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DAS BLÄTTCHEN/1576: Zur Lage oder worum geht es?


Das Blättchen - Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft
19. Jahrgang | Nummer 6 | 14. März 2016

Zur Lage oder worum geht es?

von Stephan Wohanka


Das Knäul ist die Wirklichkeit
Juli Zeh

Die gegenwärtige Lage ließe sich mit vielen Adjektiven beschreiben; es wäre jedoch müßig, jeder kennt sie und macht sich seinen Vers darauf... Wenn es an einer gutbürgerlichen Kaffeetafel aus einer Dame herausbricht "die nehmen uns alles weg", dann ist mein Vers jedenfalls der, dass (zu) viele Menschen Angst haben, Verlustangst, die sich manchmal bis hin zu Hass steigert. Diese Gefühle - und es sind Gefühle, ja "Grundgefühle" - machen sich momentan an "denen" fest; "die" jedoch sind auch, nicht immer, nur Ventil für andere, viel länger andauernde Vorgänge, die Unbehagen auslösen, zum Teil schon über einige Jahre.

Da ist Europa - verschrien als "Elitenprojekt", als "supranationales Zwangsgebilde". Waren nicht aber auch die heutigen Nationalstaaten anfangs Elitenprojekte? Nehmen wir Deutschland; die Karte des Deutschen Bundes zeigt 1815 circa 120 "Nationen". Dieser politische Flickenteppich bewirkte, dass ein Handelsgut von Basel bis Amsterdam um die 30 Mal verzollt werden musste. Seit 1818 gab es Bestrebungen, diesen Missstand zu beheben; letztlich führten sie zur Reichsgründung 1871. Begleitet wurden diese Entwicklungen von einer raschen Industrialisierung und Modernisierung. Die Vorstellung, dass Deutsche in einem Staat zusammen leben sollten, trieben so vor allem bürgerliche Eliten voran, die Masse der Menschen hatte damit nichts am Hut und stand den entsprechenden Vorgängen höchst skeptisch gegenüber; sie war jedenfalls nicht beteiligt. Auch die europäische Einigung begann in Analogie dazu als Elitenprojekt. Anfangs spielten politische vor wirtschaftlichen Gesichtspunkten eine Rolle; namentlich die "Einhegung der Deutschen" (Wilfried Loth) war ein treibendes Motiv. Heute ist die EU nicht nur ideelles Konstrukt, sondern ein "profitabler Verein", namentlich für Deutschland; wenn auch nicht alle etwas davon haben. Nur knirscht es in ihm gerade gewaltig.

Oder die Globalisierung. Sie ist, was auch immer man darunter verstehen mag - Wirklichkeit; ohne vielfältigste und breiteste wirtschaftliche, politische und kulturelle Verbindungen in die Welt gäbe es das heutige Deutschland so nicht. Gemeinsam ist beiden - dem europäischen und dem globalen - Prozessen und anderen komplexer Qualität, dass sie immer schwer(er) zu vermitteln sind: Was vollzieht sich da, wo liegen Vor- und/oder Nachteile, wie können wir auf ihre Gestaltung Einfluss nehmen; können wir das überhaupt? Sind sie nicht auch Schuld an den weltweiten Flüchtlingsströmen? Und die Verlustangst fragt: Was wird aus mir?

Politische Entwicklungen und Lebens-Gefühle spielen immer zusammen, das heißt neben Inhalten geht immer auch um Befindlichkeiten; und momentan überwiegen letztere deutlich. Anders - all diese Entfaltungsprozesse erscheinen den Menschen diffus, führen zu teils panischen Reaktionen, was wiederum zu kognitiver Dissonanz als einem Gefühlszustand hinleitet, den Menschen verspüren, wenn sie nicht miteinander zu vereinbarenden Gedanken, Meinungen, Wünsche oder Absichten hegen. Und letztlich zu einer Spaltung der Gesellschaft.

