" die baltischen Staaten gemeint haben, so ist auch dort keine russische Absicht zu erkennen, diese anzugreifen, wenngleich es natürlich die militärischen Fähigkeiten dazu hätte. US-Verteidigungsminister Ashton Carter forderte mit derselben Begründung ein "neues Playbook" für die NATO, das in Europa unter anderem vorsehen müsse, "die konventionelle und die nukleare Abschreckung besser zu integrieren".

Auf dem NATO-Gipfel im Juli in Warschau wird es deshalb möglicherweise nicht zuletzt um die in Europa stationierten US-Atomwaffen gehen. Zurzeit würden verschiedene Möglichkeiten diskutiert, vermutet Kingston Reif: "Man könnte den Bereitschaftsstatus der Nuklearwaffen erhöhen - oder die Zeit verkürzen, die für ihre Austragung in einer atomaren Krise notwendig ist. Man könnte auch zusätzliche Übungen mit Atomwaffen durchführen. Noch ist aber nichts entschieden."

Die Stationierung weiterer US-Truppen in Europa oder aber in Südostasien könnte den US-Bündnispartnern eventuell - übertriebene - Ängste vor einem bedrohlichen Russland oder China zwar etwas nehmen. An deren konventioneller Überlegenheit in den betreffenden Regionen würde die Entsendung weiterer US-Soldaten aber nicht viel ändern. Paul Pillar, ein ehemaliger langjähriger CIA-Agent, der jetzt Mitarbeiter des Thinktanks "Brookings Institution" in Washington ist, schätzt ein: "Russland könnte wohl, wenn es denn eine solche Entscheidung träfe, zum Beispiel ziemlich einfach in ein baltisches Land einmarschieren und das Land besetzen, selbst wenn dort US-Truppen stationiert wären. Denn die Russen sind lokal eindeutig überlegen."

Die USA könnten in einem solchen Fall massiv intervenieren, um einen "Sieg" anzustreben. Doch das würde das baltische Land, wenn nicht gar ganz Europa in Schutt und Asche legen, selbst wenn nur konventionelle Waffen eingesetzt würden. Zusätzlich besteht aber auch das Risiko einer nuklearen Eskalation.

In seiner Begründung für den diesjährigen Haushaltsplan hat Verteidigungsminister Carter häufiger als in vergangenen Jahren erwähnt, dass in jedem bewaffneten Konflikt, das Ziel der USA sei, "zu siegen". Dieses Ziel ist seit Jahrzehnten fester Bestandteil der US-Militärstrategie. Inzwischen rückt es wohl auch verbal stärker in den Vordergrund. Nirgendwo wird es jedoch eingegrenzt. Kingston Reif geht zwar davon aus, dass in der US-Administration niemand einen Sieg in einem Atomkrieg für möglich hält. Seiner Ansicht nach sollte das aber auch deutlich gesagt werden: "Die USA und Russland, Obama und Putin, sollten in einer gemeinsamen Erklärung unterstreichen: Ein Nuklearkrieg kann niemals gewonnen werden, und deshalb darf er niemals geführt werden. Denn es gibt keinen Sieger in einem Atomkrieg."

Aber selbst eine solche Klarstellung würde nichts an der sich abzeichnenden Rüstungsspirale ändern. Im neuen US-Haushalt werden zusätzliche Mittel für Modernisierungsmaßnahmen bereitgestellt. Absehbar ist, dass Russland und China hierauf mit eigenen Rüstungsanstrengungen reagieren werden. Nur Diplomatie, Kooperation und Rüstungskontrollabsprachen können die Gefahr einer Eskalation mindern.

Dieser Artikel ist die leicht veränderte Version eines Beitrages für die Senderreihe "Streitkräfte und Strategien" (NDR-Info, 23.4.2016).

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Quelle:
Das Blättchen Nr. 10/2016 vom 9. Mai 2016, Online-Ausgabe
Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft, 19. Jahrgang
Herausgeber: Wolfgang Sabath (†)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. Juni 2016

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