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DAS BLÄTTCHEN/1317: Den Letzten beißen die Hunde


Das Blättchen - Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft
16. Jahrgang | Nummer 17 | 19. August 2013

Den Letzten beißen die Hunde

von Fritz E. Gericke



25.07.2013. Vor unseren Augen rast ein Zug in eine Kurve, die Fliehkraft wirft ihn aus den Gleisen. Die Waggons krachen gegen eine Mauer. Im Kommentar zu den Bildern heißt es, dass der Zug mit 190 km/h statt 80 km/h in die Kurve gefahren sei. 80 Tote, über 179 Verletzte, darunter über 30 in lebensbedrohlichem Zustand. Wir sahen diese Katastrophe zeitversetzt und dennoch irgendwie life. Der Eine oder Andere wird erschrocken gewesen sein. Wir sahen die Trümmer der Waggons, Helfer, Verletzte, Tote. Ein Mann mit leichtem Kopfverband wurde von Polizisten vorbeigeführt. Sie waren fast einen Kopf größer als ihr Delinquent. Dieser kleine Mann war der Lokführer, der Bändiger, der dieses rasende Monster beherrschen sollte. "Ich hab das vermasselt", soll er gesagt haben. Und: "Ich will sterben."

Der Sprecher der Eisenbahndirektion wusste schon nach wenigen Stunden die Antwort: "Der Lokführer hat Schuld! Menschliches Versagen." Die Lokführergewerkschaft hielt dagegen: "Die Verantwortlichen für die Katastrophe sitzen in der Direktion!"

Staatsanwaltschaft und Polizei hielten sich zurück. Experten aus aller Herren Länder fragten: "Warum gab es ausgerechnet an dieser Kurve kein elektronisches Sicherungssystem?" Die Direktion hatte auch hier sogleich eine Antwort parat: "...weil dort die Trasse für Hochgeschwindigkeitszüge in eine ganz normale Bahntrasse übergeht. Das vorhandene Sicherheitssystem ist ausreichend." Dem stimmte die Verkehrsministerin, oberste Dienstherrin der Bahngesellschaft zu. Man habe sich an nationales und europäisches Recht gehalten, diese Verpflichtung hätten auch die Mitarbeiter. Die Gewerkschaft hielt erneut dagegen, dass es zwar an der schnellen Trasse ein Geschwindigkeitskontroll- und Alarmsystem gäbe, es ende jedoch vier Kilometer vor der Kurve. Das System hätte Alarm gegeben und der Zugführer hätte gebremst, aber zu spät. Es hätte nicht mehr ausgereicht, um den Zug bis zu der Kurve auf 80 km/h abzubremsen. Ein externes Bremssystem gab es eben nicht.

Journalisten fragten: "Was für ein Mensch ist der Lokführer?"

Er sei ein zuverlässiger und erfahrener Mann, der sein Metier beherrschte, antworteten einhellig Kollegen und Direktion. Was sonst? Wer würde einem verantwortungslosen Menschen einen Hochgeschwindigkeitszug anvertrauen? Er arbeitete seit dreißig Jahre bei der Bahn, davon 13 Jahre als Lokführer. Seit mehr als einem Jahr befuhr er diese Strecke. Aber es hieß auch: "Er hat schon früher darüber gesprochen, wie schnell er mit dem Zug fahren kann. Es schien, als versuche er ständig die eigenen Rekorde zu brechen."

Die Rechercheure der Zeitung El Mundo schrieben, dass der Lokführer durch ein Telefonat abgelenkt war, dem wurde umgehend von der Staatsanwaltschaft widersprochen. 24 Stunden später teilte dieselbe Staatsanwaltschaft mit, der Mann habe, kurz bevor er den Bremsvorgang einleiten musste, doch telefoniert und in einem Papier, möglicherweise in der Dienstanweisung gelesen. Wieder 24 Stunden später hieß es, er habe mit dem Zugführer telefoniert. Der Zugführer habe sich erkundigt, wie es bei ihm liefe, außerdem habe er sich mit einem Papier beschäftigt. Was für ein Papier das war, wurde nicht mehr gesagt. Er habe den Bremsvorgang zu spät eingeleitet, deshalb sei der Zug mit 150 km/h, also nicht ungebremst mit 190 km/h in die Kurve gegangen.

Bei einer Geschwindigkeit von 190 km/h legte der Zug 52,7777778 Meter in der Sekunde zurück. Hätte das Warnsystem sechs Kilometer vor der Kurve angeschlagen, hätte die Katastrophe vermieden werden können.

Wer ist schuld, allein der Lokführer? Was trieb ihn dazu, immer schneller fahren zu wollen, wenn diese Behauptung stimmt? War es Geltungssucht? War es der Ehrgeiz der Beste zu sein? Ging es um die Behauptung des Arbeitsplatzes, oder war es lediglich der Rausch der Geschwindigkeit?

Die Warnungen vor einer Vorverurteilung des Lokführers sind lauter geworden. Sie kommen nicht nur aus der Bevölkerung, wie die von einem Mädchen aus Santiago de Compostela, das schrieb: "Wenn die Politiker nicht so viel Geld klauten, würde es mehr Geld für das Eisenbahnsystem geben." In die gleiche Kerbe schlägt auch die Kritik von Gewerkschaften, Oppositionsparteien und Fernsehkommentatoren.