Teile davon meinen "das Volk" zu sein und reagieren mit einer Selbstermächtigung, denen "da oben" mal deutlich zu sagen, was Sache sei. Sie tun das vor allem in den sozialen Medien - und geraten schnell in einen Realitätstunnel: Es kommt zum sich gemeinsamen Hochschaukeln, Inhalte zählen nicht oder nur dann, wenn sie die eigene Meinung bestätigen, gegen die Komplexität des Faktischen wird die "Komplexität der Dummheit" gesetzt, wie ein Publizist es nennt; man kann auch freundlicher von der "einfachen Lösung" sprechen. Dieser Tage analysierte der Demoskop Mathias Jung die Strategie der AfD-Chefin Frauke Petry: "Sie ist sehr monothematisch und sehr klar, sie verwirrt die Leute nicht mit mehreren Themen". Auch Gewalt gegen "die" ist so verdammt schlicht, deshalb kommt sie auch heute wieder vermehrt zur Anwendung.

Wahrte man einigen Abstand und fiele nicht in Hysterie, gäbe es allerdings einiges zu verhandeln. Nochmals zu Europa. Da wird neuerdings das Lob des Nationalstaates gesungen als Allheilmittel gegen die schweren Konflikte innerhalb der EU. Analysiert man dieselben, stellt sich heraus, dass die Probleme innerhalb nationaler Grenzen nicht mehr einzufangen sind. Das mag bezüglich des Kollektiv-Geldes Euro noch eine Binse zu sein, bei der Flüchtlingsfrage wird es evident, desgleichen beim Klima- und Umweltschutz, bei wirtschaftspolitischen Fragen wie der Energieversorgung, dem freien Verkehr von Menschen, Gütern, Kapital und Dienstleistungen, aber auch der Terrorabwehr. Wollen wir diese Desintegration, den Nationalstaat als "panic room"? Wollen wir wieder zurück zu Grenzen in Europa? Die Menschen und Völker in Europa sind unterschiedlich; es geht darum, etwas weiterhin gemeinsam ins Werk zu setzen, ohne diese Verschiedenheit aufzuheben, ja diese sogar als kreativen Vorzug zu nutzen. Gelänge es die Energie, die die Verächter Europas aufbringen in eine Europa befördernde Kraft umzusetzen, wäre viel gewonnen.

Ein anderer Disput wabert im Hintergrund: Sind wir eine "weiße" (und männliche) oder eine "bunte" Gesellschaft? "Weiß" respektive "bunt" meint hier auch die Hautfarben, wenn der "Blutdeutsche" beschworen wird; aber nicht nur, sondern Vielfältigkeit in jederlei Hinsicht, beispielsweise auch religiöse und sexuelle Orientierungen, die Stellung der Frau (ich schreibe das am 8. März) und vieles mehr. Vordergründig scheint alles klar zu sein, rechtsverbindlich und normativ geregelt und anerkannt. Wirklich? Haben "alle" das Ethos, sich an Gesetze und Regeln zu halten? Die Praxis zeigt das Gegenteil - neben wohl doch noch einer Mehrheit, die sich "daran" hält, verletzen (zu) viele schon die Regeln des guten Anstands, ganz zu schweigen von Ausfällen und Gewalttaten gegen "die", aber auch die Deutsche Bank, Volkswagen oder der DFB meinen außerhalb von Recht und Gesetz zu stehen. Und: Handelt die Regierung immer gesetzeskonform?

Damit ist die Demokratie angesprochen, als Aushandlungsprozess, in dem sicherzustellen ist, dass der Minderheit die Chance bleibt, Mehrheit zu werden. Last but not least: Worin liegt unsere kulturelle Identität? Der Präsident des Bundesverfassungsgerichtes Andreas Voßkuhle sagt, kulturelle Identität hier und heute zu leben hieße einem Verfassungspatriotismus zu folgen. Eine gute Antwort, denke ich; wie viele überzeugt sie? Gemeinsinn, Solidarität, moralische Integrität will ich nur als Stichworte erwähnen; als gesellschaftlicher Kitt unersetzlich... Zur Lage also - Kurt Tucholsky beschrieb sie in den Zwanzigern so: "Der deutsche Krach unterscheidet sich von allen anderen Krachs der Welt dadurch, dass er sich niemals mit dem Einzelfall begnügt. Es wird immer gleich alles Prinzipielle miterledigt". Daran hat sich bis heute nicht nur nichts geändert.

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Quelle:
Das Blättchen Nr. 6/2016 vom 14. März 2016, Online-Ausgabe
Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft, 19. Jahrgang
Herausgeber: Wolfgang Sabath (†)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 22. März 2016

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