Der frühere Richter am Obersten Gerichtshof José Antonio Martín Pallín, schrieb in der Zeitung El Pais: "Auch diejenigen tragen Verantwortung, die nicht für alle nötigen Vorkehrungen gesorgt haben, damit die Folgen eines nie auszuschließenden menschlichen Fehltritts verhindert oder gelindert werden." Er forderte, nicht zuzulassen, dass die Verantwortlichen sich im Sinne der spanischen Hochgeschwindigkeitsindustrie hinter einem Fehler des Eisenbahners verstecken.

Und in der Tat: Für Spanien und die spanische Wirtschaft steht viel auf dem Spiel. Das Hochgeschwindigkeitssystem AVE ist Hoffnungsträger Nummer eins der iberischen Industrie. Die Zeitschrift La Voz de Galicia rechnete vor, dass die verschiedenen Unternehmen weltweit über Geschäfte in einer Gesamthöhe von 100 Milliarden Euro verhandeln. Das sind rund zehn Prozent der spanischen Wirtschaftsleistung. Man hofft, in Brasilien den Zuschlag für den Bau der Hochgeschwindigkeitsstrecke zwischen Sao Paulo und Rio de Janeiro zu bekommen. Außerdem laufen Gespräche mit den zuständigen Behörden in den USA, der Türkei, in Kasachstan und Singapur.

Medien berichteten, Verkehrsministerin Ana Pastor habe mit den Chefetagen der betroffenen Unternehmen bereits eine "geschlossene Verteidigung" des spanischen Systems vorbereitet. Da ist es nur logisch, dass sie die Vorwürfe, die Sicherheitssysteme an der engen Unglückskurve seien unzureichend, immer wieder zurückweist. Es geht um tausende von Arbeitsplätzen, da ist es doch gut einen Lokführer als alleinigen Sündenbock präsentieren zu können.

Doch die Fragen bleiben:

Hätte das Geschwindigkeitskontrollsystem nicht erst nach der Kurve enden dürfen? Hätte der Alarm nicht sechs statt nur vier Kilometer vor der gefährlichen Kurve ertönen müssen?

Warum gab es kein externes Bremssystem, ging es lediglich um Kosteneinsparungen?

Warum müssen Züge überhaupt bis zu oder gar über 300 km/h schnell sein, wo heute Konferenzschaltungen per Telefon oder Internet möglich sind, noch dazu wo Telefon und Internet auch noch wesentlich schneller, preisgünstiger und umweltfreundlicher sind?

Was zwingt uns, immer schneller zu werden, wobei dennoch ständig das Gefühl wächst, dass wir immer weniger Zeit haben?

Wir leben nicht mehr in der Zeit, wir jagen ihr hinterher, und eines Tages fliegen wir aus der Kurve, wie dieser Zug. Entschleunigung - das Zauberwort, eine Fata Morgana, die unerreichbar vor unserem geistigen Auge schwebt. Wenn ich immer mehr Zeit verliere, je schneller ich werde, dann kann der Umkehrschluss doch nur lauten, je langsamer ich werde, desto mehr Zeit gewinne ich, desto weniger Fehler werde ich machen, weil ich Zeit gewinne einen gemachten Fehler zu korrigieren. Die Opfer, die Verantwortlichen der Katastrophe, die Fahrgäste, der Zugführer, die Gesetzgeber und die Berichterstatter, wir alle sind an dem Wahn des "Immer-Schneller" beteiligt, sind Schuldige und Opfer, Getriebene und Treibende einer Zeit, die keine mehr Zeit hat.

Die Suche nach dem Verantwortlichen, der gebraucht wird, um uns alle zu entlasten, sie muss weitergehen, denn, so sagen die Vorgesetzten des Lokführers, so sagt die Ministerin und so sagen die Journalisten, die Angehörigen der Toten wollen Gewissheit.

Wie leicht es uns unsere Sprache doch macht, uns zu distanzieren. Wir suchen den Verantwortlichen, immer schön im Singular bleiben. Je kleiner die Zahl der Beteiligten, desto geringer die Gefahr in der einen oder anderen Form mit verantwortlich gemacht zu werden oder sich wenigstens mitverantwortlich zu fühlen. Die Hinterbliebenen brauchen Klarheit. Nur die Hinterbliebenen? Die Mitarbeiter, die Sachverständigen, die Bahnreisenden, die Gesetzgeber, die Sicherheitsexperten, sie alle brauchen keine Klarheit?

Die Verantwortlichen für Stuttgart 21 wissen schon heute, dass sie gegen bestehende Vorschriften verstoßen werden. Das Streckengefälle in Bahnhöfen darf nach internationalem Gesetz sieben Prozent nicht übersteigen. In Stuttgart sollen es über 20 Prozent sein. Wenn es zu einer Katastrophe kommen sollte, wird es dann auch heißen, der Lokführer war schuld, er hatte stärker bremsen oder die Bremse feststellen müssen? Damit wären die schon heute aus dem Schneider, die mit ihrer Missachtung notwendiger Sicherheitsmaßnahmen, solche Katastrophen erst ermöglichen. Die Verantwortung wird nach unten weitergereicht. Nie wird Hierarchie so gern außer Kraft gesetzt, wie wenn es um Verantwortung geht. Irgendeinen werden die Hunde dann schon beißen. Meistens ist es der Letzte.

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Quelle:
Das Blättchen Nr. 17/2013 vom 19. August 2013, Online-Ausgabe
Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft, 15. Jahrgang
Herausgeber: Wolfgang Sabath, Heinz Jakubowski
... und der Freundeskreis des Blättchens
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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. August 2013